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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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fällt. Und sodann würde ja darin das Zugeständnis) des Irrthums, der Wider¬
ruf aller ihrer bisherigen Bestrebungen, ihres ganzen Lebens und Wirkens
liegen, das so viel Anerkennung von allen Seiten fand. Genossen doch die
belgischen Musteranstalten -- und sie sind es in vieler Beziehung -- eines euro¬
päischen Rufs und Fremde aus den verschiedensten Ländern besuchten sie, um davon
zu lernen. Und nun mit einem Male bekennen, daß man mit alledem nur dahin
gelangt ist, einen Abgrund unter den eignen Füßen auszuhöhlen, das ist in
der That zu viel verlangt. Daß aber dem wirklich so ist, unterliegt kaum
einem Zweifel. Denn wie, verdienstvoll auch ihre Leistungen auf dem Gebiet
der eigentlichen Armenpflege, in der Behandlung der sittlich Verwahrlosten und
Verbrecher sind, in ihren ivririW lrosxiees, den Ackerbaucolvnien, den
Gefangnen anstellten : so verkehrt und wirkungslos ist diese Richtung,
wo es sich um Aushilfe der arbeitenden Classen im Allgemeinen, um Verhütung
des weitern Umsichgreifens der Massenverarmung handelt. Mit der
Gründung einer solchen Menge von Bettlerpfründen schmälern sie ehrlicher
Arbeit den Lohn und ermuntern nur den Müßiggang, indem sie die Leute
gewöhnen, die öffentliche Unterstützung als etwas, dem sie im gewöhnlichen
Laufe der Dinge früher oder später ja doch anheimfallen, anzusprechen, wie
eine Art Stipendium, in welches man nach einer gewissen Anciennität einrückt,
und das in vielen Familien gradezu erblich wird. Es kann nicht fehlen, daß
die mittelst dieses Systems entfesselten bösen Geister den Meistern endlich über
den Kopf wachsen müssen, und daß man bis zu einem Punkte damit gelangt,
wo man entweder einlenken oder den öffentlichen Bankerott erklären muß.
Denn das ist die verhüngnißvollc Eigenschaft einer derartigen Wirksamkeit,
daß sie durch die Folge ihres eignen Thuns denen, für die sie berechnet ist, immer
unentbehrlicher wird. Weil sie die Massen der Selbsthilfe entwöhnt, sind diese
je länger desto mehr genöthigt, sich auf sie zu stützen, immer größere An¬
forderungen an sie zu machen. Natürlich, das Elend wächst mit der Pflege,
die man ihm angedeihen läßt. Nur durch Verstopfung seiner Quellen, durch
Erweckung der eignen Heilkraft in dem siechen Organismus wird es gehoben,
dagegen dienen das Almosen, die Unterstützung, die man ihm von dritter
Seite her angedeihen läßt, nur dazu, es groß zu säugen, bis es am Ende
den Wohlthäter selbst verschlingt. So ist denn auch der Verlauf der Dinge
in Belgien, und die demoralisirende Wirkung des Systems muß schon ziem¬
lich in die zahlreiche Arbeiterbevölkerung des so industriereichen Landes ein¬
gedrungen sein, weil wir, während überall in den Nachbarländern unter dieser
Classe die regste Bewegung herrscht, so wenig von selbstständigen Bestrebungen
der belgischen Arbeiter in dieser Richtung hören.

Von dem Congresse in seiner gegenwärtigen Verfassung also, von seinen
officiellen Kundgebungen haben die Associationen nicht viel zu erwarten, das


fällt. Und sodann würde ja darin das Zugeständnis) des Irrthums, der Wider¬
ruf aller ihrer bisherigen Bestrebungen, ihres ganzen Lebens und Wirkens
liegen, das so viel Anerkennung von allen Seiten fand. Genossen doch die
belgischen Musteranstalten — und sie sind es in vieler Beziehung — eines euro¬
päischen Rufs und Fremde aus den verschiedensten Ländern besuchten sie, um davon
zu lernen. Und nun mit einem Male bekennen, daß man mit alledem nur dahin
gelangt ist, einen Abgrund unter den eignen Füßen auszuhöhlen, das ist in
der That zu viel verlangt. Daß aber dem wirklich so ist, unterliegt kaum
einem Zweifel. Denn wie, verdienstvoll auch ihre Leistungen auf dem Gebiet
der eigentlichen Armenpflege, in der Behandlung der sittlich Verwahrlosten und
Verbrecher sind, in ihren ivririW lrosxiees, den Ackerbaucolvnien, den
Gefangnen anstellten : so verkehrt und wirkungslos ist diese Richtung,
wo es sich um Aushilfe der arbeitenden Classen im Allgemeinen, um Verhütung
des weitern Umsichgreifens der Massenverarmung handelt. Mit der
Gründung einer solchen Menge von Bettlerpfründen schmälern sie ehrlicher
Arbeit den Lohn und ermuntern nur den Müßiggang, indem sie die Leute
gewöhnen, die öffentliche Unterstützung als etwas, dem sie im gewöhnlichen
Laufe der Dinge früher oder später ja doch anheimfallen, anzusprechen, wie
eine Art Stipendium, in welches man nach einer gewissen Anciennität einrückt,
und das in vielen Familien gradezu erblich wird. Es kann nicht fehlen, daß
die mittelst dieses Systems entfesselten bösen Geister den Meistern endlich über
den Kopf wachsen müssen, und daß man bis zu einem Punkte damit gelangt,
wo man entweder einlenken oder den öffentlichen Bankerott erklären muß.
Denn das ist die verhüngnißvollc Eigenschaft einer derartigen Wirksamkeit,
daß sie durch die Folge ihres eignen Thuns denen, für die sie berechnet ist, immer
unentbehrlicher wird. Weil sie die Massen der Selbsthilfe entwöhnt, sind diese
je länger desto mehr genöthigt, sich auf sie zu stützen, immer größere An¬
forderungen an sie zu machen. Natürlich, das Elend wächst mit der Pflege,
die man ihm angedeihen läßt. Nur durch Verstopfung seiner Quellen, durch
Erweckung der eignen Heilkraft in dem siechen Organismus wird es gehoben,
dagegen dienen das Almosen, die Unterstützung, die man ihm von dritter
Seite her angedeihen läßt, nur dazu, es groß zu säugen, bis es am Ende
den Wohlthäter selbst verschlingt. So ist denn auch der Verlauf der Dinge
in Belgien, und die demoralisirende Wirkung des Systems muß schon ziem¬
lich in die zahlreiche Arbeiterbevölkerung des so industriereichen Landes ein¬
gedrungen sein, weil wir, während überall in den Nachbarländern unter dieser
Classe die regste Bewegung herrscht, so wenig von selbstständigen Bestrebungen
der belgischen Arbeiter in dieser Richtung hören.

Von dem Congresse in seiner gegenwärtigen Verfassung also, von seinen
officiellen Kundgebungen haben die Associationen nicht viel zu erwarten, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/133>, abgerufen am 30.12.2024.