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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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konnte. Jedenfalls bildete das Wahlausschreiben vom 15. Mai, welches die
Vorwahlen auf den 20.., die Abgeordnetenwahlen auf den 30. Mai festsetzte,
mit seinen Worten einen seltsamen Gegensatz zu diesen gouvernementalen Prä¬
ventivmaßregeln. Denn seine Schlußworte lauteten: "Wir erwarten von allen
Behörden gewissenhafte Erfüllung ihrer beschworenen Pflichten, Leitung der
Wahlverhandlungen mit rücksichtsloser Unbefangenheit, Beschirmung
der Freiheit der Wahlstimmen vor Einschüchterung oder Bestechung, und
pflichtgetreue Enthaltung von Beschränkung der Wahlfreiheit."

Bei der Wahlhandlung selbst mußte es auch nach solchem königlichen Befehl
auffallend genug erscheinen, daß die Acten derselben, wie Stimmlisten, Wahl¬
protokolle und tgi. nicht, wie bisher, an die Communalbehörden, sondern an
die Polizeistellen abgeliefert werden mußten. Man schloß daraus, daß Sieber
Polizei gewissermaßen als "schätzbares Material" zu politischen Conduiten-
listen über Einzelne und ganze Gemeinden dienen sollten. Auch mußte die
officiöse Pfälzer Zeitung (zweite Hülste des Juni) das Eingeständnis) machen,
daß z. B. denjenigen Wahlbezirken/welche nichtgouvernementale Vorwahlen
getroffen hatten, sofort angekündigt wurde, "sie würden in diesem Sommer
keine Tanzmusiken halten dürfen" (A. Allg. Ztg. 1855 No. 167.). Noch
viel schlimmere Thatsachen enthält aber das damals auch in weiteren Kreisen
bekannt gewordene "Streiflicht auf die pfälzer Wahlen im Jahr 1855 ". welches
die wohlgesinnten Gegner wol zu beschimpfen und zu verdächtigen, doch in seinen
Thatsachen nirgend einer Unwahrheit zu zeihen vermochten. Diese Einzelheiten
kommen indessen hier nicht in Betracht, es galt nur daran zu erinnern, in welcher
Weise der königliche Befehl von den königlichen Behörden und zwar unmög¬
licherweise ohne Billigung der königlichen Staatsregierung in Ausführung
gebracht wurde.

Halten wir uns an das factische, rein statistische Resultat der Kammer¬
wahlen. Unter den 145 neuen Abgeordneten befanden sich allerdings blos
44 Mitglieder der aufgelösten Kammer, von denen 27 für und 9 gegen die Adresse
gestimmt hatten, wegen welcher die Auslösung eingetreten, 8 nicht anwesend
gewesen waren. Von den übrigen 101 Abgeordneten traten an 90 überhaupt
zum ersten Mal in die Kammer. Das büreaukratische und klerikale Element
erschien gegen die vorherige Diät außerordentlich vermindert, das communale
grundbcsitzende,, gewerbtreibende sehr verstärkt. Ueberwiegend ministeriell hatte
blos die Rheinpfalz gewählt -- es sollte sich bald zeigen, wie dieser vermeint¬
liche Sieg sich in eine schwere moralische Niederlage der Behörden verwandelte.
Wie aber officiell versichert wurde, benutzte die Regierung die Zeit bis zum
Zusammentritt des neuen Landtags zu einer Revision des Budgets, durch
welche die früher vorgelegten Ansätze herabgemindert werden sollten. Man
gestand also damit ein, daß die aufgelöste Kammer materiell im vollen Recht


konnte. Jedenfalls bildete das Wahlausschreiben vom 15. Mai, welches die
Vorwahlen auf den 20.., die Abgeordnetenwahlen auf den 30. Mai festsetzte,
mit seinen Worten einen seltsamen Gegensatz zu diesen gouvernementalen Prä¬
ventivmaßregeln. Denn seine Schlußworte lauteten: „Wir erwarten von allen
Behörden gewissenhafte Erfüllung ihrer beschworenen Pflichten, Leitung der
Wahlverhandlungen mit rücksichtsloser Unbefangenheit, Beschirmung
der Freiheit der Wahlstimmen vor Einschüchterung oder Bestechung, und
pflichtgetreue Enthaltung von Beschränkung der Wahlfreiheit."

Bei der Wahlhandlung selbst mußte es auch nach solchem königlichen Befehl
auffallend genug erscheinen, daß die Acten derselben, wie Stimmlisten, Wahl¬
protokolle und tgi. nicht, wie bisher, an die Communalbehörden, sondern an
die Polizeistellen abgeliefert werden mußten. Man schloß daraus, daß Sieber
Polizei gewissermaßen als „schätzbares Material" zu politischen Conduiten-
listen über Einzelne und ganze Gemeinden dienen sollten. Auch mußte die
officiöse Pfälzer Zeitung (zweite Hülste des Juni) das Eingeständnis) machen,
daß z. B. denjenigen Wahlbezirken/welche nichtgouvernementale Vorwahlen
getroffen hatten, sofort angekündigt wurde, „sie würden in diesem Sommer
keine Tanzmusiken halten dürfen" (A. Allg. Ztg. 1855 No. 167.). Noch
viel schlimmere Thatsachen enthält aber das damals auch in weiteren Kreisen
bekannt gewordene „Streiflicht auf die pfälzer Wahlen im Jahr 1855 ". welches
die wohlgesinnten Gegner wol zu beschimpfen und zu verdächtigen, doch in seinen
Thatsachen nirgend einer Unwahrheit zu zeihen vermochten. Diese Einzelheiten
kommen indessen hier nicht in Betracht, es galt nur daran zu erinnern, in welcher
Weise der königliche Befehl von den königlichen Behörden und zwar unmög¬
licherweise ohne Billigung der königlichen Staatsregierung in Ausführung
gebracht wurde.

Halten wir uns an das factische, rein statistische Resultat der Kammer¬
wahlen. Unter den 145 neuen Abgeordneten befanden sich allerdings blos
44 Mitglieder der aufgelösten Kammer, von denen 27 für und 9 gegen die Adresse
gestimmt hatten, wegen welcher die Auslösung eingetreten, 8 nicht anwesend
gewesen waren. Von den übrigen 101 Abgeordneten traten an 90 überhaupt
zum ersten Mal in die Kammer. Das büreaukratische und klerikale Element
erschien gegen die vorherige Diät außerordentlich vermindert, das communale
grundbcsitzende,, gewerbtreibende sehr verstärkt. Ueberwiegend ministeriell hatte
blos die Rheinpfalz gewählt — es sollte sich bald zeigen, wie dieser vermeint¬
liche Sieg sich in eine schwere moralische Niederlage der Behörden verwandelte.
Wie aber officiell versichert wurde, benutzte die Regierung die Zeit bis zum
Zusammentritt des neuen Landtags zu einer Revision des Budgets, durch
welche die früher vorgelegten Ansätze herabgemindert werden sollten. Man
gestand also damit ein, daß die aufgelöste Kammer materiell im vollen Recht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/138>, abgerufen am 05.07.2024.