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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Noth, und zuletzt ein bedeutsames Bild des Todes." Die Reihe der Quellen,
nach denen Silen ausgemalt werden soll, eröffnet das Symposion, eine
Schrift, von der man gewiß alles Andere eher erwarten wird, als eine cor-
recte Darstellung der alten Sagen. Bei den darauf folgenden Aussprüchen
der alten Dichter wird immer die eine Geschichte zu Grunde gelegt, daß der
trunkene Waldgott, von Midas eingefangen, endlich lantwortete: "Was zwingt
ihr mich, auszusprechen, das euch besser verborgen bliebe! Am besten ists allen,
Männern und Weibern, nicht geboren zu sein. Das Nächstbeste aber, was
der Mensch erreichen kann, jedoch geringer als jenes ist, sobald er geboren,
sofort zu sterben." Bei der Tiefe dieser "Seligkeit des Todes" ermangelt der
Ausleger nicht, auch der Betrunkenheit-- trotz der scurrilen Darstellungen in
Sculptur und Gedicht -- einen mystischen Sinn unterzuschieben, wobei die
Ideenassociation merkwürdig ist, die von dem einen Attribut auf das andere
leitet. "Auch des Todes Stille erinnert an den stillen Waldgott. Denn
jenes Schweigen, jene Scheu vor dem Wort, jenes Zurückziehn der Betrach¬
tung in sich selbst, wodurch sie selige Beschauung wird, ist der herrschende
Charakter, unter dem ihn der Mythos zeigt, anch hierin zusammenstimmend
mit den Ideen der Philosophie, die die Natur am würdigsten als schweigend
dachte; und wenn Dionysos sonst auch der Zunge Fessel ließ, so äußerte sich
im Silen dagegen die Macht des Gottes durch stille Begeisterung." "Viel¬
leicht sollte durch die Mannigfaltigkeit, womit Proteus sich wandelt, so wie
durch die Kunst, womit, der Silen diese Wandlungen darstellt, jenen Göttern
oder göttlichen Wesen ein schwebender Mittelzustand zwischen dem Endlichen
und Unendlichen als eigenthümlich beigelegt werden. Wenigstens betrachtet
die mystische Philosophie den Silen als das .Symbol des belebenden Hauchs,
der das All größtentheils trägt und zusammenhält." Was nun weiter folgt,
verliert sich so tief in die Geheimnisse der höhern Physik, daß vom Mythus
nichts übrig bleibt. -- Augenscheinlich ist bei dieser Deduction nicht einmal
die Absicht des Symbolikers. den wirklichen Volksglauben der Griechen in seiner
Fülle auseinanderzubreiten und zu analysiren: dazu wäre es nöthig, daß
er sich mit seiner ganzen Seele in das Leben des Alterthums, in das gemeine
Leben hineinfühlte, weil ja auch unter dem verschiedensten geistigen Klima
das ewig Menschliche sich geltend machen muß: sondern er grübelt, mit dem
Besitz moderner Speculation ausgestattet, darüber nach, was den Sagen des
Alterthums für ähnliche Gedanken zu Grunde gelegen, oder auch uur von
geistvollen Denkern daraus habe entwickeln lassen. Während neuere Forscher,
z. B. Lehrs. auch in den dunkeln Partien der alten Mythologie nur für das
Gefühl, das den Mythus beseelt, eine deutlichere Vorstellung fanden, sucht
Creuzer, indem er das Gemeingefühl ganz ignorirt, nach einem esoterischen
Begriff; er bringt die mannigfaltigsten Zeugnisse bei. aber er perdu-idee sie


Noth, und zuletzt ein bedeutsames Bild des Todes." Die Reihe der Quellen,
nach denen Silen ausgemalt werden soll, eröffnet das Symposion, eine
Schrift, von der man gewiß alles Andere eher erwarten wird, als eine cor-
recte Darstellung der alten Sagen. Bei den darauf folgenden Aussprüchen
der alten Dichter wird immer die eine Geschichte zu Grunde gelegt, daß der
trunkene Waldgott, von Midas eingefangen, endlich lantwortete: „Was zwingt
ihr mich, auszusprechen, das euch besser verborgen bliebe! Am besten ists allen,
Männern und Weibern, nicht geboren zu sein. Das Nächstbeste aber, was
der Mensch erreichen kann, jedoch geringer als jenes ist, sobald er geboren,
sofort zu sterben." Bei der Tiefe dieser „Seligkeit des Todes" ermangelt der
Ausleger nicht, auch der Betrunkenheit— trotz der scurrilen Darstellungen in
Sculptur und Gedicht — einen mystischen Sinn unterzuschieben, wobei die
Ideenassociation merkwürdig ist, die von dem einen Attribut auf das andere
leitet. „Auch des Todes Stille erinnert an den stillen Waldgott. Denn
jenes Schweigen, jene Scheu vor dem Wort, jenes Zurückziehn der Betrach¬
tung in sich selbst, wodurch sie selige Beschauung wird, ist der herrschende
Charakter, unter dem ihn der Mythos zeigt, anch hierin zusammenstimmend
mit den Ideen der Philosophie, die die Natur am würdigsten als schweigend
dachte; und wenn Dionysos sonst auch der Zunge Fessel ließ, so äußerte sich
im Silen dagegen die Macht des Gottes durch stille Begeisterung." „Viel¬
