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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Johannes von Müller und seine Zeit,
i.

Auf jeden, der nicht an der bloßen Zerstörung seine Freude hat, macht
der Eifer und die Hast, mit der wir die anerzogene Ehrfurcht von den ge-
feierten Größen unseres Vaterlandes von uns abstreifen, mitunter einen pein¬
lichen Eindruck. Je weniger man den Einfluß dieser Neigung von sich ab¬
wehren kann, je tiefer man insgeheim ihre Berechtigung empfindet, desto
unwilliger ist man gegen diejenigen, die das nothwendige Nebcrgangswerk
vollziehen. Fassen wir das Jahrhundert, welches mit dem Sturz der
Gotschedschen Schule beginnt und sich bis zu den Wehen der Julirevolution hin¬
zieht, in ein allgemeines Bild, so finden wir zwar die Farben, welche Frau
von Staöl anwendet, nicht ganz getroffen: es sah nicht ganz so träumerisch
und nebelhaft bei uns aus, wie es der geistreichen Französin vorkam. Aber
das Zeitalter erscheint uns doch beinah so fremd wie das sein ausgeführte
Bild in jenem merkwürdigem Buch. Die Schriftsteller wetteiferten mit dem
Publicum, für die Gestalten der eignen Phantasie und für alles Große, was
jemals geschaffen war, Andacht und Begeisterung zu empfinden. Man scheute
sich nicht, was augenblicklich die Seele bewegte, lebhaft auszusprechen und
für seine geheimsten Herzensergießungen bei aller Welt eine verwandte Stim¬
mung vorauszusetzen. Man glaubte nicht unbedingt an den dreieinigen Gott,
aber in erhöhter Stimmung glaubte man an alles! jede neue Idee fand ihre
Apostel und ihre Gläubigen. Die Kindlichkeit der schönen Seelen ging zu¬
weilen ius Kindische über, und je unbefangener man sich forttragen ließ vom Strom
des allmächtigen Gemüths, desto unreifer war nicht selten, was man in seinen
Irrfahrten gewann: der harte männliche Ernst, der allein ein Volk dauernd
vorwärts bringt, bildet sich nicht aus, wenn das Gefühl jedem neuen Ein¬
druck offen steht, und was keinen Widerstand findet, übt auch nicht die Kraft.
Aber es war viel Farbe in dieser liebenswürdigen Zeit, und wenn wir über
ihre Leistungen nicht ganz so denken wie ehemals, so können wir sie doch
nicht ohne Rührung betrachten, nicht ohne den beklemmenden Zweifel, ob das,
was wir an ihre Stelle gesetzt, gleich geeignet ist, das Glück der Menschen
und den Schatz ihrer Ideen,.?," vermehren. Gleichviel! Die Empörung gegen


Grenzboten II. 1838. ^
Johannes von Müller und seine Zeit,
i.

