Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.lich des Helvetius, viel Lebhaftigkeit, einen oft leichtsinnigen Witz, abspre¬ lich des Helvetius, viel Lebhaftigkeit, einen oft leichtsinnigen Witz, abspre¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0063" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186475"/> <p xml:id="ID_150" prev="#ID_149" next="#ID_151"> lich des Helvetius, viel Lebhaftigkeit, einen oft leichtsinnigen Witz, abspre¬<lb/> chende, bisweilen sehr unreife Urtheile über Dinge, über welche er später ganz<lb/> anders dachte, eine gewisse Geringschätzung der deutschen Literatur, welche<lb/> ihm schwerfällig und pedantisch vorkam, dabei aber viel Gutmüthigkeit und<lb/> mitunter ein sehr gesundes Urtheil. In den ziemlich zahlreichen Briefen aus<lb/> jener Zeit an Nicolai erscheint er mitunter als junger Renommist. ganz im<lb/> Geschmack jener Periode. „Wir sollten endlich einmal auf Originalität der<lb/> Gedanken und des Ausdrucks dringen. Man sollte es in den Plan der<lb/> Bibliothek verweben, die Originalgenies, sollten sie auch entsetzlich irren oder<lb/> anfänglich mit vielen Fehlern schreiben, zu unterstützen und zu ennuutem. In<lb/> diesem Stück und überhaupt im Enthusiasmus sür die Freiheit bin ich ganz<lb/> Britte. Das ists. was mir den Aufenthalt in Helvetien ganz unausstehlich<lb/> macht; hier scheint mir die Freiheit nuszusterben. Ich verfluche alle Fesseln<lb/> meines Geistes, alle demüthige Mittelmäßigkeit, alle orthodoxe Denkuugs-<lb/> sklaverei ist mir ein Greuel." Ueberhaupt schonte er in seinen Briefen auch<lb/> die Männer nicht, die er damals sehr verehrte, z. B. Schlözer, den er<lb/> 16. August 1772 megen seines buntscheckigen Stils sehr scharf zurechtwies.<lb/> Am 2l>. August 1772 schickte er an Nicolai eine Recension über ein gegen<lb/> seniler gerichtetes Buch, welche nach seiner Ansicht Epoche machen sollte;<lb/> aber sie war den berliner Aufklärern zu stark; weniger dem Inhalt als den<lb/> Ausdrücken nach, die in ihrer burlesken Weise wol an die modernste Kritik<lb/> erinnert haben mögen. Auch waren Nikolai wie Mendelsohn über die An¬<lb/> preisung des Helvetius erschrocken. Müller nahm davon Gelegenheit, an die<lb/> aufgeklärten Geistlichen Berlins, welche seine Recension gemißbilligt, nament¬<lb/> lich an Spalding zu schreiben, und ihnen sein Glaubensbekenntnis aus¬<lb/> einanderzusetzen. Es war ihm um so wichtiger, dort im guten Ansehen zu<lb/> bleiben, da er sich bereits damals um eine Stelle in Berlin bewarb. Freilich<lb/> kostete ihn der Entschluß schwere Kämpfe. Er schrieb den 20. Den. 1772 in<lb/> sein Tagebuch: „Du kannst frei sein o Mensch, warum willst du Königen<lb/> dienen?" und an Füßli i Jan. 1773: ..ich habe jeden Gedanken. Schaff¬<lb/> hausen zu verlassen, abgeschworen, schwöre ihn an deinem Busen noch ein¬<lb/> mal ab, und schwöre dem Baterland zu dienen, sollte es mich auch todten."<lb/> Indeß gingen die Unterhandlungen sort und es war eine Zeit lang Aussicht,<lb/> daß sie sich erfüllten. Der Minister Zedlitz, durch den cimbrischen Krieg und<lb/> durch Merians Empfehlung auf ihn aufmerksam gemacht, lieh ihm durch<lb/> Nicolai die Rectorstelle des joachimsthaler Gymnasiums mit 800 Thlr. Gehalt<lb/> und Aussicht auf eine baldige Erhöhung anbieten. Ehe dieser Brief ankam,<lb/> hatte Müller bereits in seiner Ungeduld 22. Nov. 1 773 ein grobes Schreiben<lb/> an Nicolai gerichtet: „Ich preise den, der die Welt regiert, daß er mich nie<lb/> nach Berlin geführt hat. Ich werde in einer Stadt leben, die ebenso aus-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0063]
