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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Während mein Gefährte das Löwenthor zeichnete, gab ich mich der Stim¬
mung hin, welche die Erinnerung an die Urzeit von Argos weckte. In dieser
tiefgefurchten Wagenspur hatte ein Geschlecht sein Gedächtniß eingedrückt, wel¬
ches bis auf den hochleuchtendcn Völkerfürsten Agcunemnon eher einem Ge¬
schlecht von Dämonen als von Menschen glich. Aus dieser Pforte quoll vor
dem geistigen Auge ein langer Zug von Graungestalten mit klaffenden Todes¬
wunden, ermordete Brüder, Väter, Mütter und Gatten, ein griechischer-
Hamlet, eine antike Chrimhilde, Männer, Greise, Jünglinge bespritzt mit
eignem und fremden Blut. Dort oben, wo der Trümmersturz vielleicht die
Städte der Halle des Atreus bezeichnet, aß der unselige Thuest die eignen
Kinder, die ihm der Bruder geschlachtet. Von da unten her scholl sein Fluch
herauf, der wie ein Echo durch die ganze Geschichte der Atriden widerhallte
und bei jedem Widerhall neue Blutthat gebar. Hier war Agamemnon mit
Kassandra vom Wagen gestiegen, um der Axt Aegisths zum Opfer zu fallen.
Durch dieses Löwenthor schritt Orestes, ver Rächer, der Muttermörder. Diese
grauen Mauern hörten die Klage Klytämncstras über die geopferte Iphigenia,
ihr verzweiflungsvolles Wehe, als der Sohn das Schwert nach ihr zuckte,
und Elektras gräßlich kaltes "Triff noch einmal, wenn du kannst!" Ueber die
wilden Gestalten wirft die Vergangenheit umsonst ihre grauen Nebelschleier.
Deutlich erkennbar in ihren Zügen gehen sie in den Ruinen um. und deutlich
sieht man über der Höhe der Burg die schlangenhaarigen Göttinnen schweben,
die den letzten dieses Stammes von Frevlern verfolgten.'

Diese Stimmung wurde erhöht durch den Besuch des Grabes Agcnnem-
nons, welches etwa achthundert Schritte vom Löwenthor auf dem Kamm des
Bergzugs liegt, der zwischen der Straße nach Argos und der oben erwähn¬
ten Schlucht sich hinstreckt. Es ist ein Bau von der Form einer spitzzulaufen¬
den Kuppel, gebildet aus Steinblöcken, die, von unten bis zur Spitze wage-
recht übereinandergelegt und in immer engeren Ringen vortretend, allent¬
halben ihre Kanten, nicht wie unsere Gewölbe die schräg gemeißelten glatten
Seiten zeigen. Außen ist es mit Erde überworfen, so daß es mit Ausnahme
der Stelle, wo der Eingang ist, ungefähr einem unserer norddeutschen Hüh-
nenbctten gleicht. Vom Boden bis zu dem obersten Steine der Kuppel mißt
es gegen fünfzig Fuß, der Durchmesser des untersten Quaderrings beträgt
etwas weniger. In den Steinblöcken bemerkt man verschiedene Löcher, in
denen man Erznägel gefunden hat, welche die Gelehrten schließen ließen, die
Wölbung sei einst mit ehernen Platten überkleidet gewesen. Das Thor, wel¬
ches in das Grabmal führt, hat dieselbe Form wie die Thore der Burg, das
heißt, seine Oessnung (die jetzt mit einer schlechten Breterthür verschlossen ist,
zu der ein Geistlicher in Karvati den Schlüssel hat) ist nach oben pyramidal
geneigt. Seitenpfosten hat es nicht, wol aber liegt darüber ein ähnlicher


Grenzboten III. 18S8. KV

Während mein Gefährte das Löwenthor zeichnete, gab ich mich der Stim¬
mung hin, welche die Erinnerung an die Urzeit von Argos weckte. In dieser
tiefgefurchten Wagenspur hatte ein Geschlecht sein Gedächtniß eingedrückt, wel¬
ches bis auf den hochleuchtendcn Völkerfürsten Agcunemnon eher einem Ge¬
schlecht von Dämonen als von Menschen glich. Aus dieser Pforte quoll vor
dem geistigen Auge ein langer Zug von Graungestalten mit klaffenden Todes¬
wunden, ermordete Brüder, Väter, Mütter und Gatten, ein griechischer-
Hamlet, eine antike Chrimhilde, Männer, Greise, Jünglinge bespritzt mit
eignem und fremden Blut. Dort oben, wo der Trümmersturz vielleicht die
Städte der Halle des Atreus bezeichnet, aß der unselige Thuest die eignen
Kinder, die ihm der Bruder geschlachtet. Von da unten her scholl sein Fluch
herauf, der wie ein Echo durch die ganze Geschichte der Atriden widerhallte
und bei jedem Widerhall neue Blutthat gebar. Hier war Agamemnon mit
Kassandra vom Wagen gestiegen, um der Axt Aegisths zum Opfer zu fallen.
Durch dieses Löwenthor schritt Orestes, ver Rächer, der Muttermörder. Diese
grauen Mauern hörten die Klage Klytämncstras über die geopferte Iphigenia,
ihr verzweiflungsvolles Wehe, als der Sohn das Schwert nach ihr zuckte,
und Elektras gräßlich kaltes „Triff noch einmal, wenn du kannst!" Ueber die
wilden Gestalten wirft die Vergangenheit umsonst ihre grauen Nebelschleier.
Deutlich erkennbar in ihren Zügen gehen sie in den Ruinen um. und deutlich
sieht man über der Höhe der Burg die schlangenhaarigen Göttinnen schweben,
die den letzten dieses Stammes von Frevlern verfolgten.'

