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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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der Zeitgeist auf seine Seite gestellt, aber durch seinen Abfall hatte er die
Gunst des Volkes verscherzt. Zu erklären ist es, denn er haßte in der
Revolution nur den Bildersturm; sobald sie sich selbst in ein imponirendes
Bild krystallisirte, wie in Napoleon, trat sie ihm mit der Gewalt einer zwin¬
genden Thatsache gegenüber, -- In der Wissenschaft dagegen wurde die Kritik,
die bisher nur der Theologie gegolten hatte, nach allen Richtungen die herr¬
schende. Die Schule Wolff und Niebuhrs verdrängte den Chronikenstil aus
dem Gebiet der Gelehrsamkeit und es ist den Führern kaum zu verargen,
wenn sie in Müller den zurückgebliebenen Standpunkt härter als nöthig be¬
tonten. -- Bald darauf erhob die zweite Feindin Müllers, die Philosophie
der Geschichte, siegreich ihre Fahne; sonst in allen Punkten uneins, stimmten
sie in ihrer Geringschätzung gegen den naiven Erzähler, gegen den moralisi-
renden Redner überein. Heute wird man wol kaum Anstand nehmen, häufig
auf Müllers Seite zu treten, da man die Thatsachen nicht mehr aus der Luft
greift, da man auf der andern Seite die Kritik nicht mehr als Zweck, sondern
als Mittel betrachtet; mau wird es um so mehr, da viele allgemeine Gesichts¬
punkte bei Müller viel schärfer und gründlicher festgestellt sind, als bei den
Metaphysikern.

Müllers Geschick war ein tragisches. Wir haben nachgewiesen, daß sein
letzter Abfall in seinem Leben keineswegs vereinzelt dasteht, daß er niemand
wundern kann, der seine frühere Art zu sein und zu empfinden aufmerksam
beobachtet. Und doch spielt in solchen Dingen der Zufall eine große Rolle.
Es war ein Zufall, daß Müller nach der Schlacht bei Jena keine Postpferoe
fand, die ihn nach Königsberg brachten: wäre das geschehen, so wäre viel¬
leicht sein Abfall verhindert worden, er hätte bei der neu gegründeten Uni¬
versität Berlin unter den ersten Gelehrten der deutschen Nation eine seiner
würdige Stelle gefunden, ja er wäre vielleicht unter allen der populärste ge¬
worden, denn dieser seltene Umfang des Wissens, diese liebenswürdige Em-
pfänglichkeit für jung aufstrebende Talente, diese mächtige und zeitgemäße Be¬
redsamkeit wurden durch einen fest gegründeten Namen getragen; man hätte
nach den Befreiungskriegen Müller als den Propheten verehrt, und erst nach
langen Jahren Hütten scharfsichtige Kritiker die Flecken dieses Sonnenkörpers
entdeckt. Die Vorsehung wollte es anders, sie leitete es so, daß die letzte
That des Lebens dem Charakter angemessen war und ließ sogleich eine furcht¬
bare erschütternde Nemesis daraus eintreten, sie handelte gleichsam mit der
innern Nothwendigkeit einer tragischen Dichtung. Wir verehren ihren Sinn
und ihre Folgerichtigkeit, aber wir können uns dabei eines schmerzlichen Ge¬
fühls doch nicht erwehren.




der Zeitgeist auf seine Seite gestellt, aber durch seinen Abfall hatte er die
Gunst des Volkes verscherzt. Zu erklären ist es, denn er haßte in der
Revolution nur den Bildersturm; sobald sie sich selbst in ein imponirendes
Bild krystallisirte, wie in Napoleon, trat sie ihm mit der Gewalt einer zwin¬
genden Thatsache gegenüber, — In der Wissenschaft dagegen wurde die Kritik,
die bisher nur der Theologie gegolten hatte, nach allen Richtungen die herr¬
schende. Die Schule Wolff und Niebuhrs verdrängte den Chronikenstil aus
dem Gebiet der Gelehrsamkeit und es ist den Führern kaum zu verargen,
wenn sie in Müller den zurückgebliebenen Standpunkt härter als nöthig be¬
tonten. — Bald darauf erhob die zweite Feindin Müllers, die Philosophie
der Geschichte, siegreich ihre Fahne; sonst in allen Punkten uneins, stimmten
sie in ihrer Geringschätzung gegen den naiven Erzähler, gegen den moralisi-
renden Redner überein. Heute wird man wol kaum Anstand nehmen, häufig
auf Müllers Seite zu treten, da man die Thatsachen nicht mehr aus der Luft
greift, da man auf der andern Seite die Kritik nicht mehr als Zweck, sondern
als Mittel betrachtet; mau wird es um so mehr, da viele allgemeine Gesichts¬
punkte bei Müller viel schärfer und gründlicher festgestellt sind, als bei den
Metaphysikern.

Müllers Geschick war ein tragisches. Wir haben nachgewiesen, daß sein
letzter Abfall in seinem Leben keineswegs vereinzelt dasteht, daß er niemand
wundern kann, der seine frühere Art zu sein und zu empfinden aufmerksam
beobachtet. Und doch spielt in solchen Dingen der Zufall eine große Rolle.
Es war ein Zufall, daß Müller nach der Schlacht bei Jena keine Postpferoe
fand, die ihn nach Königsberg brachten: wäre das geschehen, so wäre viel¬
leicht sein Abfall verhindert worden, er hätte bei der neu gegründeten Uni¬
versität Berlin unter den ersten Gelehrten der deutschen Nation eine seiner
würdige Stelle gefunden, ja er wäre vielleicht unter allen der populärste ge¬
worden, denn dieser seltene Umfang des Wissens, diese liebenswürdige Em-
pfänglichkeit für jung aufstrebende Talente, diese mächtige und zeitgemäße Be¬
redsamkeit wurden durch einen fest gegründeten Namen getragen; man hätte
nach den Befreiungskriegen Müller als den Propheten verehrt, und erst nach
langen Jahren Hütten scharfsichtige Kritiker die Flecken dieses Sonnenkörpers
entdeckt. Die Vorsehung wollte es anders, sie leitete es so, daß die letzte
That des Lebens dem Charakter angemessen war und ließ sogleich eine furcht¬
bare erschütternde Nemesis daraus eintreten, sie handelte gleichsam mit der
innern Nothwendigkeit einer tragischen Dichtung. Wir verehren ihren Sinn
und ihre Folgerichtigkeit, aber wir können uns dabei eines schmerzlichen Ge¬
fühls doch nicht erwehren.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/472>, abgerufen am 22.12.2024.