lich des Helvetius, viel Lebhaftigkeit, einen oft leichtsinnigen Witz, abspre¬
chende, bisweilen sehr unreife Urtheile über Dinge, über welche er später ganz
anders dachte, eine gewisse Geringschätzung der deutschen Literatur, welche
ihm schwerfällig und pedantisch vorkam, dabei aber viel Gutmüthigkeit und
mitunter ein sehr gesundes Urtheil. In den ziemlich zahlreichen Briefen aus
jener Zeit an Nicolai erscheint er mitunter als junger Renommist. ganz im
Geschmack jener Periode. „Wir sollten endlich einmal auf Originalität der
Gedanken und des Ausdrucks dringen. Man sollte es in den Plan der
Bibliothek verweben, die Originalgenies, sollten sie auch entsetzlich irren oder
anfänglich mit vielen Fehlern schreiben, zu unterstützen und zu ennuutem. In
diesem Stück und überhaupt im Enthusiasmus sür die Freiheit bin ich ganz
Britte. Das ists. was mir den Aufenthalt in Helvetien ganz unausstehlich
macht; hier scheint mir die Freiheit nuszusterben. Ich verfluche alle Fesseln
meines Geistes, alle demüthige Mittelmäßigkeit, alle orthodoxe Denkuugs-
sklaverei ist mir ein Greuel." Ueberhaupt schonte er in seinen Briefen auch
die Männer nicht, die er damals sehr verehrte, z. B. Schlözer, den er
16. August 1772 megen seines buntscheckigen Stils sehr scharf zurechtwies.
Am 2l>. August 1772 schickte er an Nicolai eine Recension über ein gegen
seniler gerichtetes Buch, welche nach seiner Ansicht Epoche machen sollte;
aber sie war den berliner Aufklärern zu stark; weniger dem Inhalt als den
Ausdrücken nach, die in ihrer burlesken Weise wol an die modernste Kritik
erinnert haben mögen. Auch waren Nikolai wie Mendelsohn über die An¬
preisung des Helvetius erschrocken. Müller nahm davon Gelegenheit, an die
aufgeklärten Geistlichen Berlins, welche seine Recension gemißbilligt, nament¬
lich an Spalding zu schreiben, und ihnen sein Glaubensbekenntnis aus¬
einanderzusetzen. Es war ihm um so wichtiger, dort im guten Ansehen zu
bleiben, da er sich bereits damals um eine Stelle in Berlin bewarb. Freilich
kostete ihn der Entschluß schwere Kämpfe. Er schrieb den 20. Den. 1772 in
sein Tagebuch: „Du kannst frei sein o Mensch, warum willst du Königen
dienen?" und an Füßli i Jan. 1773: ..ich habe jeden Gedanken. Schaff¬
hausen zu verlassen, abgeschworen, schwöre ihn an deinem Busen noch ein¬
mal ab, und schwöre dem Baterland zu dienen, sollte es mich auch todten."
Indeß gingen die Unterhandlungen sort und es war eine Zeit lang Aussicht,
daß sie sich erfüllten. Der Minister Zedlitz, durch den cimbrischen Krieg und
durch Merians Empfehlung auf ihn aufmerksam gemacht, lieh ihm durch
Nicolai die Rectorstelle des joachimsthaler Gymnasiums mit 800 Thlr. Gehalt
und Aussicht auf eine baldige Erhöhung anbieten. Ehe dieser Brief ankam,
hatte Müller bereits in seiner Ungeduld 22. Nov. 1 773 ein grobes Schreiben
an Nicolai gerichtet: „Ich preise den, der die Welt regiert, daß er mich nie
nach Berlin geführt hat. Ich werde in einer Stadt leben, die ebenso aus-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |