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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Kreisen zu leben! -- Wie soll man solche Dinge erklären? Wurde Ihr Heller
Geist urplötzlich so grausam verfinstert, daß Sie das, was Ihnen kaum sechs
Monate zuvor in seiner ganzen Mscheulicht'eit erschien, heute für wohlthätig
und ehrenvoll halten? Oder verleitete Sie irgend ein schnödes Interesse,
irgend eine niedrige knechtische Furcht, wider bessere Ueberzeugung zu schreiben?
Nach einer oder der andern Hypothese wird das Urtheil der Zeitgenossen
greifen. Was mich betrifft, so schmeichele ich mir, Sie tiefer durchschaut zu
haben. Die ganze Zusammensetzung Ihres Wesens ist ein sonderbarer Mi߬
griff der Natur, die einen Kops von außerordentlicher Stärke zu einer der kraft¬
losesten Seelen gesellte. Die Masse von vortrefflichen Gedanken, von sinn¬
reichen und oft tiefen Combinationen, die seit 20 Jahren durch Ihre Feder
gegangen, schien sich blos für andere zu entwickeln, in Ihnen felbst hat
nichts haften, nichts Wurzel schlagen tonnen. Sie sind und bleiben das
Spiel jedes zufällig vorübergehenden Eindrucks. Stets bereit, alles anzu¬
erkennen, alles gelten zu lassen, alles zu umfassen, sich gleichsam mit allem
zu vermählen, was nur irgend in Ihre Nachbarschaft tritt, konnten Sie nie
zu einem gründlichen Haß oder zu einer gründlichen Anhänglichkeit gelangen.
Wenn der Teufel in Person auf Erden erschien, ich wiese ihm die Mittel
nach, in 2-1^ Stunden, ein Bündnis; mit Ihnen zu schließen.') Die wahre
Quelle Ihrer jetzigen Verirrung ist blos, daß Sie, von allen Guten getrennt,
von Schwachköpfen oder Schurken umringt, nichts mehr sahen noch hörten
als das Böse. Wenn Sie sich entschließen konnten Berlin aufzugeben, so
waren Sie wahrscheinlich gerettet. Ihre eigentliche Strafbarkeit liegt in
Ihrem Bleiben; alles klebrige war eine unvermeidliche Folge davon. --
Glauben Sie nicht, daß ich diesen harten Brief ohne die lebhaftesten Schmerzen
geschrieben habe. Ob ich Sie zu schätzen gewußt, mag Ihr Herz, mag die
Vergangenheit Ihnen sagen. Ich fühle, was es heißt. Sie verlieren. Als
Streiter für eine geheiligte Sache spreche ich über ihre frevelhafte Apostasie
ein unerbittliches Verdammungsurtheil; als Mensch, als Ihr ehemaliger
Freund empfinde ich nichts als Mitleid; Sie zu chasser ist mehr als ich ver¬
mag. Wenn Gott unsere Wünsche erfüllt und meine und anderer Gleich¬
gesinnten Bemühung krönt. so wartet Ihrer nur eine einzige Strafe; aber
diese ist von allmächtigen Gewicht: die Ordnung und die Gesetze werden
zurückkehren; die Räuber und der Usurpator werden fallen; Deutschland
wird wieder frei und glücklich und geehrt unter weisen Regenten empor¬
blühen!"

Goethe, der Müllers Talent wahrhaft achtete, durch die allgemeine



') M. selbst schreibt 25. Aug. 18081 .>>ü ^ <int!"al. I"ieu Mowauü av vommsuevr xw-
"upixiser Wut I" immäcs Iion, av mo "-6or est Komme, et'u,M8 ävs äounvos iusuküs-ins.
j'ins -- I". äoulsm- Aos üvoouvortt!" -- vt xosvitot mo t'evisse Komioem!

Kreisen zu leben! — Wie soll man solche Dinge erklären? Wurde Ihr Heller
Geist urplötzlich so grausam verfinstert, daß Sie das, was Ihnen kaum sechs
Monate zuvor in seiner ganzen Mscheulicht'eit erschien, heute für wohlthätig
und ehrenvoll halten? Oder verleitete Sie irgend ein schnödes Interesse,
irgend eine niedrige knechtische Furcht, wider bessere Ueberzeugung zu schreiben?
Nach einer oder der andern Hypothese wird das Urtheil der Zeitgenossen
greifen. Was mich betrifft, so schmeichele ich mir, Sie tiefer durchschaut zu
haben. Die ganze Zusammensetzung Ihres Wesens ist ein sonderbarer Mi߬
griff der Natur, die einen Kops von außerordentlicher Stärke zu einer der kraft¬
losesten Seelen gesellte. Die Masse von vortrefflichen Gedanken, von sinn¬
reichen und oft tiefen Combinationen, die seit 20 Jahren durch Ihre Feder
gegangen, schien sich blos für andere zu entwickeln, in Ihnen felbst hat
nichts haften, nichts Wurzel schlagen tonnen. Sie sind und bleiben das
Spiel jedes zufällig vorübergehenden Eindrucks. Stets bereit, alles anzu¬
erkennen, alles gelten zu lassen, alles zu umfassen, sich gleichsam mit allem
zu vermählen, was nur irgend in Ihre Nachbarschaft tritt, konnten Sie nie
zu einem gründlichen Haß oder zu einer gründlichen Anhänglichkeit gelangen.
Wenn der Teufel in Person auf Erden erschien, ich wiese ihm die Mittel
nach, in 2-1^ Stunden, ein Bündnis; mit Ihnen zu schließen.') Die wahre
Quelle Ihrer jetzigen Verirrung ist blos, daß Sie, von allen Guten getrennt,
von Schwachköpfen oder Schurken umringt, nichts mehr sahen noch hörten
als das Böse. Wenn Sie sich entschließen konnten Berlin aufzugeben, so
waren Sie wahrscheinlich gerettet. Ihre eigentliche Strafbarkeit liegt in
Ihrem Bleiben; alles klebrige war eine unvermeidliche Folge davon. —
Glauben Sie nicht, daß ich diesen harten Brief ohne die lebhaftesten Schmerzen
geschrieben habe. Ob ich Sie zu schätzen gewußt, mag Ihr Herz, mag die
Vergangenheit Ihnen sagen. Ich fühle, was es heißt. Sie verlieren. Als
Streiter für eine geheiligte Sache spreche ich über ihre frevelhafte Apostasie
ein unerbittliches Verdammungsurtheil; als Mensch, als Ihr ehemaliger
Freund empfinde ich nichts als Mitleid; Sie zu chasser ist mehr als ich ver¬
mag. Wenn Gott unsere Wünsche erfüllt und meine und anderer Gleich¬
gesinnten Bemühung krönt. so wartet Ihrer nur eine einzige Strafe; aber
diese ist von allmächtigen Gewicht: die Ordnung und die Gesetze werden
zurückkehren; die Räuber und der Usurpator werden fallen; Deutschland
wird wieder frei und glücklich und geehrt unter weisen Regenten empor¬
blühen!"