Auf jeden, der nicht an der bloßen Zerstörung seine Freude hat, macht
der Eifer und die Hast, mit der wir die anerzogene Ehrfurcht von den ge-
feierten Größen unseres Vaterlandes von uns abstreifen, mitunter einen pein¬
lichen Eindruck. Je weniger man den Einfluß dieser Neigung von sich ab¬
wehren kann, je tiefer man insgeheim ihre Berechtigung empfindet, desto
unwilliger ist man gegen diejenigen, die das nothwendige Nebcrgangswerk
vollziehen. Fassen wir das Jahrhundert, welches mit dem Sturz der
Gotschedschen Schule beginnt und sich bis zu den Wehen der Julirevolution hin¬
zieht, in ein allgemeines Bild, so finden wir zwar die Farben, welche Frau
von Staöl anwendet, nicht ganz getroffen: es sah nicht ganz so träumerisch
und nebelhaft bei uns aus, wie es der geistreichen Französin vorkam. Aber
das Zeitalter erscheint uns doch beinah so fremd wie das sein ausgeführte
Bild in jenem merkwürdigem Buch. Die Schriftsteller wetteiferten mit dem
Publicum, für die Gestalten der eignen Phantasie und für alles Große, was
jemals geschaffen war, Andacht und Begeisterung zu empfinden. Man scheute
sich nicht, was augenblicklich die Seele bewegte, lebhaft auszusprechen und
für seine geheimsten Herzensergießungen bei aller Welt eine verwandte Stim¬
mung vorauszusetzen. Man glaubte nicht unbedingt an den dreieinigen Gott,
aber in erhöhter Stimmung glaubte man an alles! jede neue Idee fand ihre
Apostel und ihre Gläubigen. Die Kindlichkeit der schönen Seelen ging zu¬
weilen ius Kindische über, und je unbefangener man sich forttragen ließ vom Strom
des allmächtigen Gemüths, desto unreifer war nicht selten, was man in seinen
Irrfahrten gewann: der harte männliche Ernst, der allein ein Volk dauernd
vorwärts bringt, bildet sich nicht aus, wenn das Gefühl jedem neuen Ein¬
druck offen steht, und was keinen Widerstand findet, übt auch nicht die Kraft.
Aber es war viel Farbe in dieser liebenswürdigen Zeit, und wenn wir über
ihre Leistungen nicht ganz so denken wie ehemals, so können wir sie doch
nicht ohne Rührung betrachten, nicht ohne den beklemmenden Zweifel, ob das,
was wir an ihre Stelle gesetzt, gleich geeignet ist, das Glück der Menschen
und den Schatz ihrer Ideen,.?,« vermehren. Gleichviel! Die Empörung gegen


Grenzboten II. 1838. ^
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[0049] Johannes von Müller und seine Zeit, i. Auf jeden, der nicht an der bloßen Zerstörung seine Freude hat, macht der Eifer und die Hast, mit der wir die anerzogene Ehrfurcht von den ge- feierten Größen unseres Vaterlandes von uns abstreifen, mitunter einen pein¬ lichen Eindruck. Je weniger man den Einfluß dieser Neigung von sich ab¬ wehren kann, je tiefer man insgeheim ihre Berechtigung empfindet, desto unwilliger ist man gegen diejenigen, die das nothwendige Nebcrgangswerk vollziehen. Fassen wir das Jahrhundert, welches mit dem Sturz der Gotschedschen Schule beginnt und sich bis zu den Wehen der Julirevolution hin¬ zieht, in ein allgemeines Bild, so finden wir zwar die Farben, welche Frau von Staöl anwendet, nicht ganz getroffen: es sah nicht ganz so träumerisch und nebelhaft bei uns aus, wie es der geistreichen Französin vorkam. Aber das Zeitalter erscheint uns doch beinah so fremd wie das sein ausgeführte Bild in jenem merkwürdigem Buch. Die Schriftsteller wetteiferten mit dem Publicum, für die Gestalten der eignen Phantasie und für alles Große, was jemals geschaffen war, Andacht und Begeisterung zu empfinden. Man scheute sich nicht, was augenblicklich die Seele bewegte, lebhaft auszusprechen und für seine geheimsten Herzensergießungen bei aller Welt eine verwandte Stim¬ mung vorauszusetzen. Man glaubte nicht unbedingt an den dreieinigen Gott, aber in erhöhter Stimmung glaubte man an alles! jede neue Idee fand ihre Apostel und ihre Gläubigen. Die Kindlichkeit der schönen Seelen ging zu¬ weilen ius Kindische über, und je unbefangener man sich forttragen ließ vom Strom des allmächtigen Gemüths, desto unreifer war nicht selten, was man in seinen Irrfahrten gewann: der harte männliche Ernst, der allein ein Volk dauernd vorwärts bringt, bildet sich nicht aus, wenn das Gefühl jedem neuen Ein¬ druck offen steht, und was keinen Widerstand findet, übt auch nicht die Kraft. Aber es war viel Farbe in dieser liebenswürdigen Zeit, und wenn wir über ihre Leistungen nicht ganz so denken wie ehemals, so können wir sie doch nicht ohne Rührung betrachten, nicht ohne den beklemmenden Zweifel, ob das, was wir an ihre Stelle gesetzt, gleich geeignet ist, das Glück der Menschen und den Schatz ihrer Ideen,.?,« vermehren. Gleichviel! Die Empörung gegen Grenzboten II. 1838. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/49>, abgerufen am 21.12.2024.