Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Verhältnisse hinweisen, deren statistische Einzelheiten hier nicht miederholt
werden können; der Verfasser zeigt auch hier, wie das vorige Jahrhundert
gegen unsere Zeit durch größere Sterblichkeit, schlechtere ärztliche Pflege, un¬
gesunde Nahrung, falsche Erziehuugsirzethode und unnatürliche Lebensweise
zurücksteht. Die Auswanderung hatte schon damals begonnen, und nahm
starke Proportionen, wenn gleich dieselben noch hinter denen unsrer Tage
zurückstehen.

"Dies also." sagt der Verfasser am Ende des Bandes, "waren die politischen,
materiellen und socialen Zustände im vorigen Jahrhundert. Auf politischem
Gebiete der morsch gewordene und kaum noch mühsam sich fortschleppende
Mechanismus einer Reichsverfassung, die nur eines Anstoßes von außen zu
harren schien, um vollends auseinanderzufallen, in den Einzelstaaten allmächtige,
fast nirgend mit verfassungsmäßigen Schranken umgeben, selbst an die Formen
des Rechts und die Autorität der Gesetze sich selten bindende Verwaltungen;
ein öffentlicher Geist, bisweilen keck in Worten und hochfliegend in Gedanken,
aber ohne klares Bewußtsein großer, praktischer Ziele und noch mehr ohne
entschlossene Thatkraft; von dem rechte" Gemeinsinn, von einer Selbstre^ierung
des Volks beinahe keine Spur. Auf dem Gebiet der materiellen Interessen:
Anfänge einer künftig wieder emporstrebenden Betriebsamkeit, im Kampf mit
Hindernissen aller Art und dabei nur sehr zweideutiger Hilfe sich erfreuend von
Seiten einer künstlichen, oft einseitigen, selten ganz uneigennützigen Gcwerbs-
politik der Regierungen. Auf dem socialen Gebiete endlich: viel Eifer und
guter Wille zur Verbesserung der allgemeinen Erwerbs- und Nnhrungöverhält-
nisse. zur Beseitigung der diese bedrohenden Uebelstände, insbesondere zur
Linderung der Noth der leidenden Classen, aber auch viel Unklarheit und
Mangel an Energie in der Wahl und Anwendung der zur Erreichung solcher
Zwecke erforderlichen Mittel, in den untersten Schichten der Gesellschaft eine
überwältigende Stumpfheit. Rohheit und Leichtfertigkeit und selbst in den
obern nur schwache Spuren eines thatkräftigen Associationsgelstes. Immer¬
hin jedoch zeigt uns das Deutschland des 18. Jahrhunderts das Bild einer
Bewegung, welche nicht mehr die eines tiefen Herabstnkens von einer behaup¬
teten Höh.e ist, wie jene des 17. Jahrhunderts, sondern einer Wiedererhebung
und Verjüngung, einer Vorbereitung und Grundlegung zu jenen gewaltigen
Entwicklungen aus allen Gebieten des nationalen Lebens, dem politischen, dem
gewerblichen, dem socialen, welche zu zeitigen unserm Jahrhundert theils schon
beschieden war. theils, so hoffen wir. noch beschicken sein wird." --

Wir werden in einem dritten Artikel ans das geistige Leben kommen,
welches uns der zweite Band schildert.




63'

Verhältnisse hinweisen, deren statistische Einzelheiten hier nicht miederholt
werden können; der Verfasser zeigt auch hier, wie das vorige Jahrhundert
gegen unsere Zeit durch größere Sterblichkeit, schlechtere ärztliche Pflege, un¬
gesunde Nahrung, falsche Erziehuugsirzethode und unnatürliche Lebensweise
zurücksteht. Die Auswanderung hatte schon damals begonnen, und nahm
starke Proportionen, wenn gleich dieselben noch hinter denen unsrer Tage
zurückstehen.

