Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Motive offen zu legen. Vor allem hat der Kreis des Komischen eine reiche
Vertretung gewonnen. Ob gemalte Witze und Anekdoten als sachliche Be¬
reicherung unserer Kunst angesehen werden können, steht dahin, es fehlt aber
auch nicht an wirklich drastischen Situationen und mit gesunder Komik auf¬
gefaßten Charakterschilderungen. Menschliches S.entkehen, niedliche in Farben
und Linien erzählte Novellen haben gleichfalls in der Münchner Ausstellung
Raum gefunden. Wenn Kirner uns die Toilette eines Bahnwärters am Kirmeß-
tag schildert --- er hatte eben nur Zeit gefunden, sein Barbiergeschäft zur
Hälfte zu vollenden, als schon die Locomotive heranbraust und er sich ge¬
nöthigt sieht, mit einer eingeseiften Wange, die er natürlich abwendet, den
Zug nach bairischer Landessitte militärisch zu salutiren --, wenn Enhuber uns
gleichfalls die ähnliche Toilette eines Wanderers auf freiem Felde vorführt,
so lohnt der "Spaß" schwerlich die aus dessen Verkörperung verwendete Mühe.
Die Pointen lassen sich hier wie in so vielen andern Füllen nicht mit der
Spitze des Pinsels hineintragen, dieses ist die Illustration der komisch, ge¬
dachten Vorstellung, aber in sich selbst ohne bedeutende komische Kraft. Wirk¬
lich komisch in der Situation traten uns dagegen viele andere Genrebilder
und zwar insbesondere der Münchner Schule entgegen, welche, wie es scheint, für
einen lustigen Schildcrungston eine ungleich größere Vorliebe besitzt, als die noch
von sentimentalen Traditionen genährte düsseldorfer Künstlergruppe. Als Bei¬
spiele führen wir nur Enhubcrs unterbrochene Spielpartie, Rambergs Fen-
sterln und Spaziergang, Flüggens Kirchenmusik u. a. an. Wir begegnen da
bald glücklich reproducirten Charakterfiguren, bald mit natürlichem Humor aus¬
gemalten Situationen. Der aus dem Seminar eben entlassene Hofmeister
auf Rambergs Bild, der seine Zöglinge auf den Spaziergang führt und die
Lust der letzteren, sich in das Spiel ungezügelter Straßenjungen zu mischen,
mit pedantischer Geberde abwehrt, der Dorfheld bei Enhuber, dessen Kame¬
raden hastig das Kartenspiel verstecken und der selbst die Flucht unter den
Tisch nicht verschmäht, um dem ersten Strom der Gardinenpredigt seiner bessern
Hälfte auszuweichen, die mit eingeklemmten Armen die Schwelle der Wirths¬
stube betritt, machen der Phantasie der Künstler alle Ehre. Auch in den
novellistischen Schilderungen stoßen wir oft auf sinnige Züge und lernen eine
seine Beobachtungsgabe kennen, gros ist vor allem die Mannigfaltigkeit der
Motive. Ländliche Wallfahrer, eine appenzeller Stickerin und Blanteneserinnen
am Brunnen, ein Mönch, der einer Trauung in der Klosterkirche zusieht, In¬
dianer in Südamerika, französische Marquisen, Schatzgräber und Alchy¬
misten. Landsknechte und Bürgerwehrmänner, Bauern und Kavaliere gehen
in bunter Reihe an uns vorüber. Einzelne Paradcscencn wiederholen
sich zwar: Verlobungen, die durch den Eintritt alter verlassener Geliebten gestört
werden, Spieler, denen die Gattin zu Gewissen redet u, s. w., im Allgemeinen


Motive offen zu legen. Vor allem hat der Kreis des Komischen eine reiche
Vertretung gewonnen. Ob gemalte Witze und Anekdoten als sachliche Be¬
reicherung unserer Kunst angesehen werden können, steht dahin, es fehlt aber
auch nicht an wirklich drastischen Situationen und mit gesunder Komik auf¬
gefaßten Charakterschilderungen. Menschliches S.entkehen, niedliche in Farben
und Linien erzählte Novellen haben gleichfalls in der Münchner Ausstellung
Raum gefunden. Wenn Kirner uns die Toilette eines Bahnwärters am Kirmeß-
tag schildert —- er hatte eben nur Zeit gefunden, sein Barbiergeschäft zur
Hälfte zu vollenden, als schon die Locomotive heranbraust und er sich ge¬
nöthigt sieht, mit einer eingeseiften Wange, die er natürlich abwendet, den
Zug nach bairischer Landessitte militärisch zu salutiren —, wenn Enhuber uns
gleichfalls die ähnliche Toilette eines Wanderers auf freiem Felde vorführt,
so lohnt der „Spaß" schwerlich die aus dessen Verkörperung verwendete Mühe.
Die Pointen lassen sich hier wie in so vielen andern Füllen nicht mit der
Spitze des Pinsels hineintragen, dieses ist die Illustration der komisch, ge¬
dachten Vorstellung, aber in sich selbst ohne bedeutende komische Kraft. Wirk¬
lich komisch in der Situation traten uns dagegen viele andere Genrebilder
und zwar insbesondere der Münchner Schule entgegen, welche, wie es scheint, für
einen lustigen Schildcrungston eine ungleich größere Vorliebe besitzt, als die noch
von sentimentalen Traditionen genährte düsseldorfer Künstlergruppe. Als Bei¬
spiele führen wir nur Enhubcrs unterbrochene Spielpartie, Rambergs Fen-
sterln und Spaziergang, Flüggens Kirchenmusik u. a. an. Wir begegnen da
bald glücklich reproducirten Charakterfiguren, bald mit natürlichem Humor aus¬
gemalten Situationen. Der aus dem Seminar eben entlassene Hofmeister
auf Rambergs Bild, der seine Zöglinge auf den Spaziergang führt und die
Lust der letzteren, sich in das Spiel ungezügelter Straßenjungen zu mischen,
mit pedantischer Geberde abwehrt, der Dorfheld bei Enhuber, dessen Kame¬
raden hastig das Kartenspiel verstecken und der selbst die Flucht unter den
Tisch nicht verschmäht, um dem ersten Strom der Gardinenpredigt seiner bessern
Hälfte auszuweichen, die mit eingeklemmten Armen die Schwelle der Wirths¬
stube betritt, machen der Phantasie der Künstler alle Ehre. Auch in den
novellistischen Schilderungen stoßen wir oft auf sinnige Züge und lernen eine
seine Beobachtungsgabe kennen, gros ist vor allem die Mannigfaltigkeit der
Motive. Ländliche Wallfahrer, eine appenzeller Stickerin und Blanteneserinnen
am Brunnen, ein Mönch, der einer Trauung in der Klosterkirche zusieht, In¬
dianer in Südamerika, französische Marquisen, Schatzgräber und Alchy¬
misten. Landsknechte und Bürgerwehrmänner, Bauern und Kavaliere gehen
in bunter Reihe an uns vorüber. Einzelne Paradcscencn wiederholen
sich zwar: Verlobungen, die durch den Eintritt alter verlassener Geliebten gestört
werden, Spieler, denen die Gattin zu Gewissen redet u, s. w., im Allgemeinen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0120" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/265929"/>
            <p xml:id="ID_288" prev="#ID_287" next="#ID_289"> Motive offen zu legen. Vor allem hat der Kreis des Komischen eine reiche<lb/>
Vertretung gewonnen. Ob gemalte Witze und Anekdoten als sachliche Be¬<lb/>
reicherung unserer Kunst angesehen werden können, steht dahin, es fehlt aber<lb/>
auch nicht an wirklich drastischen Situationen und mit gesunder Komik auf¬<lb/>
gefaßten Charakterschilderungen. Menschliches S.entkehen, niedliche in Farben<lb/>
und Linien erzählte Novellen haben gleichfalls in der Münchner Ausstellung<lb/>
Raum gefunden. Wenn Kirner uns die Toilette eines Bahnwärters am Kirmeß-<lb/>
tag schildert &#x2014;- er hatte eben nur Zeit gefunden, sein Barbiergeschäft zur<lb/>
Hälfte zu vollenden, als schon die Locomotive heranbraust und er sich ge¬<lb/>
nöthigt sieht, mit einer eingeseiften Wange, die er natürlich abwendet, den<lb/>
Zug nach bairischer Landessitte militärisch zu salutiren &#x2014;, wenn Enhuber uns<lb/>
gleichfalls die ähnliche Toilette eines Wanderers auf freiem Felde vorführt,<lb/>
so lohnt der &#x201E;Spaß" schwerlich die aus dessen Verkörperung verwendete Mühe.<lb/>
Die Pointen lassen sich hier wie in so vielen andern Füllen nicht mit der<lb/>
Spitze des Pinsels hineintragen, dieses ist die Illustration der komisch, ge¬<lb/>
dachten Vorstellung, aber in sich selbst ohne bedeutende komische Kraft. Wirk¬<lb/>
lich komisch in der Situation traten uns dagegen viele andere Genrebilder<lb/>
und zwar insbesondere der Münchner Schule entgegen, welche, wie es scheint, für<lb/>
einen lustigen Schildcrungston eine ungleich größere Vorliebe besitzt, als die noch<lb/>
von sentimentalen Traditionen genährte düsseldorfer Künstlergruppe. Als Bei¬<lb/>
spiele führen wir nur Enhubcrs unterbrochene Spielpartie, Rambergs Fen-<lb/>
sterln und Spaziergang, Flüggens Kirchenmusik u. a. an. Wir begegnen da<lb/>
bald glücklich reproducirten Charakterfiguren, bald mit natürlichem Humor aus¬<lb/>
gemalten Situationen. Der aus dem Seminar eben entlassene Hofmeister<lb/>
auf Rambergs Bild, der seine Zöglinge auf den Spaziergang führt und die<lb/>
Lust der letzteren, sich in das Spiel ungezügelter Straßenjungen zu mischen,<lb/>
mit pedantischer Geberde abwehrt, der Dorfheld bei Enhuber, dessen Kame¬<lb/>
raden hastig das Kartenspiel verstecken und der selbst die Flucht unter den<lb/>
Tisch nicht verschmäht, um dem ersten Strom der Gardinenpredigt seiner bessern<lb/>
Hälfte auszuweichen, die mit eingeklemmten Armen die Schwelle der Wirths¬<lb/>
stube betritt, machen der Phantasie der Künstler alle Ehre. Auch in den<lb/>
novellistischen Schilderungen stoßen wir oft auf sinnige Züge und lernen eine<lb/>
seine Beobachtungsgabe kennen, gros ist vor allem die Mannigfaltigkeit der<lb/>
Motive. Ländliche Wallfahrer, eine appenzeller Stickerin und Blanteneserinnen<lb/>
am Brunnen, ein Mönch, der einer Trauung in der Klosterkirche zusieht, In¬<lb/>
dianer in Südamerika, französische Marquisen, Schatzgräber und Alchy¬<lb/>
misten. Landsknechte und Bürgerwehrmänner, Bauern und Kavaliere gehen<lb/>
in bunter Reihe an uns vorüber. Einzelne Paradcscencn wiederholen<lb/>
sich zwar: Verlobungen, die durch den Eintritt alter verlassener Geliebten gestört<lb/>
werden, Spieler, denen die Gattin zu Gewissen redet u, s. w., im Allgemeinen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0120] Motive offen zu legen. Vor allem hat der Kreis des Komischen eine reiche Vertretung gewonnen. Ob gemalte Witze und Anekdoten als sachliche Be¬ reicherung unserer Kunst angesehen werden können, steht dahin, es fehlt aber auch nicht an wirklich drastischen Situationen und mit gesunder Komik auf¬ gefaßten Charakterschilderungen. Menschliches S.entkehen, niedliche in Farben und Linien erzählte Novellen haben gleichfalls in der Münchner Ausstellung Raum gefunden. Wenn Kirner uns die Toilette eines Bahnwärters am Kirmeß- tag schildert —- er hatte eben nur Zeit gefunden, sein Barbiergeschäft zur Hälfte zu vollenden, als schon die Locomotive heranbraust und er sich ge¬ nöthigt sieht, mit einer eingeseiften Wange, die er natürlich abwendet, den Zug nach bairischer Landessitte militärisch zu salutiren —, wenn Enhuber uns gleichfalls die ähnliche Toilette eines Wanderers auf freiem Felde vorführt, so lohnt der „Spaß" schwerlich die aus dessen Verkörperung verwendete Mühe. Die Pointen lassen sich hier wie in so vielen andern Füllen nicht mit der Spitze des Pinsels hineintragen, dieses ist die Illustration der komisch, ge¬ dachten Vorstellung, aber in sich selbst ohne bedeutende komische Kraft. Wirk¬ lich komisch in der Situation traten uns dagegen viele andere Genrebilder und zwar insbesondere der Münchner Schule entgegen, welche, wie es scheint, für einen lustigen Schildcrungston eine ungleich größere Vorliebe besitzt, als die noch von sentimentalen Traditionen genährte düsseldorfer Künstlergruppe. Als Bei¬ spiele führen wir nur Enhubcrs unterbrochene Spielpartie, Rambergs Fen- sterln und Spaziergang, Flüggens Kirchenmusik u. a. an. Wir begegnen da bald glücklich reproducirten Charakterfiguren, bald mit natürlichem Humor aus¬ gemalten Situationen. Der aus dem Seminar eben entlassene Hofmeister auf Rambergs Bild, der seine Zöglinge auf den Spaziergang führt und die Lust der letzteren, sich in das Spiel ungezügelter Straßenjungen zu mischen, mit pedantischer Geberde abwehrt, der Dorfheld bei Enhuber, dessen Kame¬ raden hastig das Kartenspiel verstecken und der selbst die Flucht unter den Tisch nicht verschmäht, um dem ersten Strom der Gardinenpredigt seiner bessern Hälfte auszuweichen, die mit eingeklemmten Armen die Schwelle der Wirths¬ stube betritt, machen der Phantasie der Künstler alle Ehre. Auch in den novellistischen Schilderungen stoßen wir oft auf sinnige Züge und lernen eine seine Beobachtungsgabe kennen, gros ist vor allem die Mannigfaltigkeit der Motive. Ländliche Wallfahrer, eine appenzeller Stickerin und Blanteneserinnen am Brunnen, ein Mönch, der einer Trauung in der Klosterkirche zusieht, In¬ dianer in Südamerika, französische Marquisen, Schatzgräber und Alchy¬ misten. Landsknechte und Bürgerwehrmänner, Bauern und Kavaliere gehen in bunter Reihe an uns vorüber. Einzelne Paradcscencn wiederholen sich zwar: Verlobungen, die durch den Eintritt alter verlassener Geliebten gestört werden, Spieler, denen die Gattin zu Gewissen redet u, s. w., im Allgemeinen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/120
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/120>, abgerufen am 26.07.2024.