Goethe, der Müllers Talent wahrhaft achtete, durch die allgemeine



') M. selbst schreibt 25. Aug. 18081 .>>ü ^ <int!»al. I»ieu Mowauü av vommsuevr xw-
«upixiser Wut I« immäcs Iion, av mo «-6or est Komme, et'u,M8 ävs äounvos iusuküs-ins.
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[0434] Kreisen zu leben! — Wie soll man solche Dinge erklären? Wurde Ihr Heller Geist urplötzlich so grausam verfinstert, daß Sie das, was Ihnen kaum sechs Monate zuvor in seiner ganzen Mscheulicht'eit erschien, heute für wohlthätig und ehrenvoll halten? Oder verleitete Sie irgend ein schnödes Interesse, irgend eine niedrige knechtische Furcht, wider bessere Ueberzeugung zu schreiben? Nach einer oder der andern Hypothese wird das Urtheil der Zeitgenossen greifen. Was mich betrifft, so schmeichele ich mir, Sie tiefer durchschaut zu haben. Die ganze Zusammensetzung Ihres Wesens ist ein sonderbarer Mi߬ griff der Natur, die einen Kops von außerordentlicher Stärke zu einer der kraft¬ losesten Seelen gesellte. Die Masse von vortrefflichen Gedanken, von sinn¬ reichen und oft tiefen Combinationen, die seit 20 Jahren durch Ihre Feder gegangen, schien sich blos für andere zu entwickeln, in Ihnen felbst hat nichts haften, nichts Wurzel schlagen tonnen. Sie sind und bleiben das Spiel jedes zufällig vorübergehenden Eindrucks. Stets bereit, alles anzu¬ erkennen, alles gelten zu lassen, alles zu umfassen, sich gleichsam mit allem zu vermählen, was nur irgend in Ihre Nachbarschaft tritt, konnten Sie nie zu einem gründlichen Haß oder zu einer gründlichen Anhänglichkeit gelangen. Wenn der Teufel in Person auf Erden erschien, ich wiese ihm die Mittel nach, in 2-1^ Stunden, ein Bündnis; mit Ihnen zu schließen.') Die wahre Quelle Ihrer jetzigen Verirrung ist blos, daß Sie, von allen Guten getrennt, von Schwachköpfen oder Schurken umringt, nichts mehr sahen noch hörten als das Böse. Wenn Sie sich entschließen konnten Berlin aufzugeben, so waren Sie wahrscheinlich gerettet. Ihre eigentliche Strafbarkeit liegt in Ihrem Bleiben; alles klebrige war eine unvermeidliche Folge davon. — Glauben Sie nicht, daß ich diesen harten Brief ohne die lebhaftesten Schmerzen geschrieben habe. Ob ich Sie zu schätzen gewußt, mag Ihr Herz, mag die Vergangenheit Ihnen sagen. Ich fühle, was es heißt. Sie verlieren. Als Streiter für eine geheiligte Sache spreche ich über ihre frevelhafte Apostasie ein unerbittliches Verdammungsurtheil; als Mensch, als Ihr ehemaliger Freund empfinde ich nichts als Mitleid; Sie zu chasser ist mehr als ich ver¬ mag. Wenn Gott unsere Wünsche erfüllt und meine und anderer Gleich¬ gesinnten Bemühung krönt. so wartet Ihrer nur eine einzige Strafe; aber diese ist von allmächtigen Gewicht: die Ordnung und die Gesetze werden zurückkehren; die Räuber und der Usurpator werden fallen; Deutschland wird wieder frei und glücklich und geehrt unter weisen Regenten empor¬ blühen!" Goethe, der Müllers Talent wahrhaft achtete, durch die allgemeine ') M. selbst schreibt 25. Aug. 18081 .>>ü ^ <int!»al. I»ieu Mowauü av vommsuevr xw- «upixiser Wut I« immäcs Iion, av mo «-6or est Komme, et'u,M8 ävs äounvos iusuküs-ins. j'ins — I». äoulsm- Aos üvoouvortt!« — vt xosvitot mo t'evisse Komioem!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/434>, abgerufen am 22.12.2024.