„Dies also." sagt der Verfasser am Ende des Bandes, „waren die politischen,
materiellen und socialen Zustände im vorigen Jahrhundert. Auf politischem
Gebiete der morsch gewordene und kaum noch mühsam sich fortschleppende
Mechanismus einer Reichsverfassung, die nur eines Anstoßes von außen zu
harren schien, um vollends auseinanderzufallen, in den Einzelstaaten allmächtige,
fast nirgend mit verfassungsmäßigen Schranken umgeben, selbst an die Formen
des Rechts und die Autorität der Gesetze sich selten bindende Verwaltungen;
ein öffentlicher Geist, bisweilen keck in Worten und hochfliegend in Gedanken,
aber ohne klares Bewußtsein großer, praktischer Ziele und noch mehr ohne
entschlossene Thatkraft; von dem rechte» Gemeinsinn, von einer Selbstre^ierung
des Volks beinahe keine Spur. Auf dem Gebiet der materiellen Interessen:
Anfänge einer künftig wieder emporstrebenden Betriebsamkeit, im Kampf mit
Hindernissen aller Art und dabei nur sehr zweideutiger Hilfe sich erfreuend von
Seiten einer künstlichen, oft einseitigen, selten ganz uneigennützigen Gcwerbs-
politik der Regierungen. Auf dem socialen Gebiete endlich: viel Eifer und
guter Wille zur Verbesserung der allgemeinen Erwerbs- und Nnhrungöverhält-
nisse. zur Beseitigung der diese bedrohenden Uebelstände, insbesondere zur
Linderung der Noth der leidenden Classen, aber auch viel Unklarheit und
Mangel an Energie in der Wahl und Anwendung der zur Erreichung solcher
Zwecke erforderlichen Mittel, in den untersten Schichten der Gesellschaft eine
überwältigende Stumpfheit. Rohheit und Leichtfertigkeit und selbst in den
obern nur schwache Spuren eines thatkräftigen Associationsgelstes. Immer¬
hin jedoch zeigt uns das Deutschland des 18. Jahrhunderts das Bild einer
Bewegung, welche nicht mehr die eines tiefen Herabstnkens von einer behaup¬
teten Höh.e ist, wie jene des 17. Jahrhunderts, sondern einer Wiedererhebung
und Verjüngung, einer Vorbereitung und Grundlegung zu jenen gewaltigen
Entwicklungen aus allen Gebieten des nationalen Lebens, dem politischen, dem
gewerblichen, dem socialen, welche zu zeitigen unserm Jahrhundert theils schon
beschieden war. theils, so hoffen wir. noch beschicken sein wird." —

Wir werden in einem dritten Artikel ans das geistige Leben kommen,
welches uns der zweite Band schildert.




