Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dort genoß, als jetzt. Indeß es trieb ihn unwiderstehlich zur Medicin und
so wurde er 1808 unter allgemeiner Belobigung graduirt. Wenn er freilich
damals noch nicht wußte, was ein Muskel war, so ging es ihm wie den
Professoren; denn die Medicin war damals ohne Anatomie und Chirurgie er¬
lernbar. Aber der junge Mann, ernst und geschlossen, fühlte das wohl. Er
ging in die Praxis nach Cumnna, um sich die Mittel zu weiterer Ausbildung
in Europa zu verdienen, und studirte dann mehre Jahre in London und
Edinburg. Ueber Spanien 1818 nach Amerika zurückgekehrt, prakticirte er
in Porto-Rico und wandte sich wieder seinem Vaterlande zu. als die Fesseln
völlig gebrochen waren und eine scheinbar verheißende Zukunft sich aufthat.
Bolivar übertrug ihm die Organisation der Universität, die Gründung einer
medicinischen Facultät und setzte, um auch hierin dem Zopf ein Ende zu
machen, durch, daß der Mediciner Rector wurde. Obgleich die Praxis ihm
äußerst lucrativ gewesen wäre, so widmete sich der patriotische Vargas fortan
doch überwiegend der Bildung der Jugend und erwarb sich um das ganze
Erziehungswesen Verdienste. -- Die Constituante von 1830 erwählte Vargas
zu ihrem Vorsitzenden und machte seinen Namen weiter hinaus ins Land be¬
kannt. Ihm kam es zu, das Decret zu unterzeichnen, welches die militärischen
Vorrechte aufhob. Die Drohungen, der Aufruhr an den Thüren des Sitzungs-
locales scheiterten an der Besonnenheit und Festigkeit des Vorsitzenden. Aber
die mißvergnügten Veteranen der Armee warteten nur auf die neuen Wahlen,
um. da Paez unmittelbar nicht wieder gewählt werden konnte, die Militär¬
macht wieder ans Nuder zu bringen. Der Kampf wurde heiß; denn es handelte
sich um die Zukunft beider Parteien, ja der Konstitution, und die volle Frei¬
heit der Presse konnte nur zur Entfesselung der Leidenschaften beitragen.
Schon damals zeigte sich, daß das Volk solcher Freiheiten nicht mächtig war.
Persönliche Beleidigungen, gemeine Angriffe. Verdächtigungen .'c. tobten sich
in den Tagesblättern aus und verwandelten die Presse in einen Tummelplatz
von Anklagen, in denen auch der anerkannte Edelsinn eines Paez in den Koth
getreten wurde. Vargas, in mehr als einer Beziehung das Gegenbild seiner
Mitbürger, lebte unterdessen ganz seinem Berufe und seinen Studien. Fern
von der Eitelkeit, die dem Unwissenden eignet, von der Anmaßung, die in
Unkenntnis; der Aufgaben ihre Kraft verkennt, erhaben über kleinlichen Partei¬
streit, hatte er in seiner natürlichen Bescheidenheit nicht entfernt an den Prä-
sidentcnsitz gedacht. Als er aber beim Beginn der Wahlagitationen hörte,
daß man seinen Namen nannte; als er, meinend, man wolle ihn lächerlich
machen, sich überzeugte, daß er der Kandidat eines großen Theils seiner Mit¬
bürger wäre: suchte er, in seinem Gewissen gebunden und klar darüber, daß
er aus Mangel theils an Fähigkeit, theils an moralischem Gewicht nicht der
Mann der Situation sei, erst privatim ihnen diese "exotische" Idee zunehmen,


dort genoß, als jetzt. Indeß es trieb ihn unwiderstehlich zur Medicin und
so wurde er 1808 unter allgemeiner Belobigung graduirt. Wenn er freilich
damals noch nicht wußte, was ein Muskel war, so ging es ihm wie den
Professoren; denn die Medicin war damals ohne Anatomie und Chirurgie er¬
lernbar. Aber der junge Mann, ernst und geschlossen, fühlte das wohl. Er
ging in die Praxis nach Cumnna, um sich die Mittel zu weiterer Ausbildung
in Europa zu verdienen, und studirte dann mehre Jahre in London und
Edinburg. Ueber Spanien 1818 nach Amerika zurückgekehrt, prakticirte er
in Porto-Rico und wandte sich wieder seinem Vaterlande zu. als die Fesseln
völlig gebrochen waren und eine scheinbar verheißende Zukunft sich aufthat.
