Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.Stande zu sein, Neues unmittelbar aus sich selbst herzustellen; dennoch ist Somit darf man in dem Bestreben, die alte Kunst als etwas für unsern Stande zu sein, Neues unmittelbar aus sich selbst herzustellen; dennoch ist Somit darf man in dem Bestreben, die alte Kunst als etwas für unsern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0108" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/265917"/> <p xml:id="ID_256" prev="#ID_255"> Stande zu sein, Neues unmittelbar aus sich selbst herzustellen; dennoch ist<lb/> diese Täuschung heute, besonders unter Künstlern nicht so selten. Ebenso¬<lb/> wenig kann sich auch die Ansicht bilden, die Kunst hatte überhaupt ihre Be¬<lb/> stimmung erfüllt und würde bei den bis jetzt erreichten Resultaten stehen blei¬<lb/> ben, das heißt, ihrem Verfall entgegengehn. Das ist aber gradezu gegen die<lb/> ganze Kunstgeschichte, wie überhaupt wieder die Natur der unendlichen Fort¬<lb/> bewegung und Weiterbildung des Geistes im Menschen und in der ganzen<lb/> Welt. In der ganzen Entwicklung der Kunst, selbst in den unproductivsten<lb/> Uebergangsperioden, hat dieser Geist unablässiger Fortbewegung zum Höheren<lb/> auch nicht einen Augenblick geruht. Allemal, wenn die höheren Ideen einer<lb/> Zeit vollkommen Gemeingut geworden, und so das ganze Volk auf eine höhere<lb/> Stufe erhoben und für das Empfängnis; neuer Ideen befähigt haben, sind neue<lb/> und weitere Aussichten in das Reich des Geistes eröffnet worden, bis auch diese<lb/> erreicht sind, und der Proceß der geistigen Entwicklung sick so ins Unendliche<lb/> fortsetzt. Wenn der Zeitpunkt eintritt, daß das Erbtheil unsrer großen Bor¬<lb/> fahren in der Kunst nicht mehr vereinzelter Besitz, sondern allgemein geistiges<lb/> Eigenthum ist, nicht mehr in einseitiger Betrachtung und halbem Verstehen<lb/> als abgethan angesehn und so des wirklichen Einflusses auf einen wahr¬<lb/> haften Fortschritt beraubt wird, dann können wir unbesorgt einer sicheren<lb/> Weiterentwicklung der Kunst entgegensehen; sie ist noch nie ausgeblieben, und<lb/> wird auch in heutigen Tagen nicht ausbleiben.</p><lb/> <p xml:id="ID_257" next="#ID_258"> Somit darf man in dem Bestreben, die alte Kunst als etwas für unsern<lb/> Fortschritt Lebenskräftiges hinzustellen, keineswegs das Verlangen, in alte<lb/> Formen und Anschauungen zurückzukehren, erblicken, sondern nur die Absicht,<lb/> einen festen und sichern Boden zu erhalten, aus dessen Bearbeitung die Keime<lb/> einer neuen und immer höheren und reicheren Blüte emporstreben sollen.<lb/> Namentlich sür die Kirchenmusik bedürfen wir so fester, in ihren Ideen und<lb/> Formen bestimmt abgeschlossener Vorbilder, wie sie uns die alten Meister<lb/> gegeben, wenn dieselbe nicht ihr ideales Reich verlassen und durch die<lb/> gezwungene Verbindung sich gegenseitig negirendcr Stoffe und Ausdrucks¬<lb/> mittel für die Kunst nur zu einem Scheinleben herabsinken soll. Die<lb/> Kirchenmusik, welche in dem Verhältniß des Menschen zur höchsten<lb/> Vernunftidee — dem göttlichen Wesen — ihre Stoffe findet, darf einer<lb/> einseitig sinnlich unklaren Gefühlspoetisirerei ebenso wenig verfallen, wie<lb/> einer unselbstständigcn Verstandesnachahmung ausgelebter Formen. In der<lb/> heutigen Zeit, in der gewiß der Drang lebt, die durch Formenwesen ver¬<lb/> dunkelte Religionsanschauung zur reineren Klarheit herauszustellen, ohne bis<lb/> jetzt zu einem Abschluß gelangt zu sein, ist auch die Kirchenmusik, wenn man<lb/> überhaupt von einer solchen sprechen kann, ebenso häusig einer unklaren Ge¬<lb/> fühlsschwärmerei wie dem abstracten Verstandesformalismus verfallen. In</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0108]