63'
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0507" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186920"/>
            <p xml:id="ID_1139" prev="#ID_1138"> Verhältnisse hinweisen, deren statistische Einzelheiten hier nicht miederholt<lb/>
werden können; der Verfasser zeigt auch hier, wie das vorige Jahrhundert<lb/>
gegen unsere Zeit durch größere Sterblichkeit, schlechtere ärztliche Pflege, un¬<lb/>
gesunde Nahrung, falsche Erziehuugsirzethode und unnatürliche Lebensweise<lb/>
zurücksteht. Die Auswanderung hatte schon damals begonnen, und nahm<lb/>
starke Proportionen, wenn gleich dieselben noch hinter denen unsrer Tage<lb/>
zurückstehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1140"> &#x201E;Dies also." sagt der Verfasser am Ende des Bandes, &#x201E;waren die politischen,<lb/>
materiellen und socialen Zustände im vorigen Jahrhundert. Auf politischem<lb/>
Gebiete der morsch gewordene und kaum noch mühsam sich fortschleppende<lb/>
Mechanismus einer Reichsverfassung, die nur eines Anstoßes von außen zu<lb/>
harren schien, um vollends auseinanderzufallen, in den Einzelstaaten allmächtige,<lb/>
fast nirgend mit verfassungsmäßigen Schranken umgeben, selbst an die Formen<lb/>
des Rechts und die Autorität der Gesetze sich selten bindende Verwaltungen;<lb/>
ein öffentlicher Geist, bisweilen keck in Worten und hochfliegend in Gedanken,<lb/>
aber ohne klares Bewußtsein großer, praktischer Ziele und noch mehr ohne<lb/>
entschlossene Thatkraft; von dem rechte» Gemeinsinn, von einer Selbstre^ierung<lb/>
des Volks beinahe keine Spur. Auf dem Gebiet der materiellen Interessen:<lb/>
Anfänge einer künftig wieder emporstrebenden Betriebsamkeit, im Kampf mit<lb/>
Hindernissen aller Art und dabei nur sehr zweideutiger Hilfe sich erfreuend von<lb/>
Seiten einer künstlichen, oft einseitigen, selten ganz uneigennützigen Gcwerbs-<lb/>
politik der Regierungen. Auf dem socialen Gebiete endlich: viel Eifer und<lb/>
guter Wille zur Verbesserung der allgemeinen Erwerbs- und Nnhrungöverhält-<lb/>
nisse. zur Beseitigung der diese bedrohenden Uebelstände, insbesondere zur<lb/>
Linderung der Noth der leidenden Classen, aber auch viel Unklarheit und<lb/>
Mangel an Energie in der Wahl und Anwendung der zur Erreichung solcher<lb/>
Zwecke erforderlichen Mittel, in den untersten Schichten der Gesellschaft eine<lb/>
überwältigende Stumpfheit. Rohheit und Leichtfertigkeit und selbst in den<lb/>
obern nur schwache Spuren eines thatkräftigen Associationsgelstes. Immer¬<lb/>
hin jedoch zeigt uns das Deutschland des 18. Jahrhunderts das Bild einer<lb/>
Bewegung, welche nicht mehr die eines tiefen Herabstnkens von einer behaup¬<lb/>
teten Höh.e ist, wie jene des 17. Jahrhunderts, sondern einer Wiedererhebung<lb/>
und Verjüngung, einer Vorbereitung und Grundlegung zu jenen gewaltigen<lb/>
Entwicklungen aus allen Gebieten des nationalen Lebens, dem politischen, dem<lb/>
gewerblichen, dem socialen, welche zu zeitigen unserm Jahrhundert theils schon<lb/>
beschieden war. theils, so hoffen wir. noch beschicken sein wird." &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1141"> Wir werden in einem dritten Artikel ans das geistige Leben kommen,<lb/>
welches uns der zweite Band schildert.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 63'</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0507] Verhältnisse hinweisen, deren statistische Einzelheiten hier nicht miederholt werden können; der Verfasser zeigt auch hier, wie das vorige Jahrhundert gegen unsere Zeit durch größere Sterblichkeit, schlechtere ärztliche Pflege, un¬ gesunde Nahrung, falsche Erziehuugsirzethode und unnatürliche Lebensweise zurücksteht. Die Auswanderung hatte schon damals begonnen, und nahm starke Proportionen, wenn gleich dieselben noch hinter denen unsrer Tage zurückstehen. „Dies also." sagt der Verfasser am Ende des Bandes, „waren die politischen, materiellen und socialen Zustände im vorigen Jahrhundert. Auf politischem Gebiete der morsch gewordene und kaum noch mühsam sich fortschleppende Mechanismus einer Reichsverfassung, die nur eines Anstoßes von außen zu harren schien, um vollends auseinanderzufallen, in den Einzelstaaten allmächtige, fast nirgend mit verfassungsmäßigen Schranken umgeben, selbst an die Formen des Rechts und die Autorität der Gesetze sich selten bindende Verwaltungen; ein öffentlicher Geist, bisweilen keck in Worten und hochfliegend in Gedanken, aber ohne klares Bewußtsein großer, praktischer Ziele und noch mehr ohne entschlossene Thatkraft; von dem rechte» Gemeinsinn, von einer Selbstre^ierung des Volks beinahe keine Spur. Auf dem Gebiet der materiellen Interessen: Anfänge einer künftig wieder emporstrebenden Betriebsamkeit, im Kampf mit Hindernissen aller Art und dabei nur sehr zweideutiger Hilfe sich erfreuend von Seiten einer künstlichen, oft einseitigen, selten ganz uneigennützigen Gcwerbs- politik der Regierungen. Auf dem socialen Gebiete endlich: viel Eifer und guter Wille zur Verbesserung der allgemeinen Erwerbs- und Nnhrungöverhält- nisse. zur Beseitigung der diese bedrohenden Uebelstände, insbesondere zur Linderung der Noth der leidenden Classen, aber auch viel Unklarheit und Mangel an Energie in der Wahl und Anwendung der zur Erreichung solcher Zwecke erforderlichen Mittel, in den untersten Schichten der Gesellschaft eine überwältigende Stumpfheit. Rohheit und Leichtfertigkeit und selbst in den obern nur schwache Spuren eines thatkräftigen Associationsgelstes. Immer¬ hin jedoch zeigt uns das Deutschland des 18. Jahrhunderts das Bild einer Bewegung, welche nicht mehr die eines tiefen Herabstnkens von einer behaup¬ teten Höh.e ist, wie jene des 17. Jahrhunderts, sondern einer Wiedererhebung und Verjüngung, einer Vorbereitung und Grundlegung zu jenen gewaltigen Entwicklungen aus allen Gebieten des nationalen Lebens, dem politischen, dem gewerblichen, dem socialen, welche zu zeitigen unserm Jahrhundert theils schon beschieden war. theils, so hoffen wir. noch beschicken sein wird." — Wir werden in einem dritten Artikel ans das geistige Leben kommen, welches uns der zweite Band schildert. 63'

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/507
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/507>, abgerufen am 21.12.2024.