Bolivar übertrug ihm die Organisation der Universität, die Gründung einer
medicinischen Facultät und setzte, um auch hierin dem Zopf ein Ende zu
machen, durch, daß der Mediciner Rector wurde. Obgleich die Praxis ihm
äußerst lucrativ gewesen wäre, so widmete sich der patriotische Vargas fortan
doch überwiegend der Bildung der Jugend und erwarb sich um das ganze
Erziehungswesen Verdienste. — Die Constituante von 1830 erwählte Vargas
zu ihrem Vorsitzenden und machte seinen Namen weiter hinaus ins Land be¬
kannt. Ihm kam es zu, das Decret zu unterzeichnen, welches die militärischen
Vorrechte aufhob. Die Drohungen, der Aufruhr an den Thüren des Sitzungs-
locales scheiterten an der Besonnenheit und Festigkeit des Vorsitzenden. Aber
die mißvergnügten Veteranen der Armee warteten nur auf die neuen Wahlen,
um. da Paez unmittelbar nicht wieder gewählt werden konnte, die Militär¬
macht wieder ans Nuder zu bringen. Der Kampf wurde heiß; denn es handelte
sich um die Zukunft beider Parteien, ja der Konstitution, und die volle Frei¬
heit der Presse konnte nur zur Entfesselung der Leidenschaften beitragen.
Schon damals zeigte sich, daß das Volk solcher Freiheiten nicht mächtig war.
Persönliche Beleidigungen, gemeine Angriffe. Verdächtigungen .'c. tobten sich
in den Tagesblättern aus und verwandelten die Presse in einen Tummelplatz
von Anklagen, in denen auch der anerkannte Edelsinn eines Paez in den Koth
getreten wurde. Vargas, in mehr als einer Beziehung das Gegenbild seiner
Mitbürger, lebte unterdessen ganz seinem Berufe und seinen Studien. Fern
von der Eitelkeit, die dem Unwissenden eignet, von der Anmaßung, die in
Unkenntnis; der Aufgaben ihre Kraft verkennt, erhaben über kleinlichen Partei¬
streit, hatte er in seiner natürlichen Bescheidenheit nicht entfernt an den Prä-
sidentcnsitz gedacht. Als er aber beim Beginn der Wahlagitationen hörte,
daß man seinen Namen nannte; als er, meinend, man wolle ihn lächerlich
machen, sich überzeugte, daß er der Kandidat eines großen Theils seiner Mit¬
bürger wäre: suchte er, in seinem Gewissen gebunden und klar darüber, daß
er aus Mangel theils an Fähigkeit, theils an moralischem Gewicht nicht der
Mann der Situation sei, erst privatim ihnen diese „exotische" Idee zunehmen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0404" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186817"/>
              <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916" next="#ID_918"> dort genoß, als jetzt. Indeß es trieb ihn unwiderstehlich zur Medicin und<lb/>
so wurde er 1808 unter allgemeiner Belobigung graduirt. Wenn er freilich<lb/>
damals noch nicht wußte, was ein Muskel war, so ging es ihm wie den<lb/>
Professoren; denn die Medicin war damals ohne Anatomie und Chirurgie er¬<lb/>
lernbar. Aber der junge Mann, ernst und geschlossen, fühlte das wohl. Er<lb/>
ging in die Praxis nach Cumnna, um sich die Mittel zu weiterer Ausbildung<lb/>
in Europa zu verdienen, und studirte dann mehre Jahre in London und<lb/>
Edinburg. Ueber Spanien 1818 nach Amerika zurückgekehrt, prakticirte er<lb/>
in Porto-Rico und wandte sich wieder seinem Vaterlande zu. als die Fesseln<lb/>
völlig gebrochen waren und eine scheinbar verheißende Zukunft sich aufthat.<lb/>
Bolivar übertrug ihm die Organisation der Universität, die Gründung einer<lb/>
medicinischen Facultät und setzte, um auch hierin dem Zopf ein Ende zu<lb/>
machen, durch, daß der Mediciner Rector wurde. Obgleich die Praxis ihm<lb/>
äußerst lucrativ gewesen wäre, so widmete sich der patriotische Vargas fortan<lb/>
doch überwiegend der Bildung der Jugend und erwarb sich um das ganze<lb/>
Erziehungswesen Verdienste. &#x2014; Die Constituante von 1830 erwählte Vargas<lb/>
zu ihrem Vorsitzenden und machte seinen Namen weiter hinaus ins Land be¬<lb/>
kannt. Ihm kam es zu, das Decret zu unterzeichnen, welches die militärischen<lb/>
Vorrechte aufhob. Die Drohungen, der Aufruhr an den Thüren des Sitzungs-<lb/>
locales scheiterten an der Besonnenheit und Festigkeit des Vorsitzenden. Aber<lb/>
die mißvergnügten Veteranen der Armee warteten nur auf die neuen Wahlen,<lb/>
um. da Paez unmittelbar nicht wieder gewählt werden konnte, die Militär¬<lb/>
macht wieder ans Nuder zu bringen. Der Kampf wurde heiß; denn es handelte<lb/>
sich um die Zukunft beider Parteien, ja der Konstitution, und die volle Frei¬<lb/>
heit der Presse konnte nur zur Entfesselung der Leidenschaften beitragen.<lb/>
