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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Form. Nützlichkeit dar. ohne Ideen und Leidenschaften -- eine Kirche, um
darin friedlich zu schlummern. Diejenigen, welche in diesen stillen Hallen
der Ruhe pflegen, verlangen nicht danach, in irgend einen Streit sich zu
mischen, das Aeußerste, was sie thun, wenn der Lärm um sie her zu arg
werdeu will, ist, für einen Augenblick den Kopf auszurichten, schlaftrunken
um sich her zu blicken und gegen jede Störung ihrer Andacht Protest ein-
zulegen.

Dritte Stufe: Das dickblütige Sektircrthum.

Sekten sind ein nothwendiges Uebel im Protestantismus. Sie scheinen
sein Leben zu bedrohen, indem sie ihn, einen Theil seiner Kräfte entziehen
und Spaltung über Spaltung in ihn hineintragen. Darum erheben die
protestantischen Priester aller Orten ihre Stimme so laut gegen Sektenwcsen
und verkündigen das "eine Herde und ein Hirte", als fochten sie für echten,
reinen "Papismus". Als läge die Macht und Wahrheit des Protestantismus
in Zahlen und Massen! Und als könnte das Anathema der Concilien wieder
ins Leben gerufen werden. Gewiß ist nichts unprotestantischer, als die Dra-
gonaden Louis XIV.. in welcher Form auch, innerhalb protestantischer Staaten
zu erneuern. Mit dem ersten wirksamen Protest der großen Reformation
kann die Sache nicht vollendet sein. Was jene Morgenstunden der neuen
Zeit beseelte, war ja nicht Widerspruch gegen eine bestimmte Person, gegen
ein paar Dogmen oder Kirchenregeln: es war der Bann, ausgesprochen
gegen das Erstarren und Berkalten kirchlicher Formen, aus denen der Geist
geschwunden war. Wie im menschlichen Körper der Proceß elementarischer
Wandlung und Erneuerung unaufhörlich vor sich geht, so will der menschliche
Geist nicht rasten und altern in einem ruhenden, alternden Leibe: er protestirt
gegen das träge Fleisch, das ihn gefangen halten will; er protestirt zu
Gunsten seiner ewigen Jugend und Frische gegen viles Stillstehen und Ein¬
schlafen. Er ist in einer beständigen Metamorphose. Wachsend, schwellend,
sich mit Inhalt und Feuer füllend, sprengt er von Zeit zu Zeit die Hülle,
streift die alte Haut ab, gleich den Schlangen der alten Fabel, und erscheint
plötzlich in einer neuen Gestalt. Solche große Frühlingsepochen feiert er
freilich nicht in jedem Jahrzehnt, aber das Menschlein, das das erhabene
Völkerfest nicht mit begehen darf, fühlt doch ein Bedürfniß, den Proceß
wenigstens im Kleinen durchzumachen. Seltirerei ist demnach, um noch einmal
ins Bild zu fallen, die Häutung der Raupen im Kohle.

Alle diese Wiedergeburten nun, die der großen, heiligen Schlange, wie die
ihrer im Gemüth lebenden Caricatur beruhen aus demselben Princip. Alle
Proteste der freien Kirche schöpfen Athem. Leben und Feuer aus dem Worte
der Bibel. Dieses wunderbare Denkmal, von unbekannten Händen mit
flammenden Charakteren in das Buch der Menschheit geschrieben, hat mehr


Form. Nützlichkeit dar. ohne Ideen und Leidenschaften — eine Kirche, um
darin friedlich zu schlummern. Diejenigen, welche in diesen stillen Hallen
der Ruhe pflegen, verlangen nicht danach, in irgend einen Streit sich zu
mischen, das Aeußerste, was sie thun, wenn der Lärm um sie her zu arg
werdeu will, ist, für einen Augenblick den Kopf auszurichten, schlaftrunken
um sich her zu blicken und gegen jede Störung ihrer Andacht Protest ein-
zulegen.

Dritte Stufe: Das dickblütige Sektircrthum.

