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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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fuß: "Vom französischen und vom deutschen Geiste", den wir als ein Pro¬
gramm der Ansichten und Zwecke der Männer betrachten dürfen, welche die
Revue ins Leben gerufen und der deshalb einer nähern Betrachtung werth
erscheint. Zwar sind wir nicht so unbillig zu erwarten, daß uns in dem be¬
schränkten Raume von 20 Seiten die Eigenthümlichkeiten der deutschen und
der französischen Cultur einigermaßen erschöpfend entwickelt werden, aber über
den Grundstock der Gedanken, welche die Herausgeber leiten sollen, kann man
sich nach diesem Aufsatz wol einen Begriff machen. Beginnen wir nun gleich
mit dem Geständniß, daß sich derselbe hoch über die gewöhnlichen Vorurtheile
erhebt, die wir auch bei ausgezeichneten französischen Schriftstellern finden;
wir hören nicht die gebräuchlichen Phrasen: la 1<'rlmev, la, ludion ig. xlu"
civilisöe, eini 0se ir 1a ente an wmrdv iutolloctuol u. s. w., sondern wir
müssen ein verständiges Eingehen in die Eigenthümlichieiten, die Nachtheile
und Vorzüge beider Nationen anerkennen. Wo wir aber den Grundzügen zu¬
stimmen, sind wir berechtigt, auch richtige Auffassung im Einzelnen zu erwarten,
und eine solche finden wir hier nicht überall. Nach einer Einleitung über die
Annäherung und gegenseitige Durchdringung der Nationalitäten in der Neu¬
zeit wenden sich die Verfasser gegen den Einwand, daß dadmch die
eigenartige Persönlichkeit der Völker gefährdet werde, dies sei sür diesel¬
ben so wenig der Fall als für die Individuen. Sehr schön heißt es hier:
"Die wahre Originalität besteht nicht darin, sich so wenig als möglich
mit der äußern Welt zu befassen und sich unbeweglich und unerreich¬
bar inmitten der Bewegung der Dinge. Menschen und Ideen zu halten,
die wahrhaft großen Männer verbinden im Gegentheil mit einer mächtigen
Persönlichkeit etwas Unpersönliches und Allgemeines, wodurch sie sich mit
ihrer Zeit, ihrem Lande, ja einzeln mit dem ganzen menschlichen Geschlecht
identificiren. Sie vertiefen sich in die Gesellschaft, welche sie umgibt, und
sammeln die Lichtstrahlen, welche über dieselbe ausgegossen sind, um sie mit neuer
Energie der Wärme und des Lichtes zurückzuwerfen. So ist es auch mit den
Völkern; die größten sind die, welche die größte'Macht besitzen, von überall
die Elemente des Fortschrittes zu sammeln und sie der Welt, durch den Schmelz-
tiegel ihres civilisatorischen Genies geläutert, in allgemeiner Form zurück¬
zugeben. Dies scheint auch die Aufgabe, welche Frankreich und Deutschland
vorzugsweise zugetheilt ist." Die zwei größten Werke nun, welche diese beiden
Nationen vollzogen, sind nach der Ansicht der Verfasser die Reformation und
die französische Revolution, "die beiden größten gewonnenen Schlachten des
modernen Geistes." Für die erstere seien wol in andern Nationen Vorläufer
wie Winkes, Savonarola u. s. w. ausgestanden, aber Luther habe sie doch
vollzogen; die englische Revolution, das Vorspiel der französischen, sei eine
bedeutsame, aber doch vereinzelte Thatsache, erst die französische Revolution


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fuß: „Vom französischen und vom deutschen Geiste", den wir als ein Pro¬
gramm der Ansichten und Zwecke der Männer betrachten dürfen, welche die
Revue ins Leben gerufen und der deshalb einer nähern Betrachtung werth
erscheint. Zwar sind wir nicht so unbillig zu erwarten, daß uns in dem be¬
schränkten Raume von 20 Seiten die Eigenthümlichkeiten der deutschen und
der französischen Cultur einigermaßen erschöpfend entwickelt werden, aber über
den Grundstock der Gedanken, welche die Herausgeber leiten sollen, kann man
sich nach diesem Aufsatz wol einen Begriff machen. Beginnen wir nun gleich
mit dem Geständniß, daß sich derselbe hoch über die gewöhnlichen Vorurtheile
erhebt, die wir auch bei ausgezeichneten französischen Schriftstellern finden;
wir hören nicht die gebräuchlichen Phrasen: la 1<'rlmev, la, ludion ig. xlu»
civilisöe, eini 0se ir 1a ente an wmrdv iutolloctuol u. s. w., sondern wir
müssen ein verständiges Eingehen in die Eigenthümlichieiten, die Nachtheile
und Vorzüge beider Nationen anerkennen. Wo wir aber den Grundzügen zu¬
stimmen, sind wir berechtigt, auch richtige Auffassung im Einzelnen zu erwarten,
und eine solche finden wir hier nicht überall. Nach einer Einleitung über die
Annäherung und gegenseitige Durchdringung der Nationalitäten in der Neu¬
zeit wenden sich die Verfasser gegen den Einwand, daß dadmch die
eigenartige Persönlichkeit der Völker gefährdet werde, dies sei sür diesel¬
ben so wenig der Fall als für die Individuen. Sehr schön heißt es hier:
„Die wahre Originalität besteht nicht darin, sich so wenig als möglich
mit der äußern Welt zu befassen und sich unbeweglich und unerreich¬
bar inmitten der Bewegung der Dinge. Menschen und Ideen zu halten,
die wahrhaft großen Männer verbinden im Gegentheil mit einer mächtigen
Persönlichkeit etwas Unpersönliches und Allgemeines, wodurch sie sich mit
ihrer Zeit, ihrem Lande, ja einzeln mit dem ganzen menschlichen Geschlecht
identificiren. Sie vertiefen sich in die Gesellschaft, welche sie umgibt, und
sammeln die Lichtstrahlen, welche über dieselbe ausgegossen sind, um sie mit neuer
Energie der Wärme und des Lichtes zurückzuwerfen. So ist es auch mit den
Völkern; die größten sind die, welche die größte'Macht besitzen, von überall
die Elemente des Fortschrittes zu sammeln und sie der Welt, durch den Schmelz-
tiegel ihres civilisatorischen Genies geläutert, in allgemeiner Form zurück¬
zugeben. Dies scheint auch die Aufgabe, welche Frankreich und Deutschland
vorzugsweise zugetheilt ist." Die zwei größten Werke nun, welche diese beiden
Nationen vollzogen, sind nach der Ansicht der Verfasser die Reformation und
die französische Revolution, „die beiden größten gewonnenen Schlachten des
modernen Geistes." Für die erstere seien wol in andern Nationen Vorläufer
wie Winkes, Savonarola u. s. w. ausgestanden, aber Luther habe sie doch
vollzogen; die englische Revolution, das Vorspiel der französischen, sei eine
bedeutsame, aber doch vereinzelte Thatsache, erst die französische Revolution


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/515>, abgerufen am 27.07.2024.