Schon damals zeigte sich, daß das Volk solcher Freiheiten nicht mächtig war.<lb/>
Persönliche Beleidigungen, gemeine Angriffe. Verdächtigungen .'c. tobten sich<lb/>
in den Tagesblättern aus und verwandelten die Presse in einen Tummelplatz<lb/>
von Anklagen, in denen auch der anerkannte Edelsinn eines Paez in den Koth<lb/>
getreten wurde. Vargas, in mehr als einer Beziehung das Gegenbild seiner<lb/>
Mitbürger, lebte unterdessen ganz seinem Berufe und seinen Studien. Fern<lb/>
von der Eitelkeit, die dem Unwissenden eignet, von der Anmaßung, die in<lb/>
Unkenntnis; der Aufgaben ihre Kraft verkennt, erhaben über kleinlichen Partei¬<lb/>
streit, hatte er in seiner natürlichen Bescheidenheit nicht entfernt an den Prä-<lb/>
sidentcnsitz gedacht. Als er aber beim Beginn der Wahlagitationen hörte,<lb/>
daß man seinen Namen nannte; als er, meinend, man wolle ihn lächerlich<lb/>
machen, sich überzeugte, daß er der Kandidat eines großen Theils seiner Mit¬<lb/>
bürger wäre: suchte er, in seinem Gewissen gebunden und klar darüber, daß<lb/>
er aus Mangel theils an Fähigkeit, theils an moralischem Gewicht nicht der<lb/>
Mann der Situation sei, erst privatim ihnen diese &#x201E;exotische" Idee zunehmen,</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0404] dort genoß, als jetzt. Indeß es trieb ihn unwiderstehlich zur Medicin und so wurde er 1808 unter allgemeiner Belobigung graduirt. Wenn er freilich damals noch nicht wußte, was ein Muskel war, so ging es ihm wie den Professoren; denn die Medicin war damals ohne Anatomie und Chirurgie er¬ lernbar. Aber der junge Mann, ernst und geschlossen, fühlte das wohl. Er ging in die Praxis nach Cumnna, um sich die Mittel zu weiterer Ausbildung in Europa zu verdienen, und studirte dann mehre Jahre in London und Edinburg. Ueber Spanien 1818 nach Amerika zurückgekehrt, prakticirte er in Porto-Rico und wandte sich wieder seinem Vaterlande zu. als die Fesseln völlig gebrochen waren und eine scheinbar verheißende Zukunft sich aufthat. Bolivar übertrug ihm die Organisation der Universität, die Gründung einer medicinischen Facultät und setzte, um auch hierin dem Zopf ein Ende zu machen, durch, daß der Mediciner Rector wurde. Obgleich die Praxis ihm äußerst lucrativ gewesen wäre, so widmete sich der patriotische Vargas fortan doch überwiegend der Bildung der Jugend und erwarb sich um das ganze Erziehungswesen Verdienste. — Die Constituante von 1830 erwählte Vargas zu ihrem Vorsitzenden und machte seinen Namen weiter hinaus ins Land be¬ kannt. Ihm kam es zu, das Decret zu unterzeichnen, welches die militärischen Vorrechte aufhob. Die Drohungen, der Aufruhr an den Thüren des Sitzungs- locales scheiterten an der Besonnenheit und Festigkeit des Vorsitzenden. Aber die mißvergnügten Veteranen der Armee warteten nur auf die neuen Wahlen, um. da Paez unmittelbar nicht wieder gewählt werden konnte, die Militär¬ macht wieder ans Nuder zu bringen. Der Kampf wurde heiß; denn es handelte sich um die Zukunft beider Parteien, ja der Konstitution, und die volle Frei¬ heit der Presse konnte nur zur Entfesselung der Leidenschaften beitragen. Schon damals zeigte sich, daß das Volk solcher Freiheiten nicht mächtig war. Persönliche Beleidigungen, gemeine Angriffe. Verdächtigungen .'c. tobten sich in den Tagesblättern aus und verwandelten die Presse in einen Tummelplatz von Anklagen, in denen auch der anerkannte Edelsinn eines Paez in den Koth getreten wurde. Vargas, in mehr als einer Beziehung das Gegenbild seiner Mitbürger, lebte unterdessen ganz seinem Berufe und seinen Studien. Fern von der Eitelkeit, die dem Unwissenden eignet, von der Anmaßung, die in Unkenntnis; der Aufgaben ihre Kraft verkennt, erhaben über kleinlichen Partei¬ streit, hatte er in seiner natürlichen Bescheidenheit nicht entfernt an den Prä- sidentcnsitz gedacht. Als er aber beim Beginn der Wahlagitationen hörte, daß man seinen Namen nannte; als er, meinend, man wolle ihn lächerlich machen, sich überzeugte, daß er der Kandidat eines großen Theils seiner Mit¬ bürger wäre: suchte er, in seinem Gewissen gebunden und klar darüber, daß er aus Mangel theils an Fähigkeit, theils an moralischem Gewicht nicht der Mann der Situation sei, erst privatim ihnen diese „exotische" Idee zunehmen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/404
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/404>, abgerufen am 22.12.2024.