Sekten sind ein nothwendiges Uebel im Protestantismus. Sie scheinen
sein Leben zu bedrohen, indem sie ihn, einen Theil seiner Kräfte entziehen
und Spaltung über Spaltung in ihn hineintragen. Darum erheben die
protestantischen Priester aller Orten ihre Stimme so laut gegen Sektenwcsen
und verkündigen das „eine Herde und ein Hirte", als fochten sie für echten,
reinen „Papismus". Als läge die Macht und Wahrheit des Protestantismus
in Zahlen und Massen! Und als könnte das Anathema der Concilien wieder
ins Leben gerufen werden. Gewiß ist nichts unprotestantischer, als die Dra-
gonaden Louis XIV.. in welcher Form auch, innerhalb protestantischer Staaten
zu erneuern. Mit dem ersten wirksamen Protest der großen Reformation
kann die Sache nicht vollendet sein. Was jene Morgenstunden der neuen
Zeit beseelte, war ja nicht Widerspruch gegen eine bestimmte Person, gegen
ein paar Dogmen oder Kirchenregeln: es war der Bann, ausgesprochen
gegen das Erstarren und Berkalten kirchlicher Formen, aus denen der Geist
geschwunden war. Wie im menschlichen Körper der Proceß elementarischer
Wandlung und Erneuerung unaufhörlich vor sich geht, so will der menschliche
Geist nicht rasten und altern in einem ruhenden, alternden Leibe: er protestirt
gegen das träge Fleisch, das ihn gefangen halten will; er protestirt zu
Gunsten seiner ewigen Jugend und Frische gegen viles Stillstehen und Ein¬
schlafen. Er ist in einer beständigen Metamorphose. Wachsend, schwellend,
sich mit Inhalt und Feuer füllend, sprengt er von Zeit zu Zeit die Hülle,
streift die alte Haut ab, gleich den Schlangen der alten Fabel, und erscheint
plötzlich in einer neuen Gestalt. Solche große Frühlingsepochen feiert er
freilich nicht in jedem Jahrzehnt, aber das Menschlein, das das erhabene
Völkerfest nicht mit begehen darf, fühlt doch ein Bedürfniß, den Proceß
wenigstens im Kleinen durchzumachen. Seltirerei ist demnach, um noch einmal
ins Bild zu fallen, die Häutung der Raupen im Kohle.

Alle diese Wiedergeburten nun, die der großen, heiligen Schlange, wie die
ihrer im Gemüth lebenden Caricatur beruhen aus demselben Princip. Alle
Proteste der freien Kirche schöpfen Athem. Leben und Feuer aus dem Worte
der Bibel. Dieses wunderbare Denkmal, von unbekannten Händen mit
flammenden Charakteren in das Buch der Menschheit geschrieben, hat mehr


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[0181] Form. Nützlichkeit dar. ohne Ideen und Leidenschaften — eine Kirche, um darin friedlich zu schlummern. Diejenigen, welche in diesen stillen Hallen der Ruhe pflegen, verlangen nicht danach, in irgend einen Streit sich zu mischen, das Aeußerste, was sie thun, wenn der Lärm um sie her zu arg werdeu will, ist, für einen Augenblick den Kopf auszurichten, schlaftrunken um sich her zu blicken und gegen jede Störung ihrer Andacht Protest ein- zulegen. Dritte Stufe: Das dickblütige Sektircrthum. Sekten sind ein nothwendiges Uebel im Protestantismus. Sie scheinen sein Leben zu bedrohen, indem sie ihn, einen Theil seiner Kräfte entziehen und Spaltung über Spaltung in ihn hineintragen. Darum erheben die protestantischen Priester aller Orten ihre Stimme so laut gegen Sektenwcsen und verkündigen das „eine Herde und ein Hirte", als fochten sie für echten, reinen „Papismus". Als läge die Macht und Wahrheit des Protestantismus in Zahlen und Massen! Und als könnte das Anathema der Concilien wieder ins Leben gerufen werden. Gewiß ist nichts unprotestantischer, als die Dra- gonaden Louis XIV.. in welcher Form auch, innerhalb protestantischer Staaten zu erneuern. Mit dem ersten wirksamen Protest der großen Reformation kann die Sache nicht vollendet sein. Was jene Morgenstunden der neuen Zeit beseelte, war ja nicht Widerspruch gegen eine bestimmte Person, gegen ein paar Dogmen oder Kirchenregeln: es war der Bann, ausgesprochen gegen das Erstarren und Berkalten kirchlicher Formen, aus denen der Geist geschwunden war. Wie im menschlichen Körper der Proceß elementarischer Wandlung und Erneuerung unaufhörlich vor sich geht, so will der menschliche Geist nicht rasten und altern in einem ruhenden, alternden Leibe: er protestirt gegen das träge Fleisch, das ihn gefangen halten will; er protestirt zu Gunsten seiner ewigen Jugend und Frische gegen viles Stillstehen und Ein¬ schlafen. Er ist in einer beständigen Metamorphose. Wachsend, schwellend, sich mit Inhalt und Feuer füllend, sprengt er von Zeit zu Zeit die Hülle, streift die alte Haut ab, gleich den Schlangen der alten Fabel, und erscheint plötzlich in einer neuen Gestalt. Solche große Frühlingsepochen feiert er freilich nicht in jedem Jahrzehnt, aber das Menschlein, das das erhabene Völkerfest nicht mit begehen darf, fühlt doch ein Bedürfniß, den Proceß wenigstens im Kleinen durchzumachen. Seltirerei ist demnach, um noch einmal ins Bild zu fallen, die Häutung der Raupen im Kohle. Alle diese Wiedergeburten nun, die der großen, heiligen Schlange, wie die ihrer im Gemüth lebenden Caricatur beruhen aus demselben Princip. Alle Proteste der freien Kirche schöpfen Athem. Leben und Feuer aus dem Worte der Bibel. Dieses wunderbare Denkmal, von unbekannten Händen mit flammenden Charakteren in das Buch der Menschheit geschrieben, hat mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/181>, abgerufen am 21.12.2024.