Diese Stimmung wurde erhöht durch den Besuch des Grabes Agcnnem-
nons, welches etwa achthundert Schritte vom Löwenthor auf dem Kamm des
Bergzugs liegt, der zwischen der Straße nach Argos und der oben erwähn¬
ten Schlucht sich hinstreckt. Es ist ein Bau von der Form einer spitzzulaufen¬
den Kuppel, gebildet aus Steinblöcken, die, von unten bis zur Spitze wage-
recht übereinandergelegt und in immer engeren Ringen vortretend, allent¬
halben ihre Kanten, nicht wie unsere Gewölbe die schräg gemeißelten glatten
Seiten zeigen. Außen ist es mit Erde überworfen, so daß es mit Ausnahme
der Stelle, wo der Eingang ist, ungefähr einem unserer norddeutschen Hüh-
nenbctten gleicht. Vom Boden bis zu dem obersten Steine der Kuppel mißt
es gegen fünfzig Fuß, der Durchmesser des untersten Quaderrings beträgt
etwas weniger. In den Steinblöcken bemerkt man verschiedene Löcher, in
denen man Erznägel gefunden hat, welche die Gelehrten schließen ließen, die
Wölbung sei einst mit ehernen Platten überkleidet gewesen. Das Thor, wel¬
ches in das Grabmal führt, hat dieselbe Form wie die Thore der Burg, das
heißt, seine Oessnung (die jetzt mit einer schlechten Breterthür verschlossen ist,
zu der ein Geistlicher in Karvati den Schlüssel hat) ist nach oben pyramidal
geneigt. Seitenpfosten hat es nicht, wol aber liegt darüber ein ähnlicher


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[0481] Während mein Gefährte das Löwenthor zeichnete, gab ich mich der Stim¬ mung hin, welche die Erinnerung an die Urzeit von Argos weckte. In dieser tiefgefurchten Wagenspur hatte ein Geschlecht sein Gedächtniß eingedrückt, wel¬ ches bis auf den hochleuchtendcn Völkerfürsten Agcunemnon eher einem Ge¬ schlecht von Dämonen als von Menschen glich. Aus dieser Pforte quoll vor dem geistigen Auge ein langer Zug von Graungestalten mit klaffenden Todes¬ wunden, ermordete Brüder, Väter, Mütter und Gatten, ein griechischer- Hamlet, eine antike Chrimhilde, Männer, Greise, Jünglinge bespritzt mit eignem und fremden Blut. Dort oben, wo der Trümmersturz vielleicht die Städte der Halle des Atreus bezeichnet, aß der unselige Thuest die eignen Kinder, die ihm der Bruder geschlachtet. Von da unten her scholl sein Fluch herauf, der wie ein Echo durch die ganze Geschichte der Atriden widerhallte und bei jedem Widerhall neue Blutthat gebar. Hier war Agamemnon mit Kassandra vom Wagen gestiegen, um der Axt Aegisths zum Opfer zu fallen. Durch dieses Löwenthor schritt Orestes, ver Rächer, der Muttermörder. Diese grauen Mauern hörten die Klage Klytämncstras über die geopferte Iphigenia, ihr verzweiflungsvolles Wehe, als der Sohn das Schwert nach ihr zuckte, und Elektras gräßlich kaltes „Triff noch einmal, wenn du kannst!" Ueber die wilden Gestalten wirft die Vergangenheit umsonst ihre grauen Nebelschleier. Deutlich erkennbar in ihren Zügen gehen sie in den Ruinen um. und deutlich sieht man über der Höhe der Burg die schlangenhaarigen Göttinnen schweben, die den letzten dieses Stammes von Frevlern verfolgten.' Diese Stimmung wurde erhöht durch den Besuch des Grabes Agcnnem- nons, welches etwa achthundert Schritte vom Löwenthor auf dem Kamm des Bergzugs liegt, der zwischen der Straße nach Argos und der oben erwähn¬ ten Schlucht sich hinstreckt. Es ist ein Bau von der Form einer spitzzulaufen¬ den Kuppel, gebildet aus Steinblöcken, die, von unten bis zur Spitze wage- recht übereinandergelegt und in immer engeren Ringen vortretend, allent¬ halben ihre Kanten, nicht wie unsere Gewölbe die schräg gemeißelten glatten Seiten zeigen. Außen ist es mit Erde überworfen, so daß es mit Ausnahme der Stelle, wo der Eingang ist, ungefähr einem unserer norddeutschen Hüh- nenbctten gleicht. Vom Boden bis zu dem obersten Steine der Kuppel mißt es gegen fünfzig Fuß, der Durchmesser des untersten Quaderrings beträgt etwas weniger. In den Steinblöcken bemerkt man verschiedene Löcher, in denen man Erznägel gefunden hat, welche die Gelehrten schließen ließen, die Wölbung sei einst mit ehernen Platten überkleidet gewesen. Das Thor, wel¬ ches in das Grabmal führt, hat dieselbe Form wie die Thore der Burg, das heißt, seine Oessnung (die jetzt mit einer schlechten Breterthür verschlossen ist, zu der ein Geistlicher in Karvati den Schlüssel hat) ist nach oben pyramidal geneigt. Seitenpfosten hat es nicht, wol aber liegt darüber ein ähnlicher Grenzboten III. 18S8. KV

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/481>, abgerufen am 23.07.2024.