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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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man selbst keinen starken Willen hat. Dann überkommt ihn die Weissagung, er
fühlt sich durch das unmittelbare Eingreifen Gottes über die gemeinen Ur¬
theile der Sterblichen entrückt; und in der That, seine Blicke sind zuweilen
von einer wunderbaren Tiefe, Aber zu leicht verliert sich der Prophet in
leere Deklamationen und wenn dann ein neuer Eindruck, eine neue angebliche
Thatsache ihn überwältigt, so ist die frühere Stimmung vergessen. So
mancher Stelle in seinen Briefen fehlt nur wenig, um sich zu einem schwung¬
reicher Gedicht zu erheben, und dabei sieht er mitunter richtig voraus, was
kein anderer um ihn bemerkt; aber es ist ein fremder Geist, der über ihn
kommt und aus ihm weissagt-, der Geist der großen alten Schriftsteller, die
sein Gemüth und seine Einbildungskraft erfüllen, die aber sein Urtheil und
seinen Willen nicht gestählt haben. Diese dunklen Visionen erhalten durch
einen eigenthümlichen Widerspruch seines Wesens noch eine seltsame, aber
anziehende Farbe, Oeftere Enttäuschung hat ihm Mißtrauen gegen die
Stimme seines Innern eingeflößt, und wenn er sich dennoch zum Sprechen
entschließt, so empfindet man die Gewalt, mit der es ihn fortreißt, zugleich
aber auch das schmerzliche Vorgefühl, daß ihm selbst das Gesicht nicht zu
Gute kommt. Derselbe Widerspruch ist in seinem praktischen Leben, san¬
guinisch und sorglos bis zum kindischen in allen irdischen Angelegenheiten, ver¬
tieft er sich zuweilen wieder in eine ängstliche hastige Berechnung; er denkt
mit Unruhe an den nächsten Tag und dessen Bedürfnisse, und ist nie mehr
einem Kinde vergleichbar, als wenn er mit anscheinender Weltklugheit Pläne
für die weite Zukunft schmiedet. Das Glück oder vielmehr seine Unschlüssig¬
keit hatte ihm versagt das zu finden, was allein ein dauerndes Heimats-
gefühl einflößt, und so war er ein unstäter Wanderer durch aller Herren Län¬
der, durch alle Religionen, durch alle Völker, ja seine Phantasie schweifte
vorgreifend von Rom bis an die Newa. So heftig sich zuweilen der Un¬
wille regt, wenn man bei einem Mann von der höchsten Bildung Tag für
Tag empfindet, daß er niemals weiß was er will, zuletzt, namentlich bei sei¬
nem unglückseligen Ausgang, durch den er vieles abgebüßt, überwältigt doch
die Rührung, freilich auch die Einsicht, daß für einen Mann das schlimmste
Verderben die Charakterschwäche ist.

Für einen tiefen Kenner der Geschichte liegt das Mißverständniß nah.
das freiere und schärfere Urtheil über so manche dankbare Partien der Welt-
begebenheiten müsse ihn auch befähigen, unmittelbar ins große Leben Euro¬
pas einzugreifen. Wie sehr sich nicht blos Müller über sein staatsmännisches
Talent geirrt, sondern auch Männer, die wol wußten, was es damit auf
sich habe, z. B. Gentz, liegt auf der Hand. Nie war ein Mann weniger
zum Politiker geeignet als Müller. So laut er von der frühsten Jugend an
gegen den Zeitgeist Zeugniß ablegte, so leicht wurde er von jeder Strömung


man selbst keinen starken Willen hat. Dann überkommt ihn die Weissagung, er
fühlt sich durch das unmittelbare Eingreifen Gottes über die gemeinen Ur¬
theile der Sterblichen entrückt; und in der That, seine Blicke sind zuweilen
von einer wunderbaren Tiefe, Aber zu leicht verliert sich der Prophet in
leere Deklamationen und wenn dann ein neuer Eindruck, eine neue angebliche
Thatsache ihn überwältigt, so ist die frühere Stimmung vergessen. So
mancher Stelle in seinen Briefen fehlt nur wenig, um sich zu einem schwung¬
reicher Gedicht zu erheben, und dabei sieht er mitunter richtig voraus, was
kein anderer um ihn bemerkt; aber es ist ein fremder Geist, der über ihn
kommt und aus ihm weissagt-, der Geist der großen alten Schriftsteller, die
sein Gemüth und seine Einbildungskraft erfüllen, die aber sein Urtheil und
seinen Willen nicht gestählt haben. Diese dunklen Visionen erhalten durch
einen eigenthümlichen Widerspruch seines Wesens noch eine seltsame, aber
anziehende Farbe, Oeftere Enttäuschung hat ihm Mißtrauen gegen die
Stimme seines Innern eingeflößt, und wenn er sich dennoch zum Sprechen
entschließt, so empfindet man die Gewalt, mit der es ihn fortreißt, zugleich
aber auch das schmerzliche Vorgefühl, daß ihm selbst das Gesicht nicht zu
Gute kommt. Derselbe Widerspruch ist in seinem praktischen Leben, san¬
guinisch und sorglos bis zum kindischen in allen irdischen Angelegenheiten, ver¬
tieft er sich zuweilen wieder in eine ängstliche hastige Berechnung; er denkt
mit Unruhe an den nächsten Tag und dessen Bedürfnisse, und ist nie mehr
einem Kinde vergleichbar, als wenn er mit anscheinender Weltklugheit Pläne
für die weite Zukunft schmiedet. Das Glück oder vielmehr seine Unschlüssig¬
keit hatte ihm versagt das zu finden, was allein ein dauerndes Heimats-
gefühl einflößt, und so war er ein unstäter Wanderer durch aller Herren Län¬
der, durch alle Religionen, durch alle Völker, ja seine Phantasie schweifte
vorgreifend von Rom bis an die Newa. So heftig sich zuweilen der Un¬
wille regt, wenn man bei einem Mann von der höchsten Bildung Tag für
Tag empfindet, daß er niemals weiß was er will, zuletzt, namentlich bei sei¬
nem unglückseligen Ausgang, durch den er vieles abgebüßt, überwältigt doch
die Rührung, freilich auch die Einsicht, daß für einen Mann das schlimmste
Verderben die Charakterschwäche ist.

Für einen tiefen Kenner der Geschichte liegt das Mißverständniß nah.
das freiere und schärfere Urtheil über so manche dankbare Partien der Welt-
begebenheiten müsse ihn auch befähigen, unmittelbar ins große Leben Euro¬
pas einzugreifen. Wie sehr sich nicht blos Müller über sein staatsmännisches
Talent geirrt, sondern auch Männer, die wol wußten, was es damit auf
sich habe, z. B. Gentz, liegt auf der Hand. Nie war ein Mann weniger
zum Politiker geeignet als Müller. So laut er von der frühsten Jugend an
gegen den Zeitgeist Zeugniß ablegte, so leicht wurde er von jeder Strömung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/52>, abgerufen am 21.12.2024.