Stande zu sein, Neues unmittelbar aus sich selbst herzustellen; dennoch ist
diese Täuschung heute, besonders unter Künstlern nicht so selten. Ebenso¬
wenig kann sich auch die Ansicht bilden, die Kunst hatte überhaupt ihre Be¬
stimmung erfüllt und würde bei den bis jetzt erreichten Resultaten stehen blei¬
ben, das heißt, ihrem Verfall entgegengehn. Das ist aber gradezu gegen die
ganze Kunstgeschichte, wie überhaupt wieder die Natur der unendlichen Fort¬
bewegung und Weiterbildung des Geistes im Menschen und in der ganzen
Welt. In der ganzen Entwicklung der Kunst, selbst in den unproductivsten
Uebergangsperioden, hat dieser Geist unablässiger Fortbewegung zum Höheren
auch nicht einen Augenblick geruht. Allemal, wenn die höheren Ideen einer
Zeit vollkommen Gemeingut geworden, und so das ganze Volk auf eine höhere
Stufe erhoben und für das Empfängnis; neuer Ideen befähigt haben, sind neue
und weitere Aussichten in das Reich des Geistes eröffnet worden, bis auch diese
erreicht sind, und der Proceß der geistigen Entwicklung sick so ins Unendliche
fortsetzt. Wenn der Zeitpunkt eintritt, daß das Erbtheil unsrer großen Bor¬
fahren in der Kunst nicht mehr vereinzelter Besitz, sondern allgemein geistiges
Eigenthum ist, nicht mehr in einseitiger Betrachtung und halbem Verstehen
als abgethan angesehn und so des wirklichen Einflusses auf einen wahr¬
haften Fortschritt beraubt wird, dann können wir unbesorgt einer sicheren
Weiterentwicklung der Kunst entgegensehen; sie ist noch nie ausgeblieben, und
wird auch in heutigen Tagen nicht ausbleiben.
Somit darf man in dem Bestreben, die alte Kunst als etwas für unsern
Fortschritt Lebenskräftiges hinzustellen, keineswegs das Verlangen, in alte
Formen und Anschauungen zurückzukehren, erblicken, sondern nur die Absicht,
einen festen und sichern Boden zu erhalten, aus dessen Bearbeitung die Keime
einer neuen und immer höheren und reicheren Blüte emporstreben sollen.
Namentlich sür die Kirchenmusik bedürfen wir so fester, in ihren Ideen und
Formen bestimmt abgeschlossener Vorbilder, wie sie uns die alten Meister
gegeben, wenn dieselbe nicht ihr ideales Reich verlassen und durch die
gezwungene Verbindung sich gegenseitig negirendcr Stoffe und Ausdrucks¬
mittel für die Kunst nur zu einem Scheinleben herabsinken soll. Die
Kirchenmusik, welche in dem Verhältniß des Menschen zur höchsten
Vernunftidee — dem göttlichen Wesen — ihre Stoffe findet, darf einer
einseitig sinnlich unklaren Gefühlspoetisirerei ebenso wenig verfallen, wie
einer unselbstständigcn Verstandesnachahmung ausgelebter Formen. In der
heutigen Zeit, in der gewiß der Drang lebt, die durch Formenwesen ver¬
dunkelte Religionsanschauung zur reineren Klarheit herauszustellen, ohne bis
jetzt zu einem Abschluß gelangt zu sein, ist auch die Kirchenmusik, wenn man
überhaupt von einer solchen sprechen kann, ebenso häusig einer unklaren Ge¬
fühlsschwärmerei wie dem abstracten Verstandesformalismus verfallen. In
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