leicht sollte durch die Mannigfaltigkeit, womit Proteus sich wandelt, so wie
durch die Kunst, womit, der Silen diese Wandlungen darstellt, jenen Göttern
oder göttlichen Wesen ein schwebender Mittelzustand zwischen dem Endlichen
und Unendlichen als eigenthümlich beigelegt werden. Wenigstens betrachtet
die mystische Philosophie den Silen als das .Symbol des belebenden Hauchs,
der das All größtentheils trägt und zusammenhält." Was nun weiter folgt,
verliert sich so tief in die Geheimnisse der höhern Physik, daß vom Mythus
nichts übrig bleibt. — Augenscheinlich ist bei dieser Deduction nicht einmal
die Absicht des Symbolikers. den wirklichen Volksglauben der Griechen in seiner
Fülle auseinanderzubreiten und zu analysiren: dazu wäre es nöthig, daß
er sich mit seiner ganzen Seele in das Leben des Alterthums, in das gemeine
Leben hineinfühlte, weil ja auch unter dem verschiedensten geistigen Klima
das ewig Menschliche sich geltend machen muß: sondern er grübelt, mit dem
Besitz moderner Speculation ausgestattet, darüber nach, was den Sagen des
Alterthums für ähnliche Gedanken zu Grunde gelegen, oder auch uur von
geistvollen Denkern daraus habe entwickeln lassen. Während neuere Forscher,
z. B. Lehrs. auch in den dunkeln Partien der alten Mythologie nur für das
Gefühl, das den Mythus beseelt, eine deutlichere Vorstellung fanden, sucht
Creuzer, indem er das Gemeingefühl ganz ignorirt, nach einem esoterischen
Begriff; er bringt die mannigfaltigsten Zeugnisse bei. aber er perdu-idee sie


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[0255] Noth, und zuletzt ein bedeutsames Bild des Todes." Die Reihe der Quellen, nach denen Silen ausgemalt werden soll, eröffnet das Symposion, eine Schrift, von der man gewiß alles Andere eher erwarten wird, als eine cor- recte Darstellung der alten Sagen. Bei den darauf folgenden Aussprüchen der alten Dichter wird immer die eine Geschichte zu Grunde gelegt, daß der trunkene Waldgott, von Midas eingefangen, endlich lantwortete: „Was zwingt ihr mich, auszusprechen, das euch besser verborgen bliebe! Am besten ists allen, Männern und Weibern, nicht geboren zu sein. Das Nächstbeste aber, was der Mensch erreichen kann, jedoch geringer als jenes ist, sobald er geboren, sofort zu sterben." Bei der Tiefe dieser „Seligkeit des Todes" ermangelt der Ausleger nicht, auch der Betrunkenheit— trotz der scurrilen Darstellungen in Sculptur und Gedicht — einen mystischen Sinn unterzuschieben, wobei die Ideenassociation merkwürdig ist, die von dem einen Attribut auf das andere leitet. „Auch des Todes Stille erinnert an den stillen Waldgott. Denn jenes Schweigen, jene Scheu vor dem Wort, jenes Zurückziehn der Betrach¬ tung in sich selbst, wodurch sie selige Beschauung wird, ist der herrschende Charakter, unter dem ihn der Mythos zeigt, anch hierin zusammenstimmend mit den Ideen der Philosophie, die die Natur am würdigsten als schweigend dachte; und wenn Dionysos sonst auch der Zunge Fessel ließ, so äußerte sich im Silen dagegen die Macht des Gottes durch stille Begeisterung." „Viel¬ leicht sollte durch die Mannigfaltigkeit, womit Proteus sich wandelt, so wie durch die Kunst, womit, der Silen diese Wandlungen darstellt, jenen Göttern oder göttlichen Wesen ein schwebender Mittelzustand zwischen dem Endlichen und Unendlichen als eigenthümlich beigelegt werden. Wenigstens betrachtet die mystische Philosophie den Silen als das .Symbol des belebenden Hauchs, der das All größtentheils trägt und zusammenhält." Was nun weiter folgt, verliert sich so tief in die Geheimnisse der höhern Physik, daß vom Mythus nichts übrig bleibt. — Augenscheinlich ist bei dieser Deduction nicht einmal die Absicht des Symbolikers. den wirklichen Volksglauben der Griechen in seiner Fülle auseinanderzubreiten und zu analysiren: dazu wäre es nöthig, daß er sich mit seiner ganzen Seele in das Leben des Alterthums, in das gemeine Leben hineinfühlte, weil ja auch unter dem verschiedensten geistigen Klima das ewig Menschliche sich geltend machen muß: sondern er grübelt, mit dem Besitz moderner Speculation ausgestattet, darüber nach, was den Sagen des Alterthums für ähnliche Gedanken zu Grunde gelegen, oder auch uur von geistvollen Denkern daraus habe entwickeln lassen. Während neuere Forscher, z. B. Lehrs. auch in den dunkeln Partien der alten Mythologie nur für das Gefühl, das den Mythus beseelt, eine deutlichere Vorstellung fanden, sucht Creuzer, indem er das Gemeingefühl ganz ignorirt, nach einem esoterischen Begriff; er bringt die mannigfaltigsten Zeugnisse bei. aber er perdu-idee sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/255>, abgerufen am 23.07.2024.