Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

in ihren Forderungen für Deutschland weiter gehn, als unsere eigenen Re¬
gierungen. Frankreich ist sür den Augenblick durch das Bündnis; mit England
paralysirt und England steht in guten Verhältnissen zu Preußen, Dies ist
der Punkt, bei welchem wir die Besprechung der zweiten ungelösten Frage
anknüpfen.

Die Zeit ist noch nickt lange vorüber, daß wir uns ausschließlich mit
der englischen und französischen Politik beschäftigten, anstatt uns um unsere
eigene" Angelegenheiten zu kümmern. Im Gegentheil zeigt sich jetzt die
Neigung, die Angelegenheiten des Auslandes fo zu betrachten, als gingen sie
uns gar nichts an. Das ist z. B. neuerdings bei dem Sturz Palmerstons
geschehn. Weil man früher työrichterweisc diesen Mann als den Champion
des Liberalismus bezeichnete, soll man jetzt nach besserer Einsicht sich wol
gar über seinen Fall freuen. An und für sich kann es uns auch vollkommen
gleichgiltig sein, ob Lord Palmerston oder Lord Derby in England regieren,
aber es sind mit diesem Ereigniß Umstände verknüpft, die eine ernstere Er-
wägung verdienen. Zwar sind wir jetzt in der Cultur so weit vorgerückt, daß
die Staaten ihre Handlungsweise nicht nach abstrafen Principien, sondern
nach Interessen bestimmen. Aber deshalb ist die Macht der Principien noch
nicht gebrochen, und das gleiche Princip hängt in sämmtlichen Ländern durch
eine elektrische Kette zusammen, , die nur derjenige leugnet, der den Einfluß
der öffentlichen Meinung auf die Politik überhaupt leugnet. Denjenigen,
welche für die deutsche Staatsentwickeluug die Anhänger des konstitutionellen
Princips sind, muß jede Erschütterung desselben in einem andern Lande als
eine Niederlage erscheinen. Der Fall der constitutionellen Monarchie in Frank¬
reich war eine NiedcUage des Constitutionalismus überhaupt, denn er unter¬
grub den Glauben an das Princip. Noch viel schlimmer wäre es. wenn
auch England in diese Lage käme. Daß man bis jetzt noch keinen derartigen
Versuch gemacht hat, liegt ganz ausschließlich in der unvergleichlichen Haltung
der Königin, die nach strengem Gewissen handelt. Einem unternehmenden
Monarchen hätten sich in den letzten Jahren die zahlreichsten Gelegenheiten
geboten, bei der Unmöglichkeit, mit der Majorität des Parlaments zu regieren,
den Persuch zu machen, ohne dieselbe zu regieren; und das englische Volk wird
die ernste Prüfung, ob es^seine Freiheit in einem wirklichen Conflict ver¬
treten kann, noch bestehen müssen.

Der Sinn des constitutionellen Princips ist, daß in formal Beziehung
die Souvcrnnetät beim König bleibt, daß aber der Inhalt seines Wille's sich
nach dein Nationalwillen richte. Zu diesem Zweck werden zwischen de,7
Souverän und das Volk zwei Mittelglieder eingeschoben, das Ministerium
und das Parlament. Jenes vertritt den Souverän, dieses das Volk, und
der Grundsatz, auf dem alles constitutionelle Leben drfire, ist die Nothwendig-


in ihren Forderungen für Deutschland weiter gehn, als unsere eigenen Re¬
gierungen. Frankreich ist sür den Augenblick durch das Bündnis; mit England
paralysirt und England steht in guten Verhältnissen zu Preußen, Dies ist
der Punkt, bei welchem wir die Besprechung der zweiten ungelösten Frage
anknüpfen.

Die Zeit ist noch nickt lange vorüber, daß wir uns ausschließlich mit
der englischen und französischen Politik beschäftigten, anstatt uns um unsere
eigene» Angelegenheiten zu kümmern. Im Gegentheil zeigt sich jetzt die
Neigung, die Angelegenheiten des Auslandes fo zu betrachten, als gingen sie
uns gar nichts an. Das ist z. B. neuerdings bei dem Sturz Palmerstons
geschehn. Weil man früher työrichterweisc diesen Mann als den Champion
des Liberalismus bezeichnete, soll man jetzt nach besserer Einsicht sich wol
gar über seinen Fall freuen. An und für sich kann es uns auch vollkommen
gleichgiltig sein, ob Lord Palmerston oder Lord Derby in England regieren,
aber es sind mit diesem Ereigniß Umstände verknüpft, die eine ernstere Er-
wägung verdienen. Zwar sind wir jetzt in der Cultur so weit vorgerückt, daß
die Staaten ihre Handlungsweise nicht nach abstrafen Principien, sondern
nach Interessen bestimmen. Aber deshalb ist die Macht der Principien noch
nicht gebrochen, und das gleiche Princip hängt in sämmtlichen Ländern durch
eine elektrische Kette zusammen, , die nur derjenige leugnet, der den Einfluß
der öffentlichen Meinung auf die Politik überhaupt leugnet. Denjenigen,
welche für die deutsche Staatsentwickeluug die Anhänger des konstitutionellen
Princips sind, muß jede Erschütterung desselben in einem andern Lande als
eine Niederlage erscheinen. Der Fall der constitutionellen Monarchie in Frank¬
reich war eine NiedcUage des Constitutionalismus überhaupt, denn er unter¬
grub den Glauben an das Princip. Noch viel schlimmer wäre es. wenn
auch England in diese Lage käme. Daß man bis jetzt noch keinen derartigen
Versuch gemacht hat, liegt ganz ausschließlich in der unvergleichlichen Haltung
der Königin, die nach strengem Gewissen handelt. Einem unternehmenden
Monarchen hätten sich in den letzten Jahren die zahlreichsten Gelegenheiten
geboten, bei der Unmöglichkeit, mit der Majorität des Parlaments zu regieren,
den Persuch zu machen, ohne dieselbe zu regieren; und das englische Volk wird
die ernste Prüfung, ob es^seine Freiheit in einem wirklichen Conflict ver¬
treten kann, noch bestehen müssen.

Der Sinn des constitutionellen Princips ist, daß in formal Beziehung
die Souvcrnnetät beim König bleibt, daß aber der Inhalt seines Wille's sich
nach dein Nationalwillen richte. Zu diesem Zweck werden zwischen de,7
Souverän und das Volk zwei Mittelglieder eingeschoben, das Ministerium
und das Parlament. Jenes vertritt den Souverän, dieses das Volk, und
der Grundsatz, auf dem alles constitutionelle Leben drfire, ist die Nothwendig-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105730"/>
          <p xml:id="ID_1184" prev="#ID_1183"> in ihren Forderungen für Deutschland weiter gehn, als unsere eigenen Re¬<lb/>
gierungen. Frankreich ist sür den Augenblick durch das Bündnis; mit England<lb/>
paralysirt und England steht in guten Verhältnissen zu Preußen,  Dies ist<lb/>
der Punkt, bei welchem wir die Besprechung der zweiten ungelösten Frage<lb/>
anknüpfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1185"> Die Zeit ist noch nickt lange vorüber, daß wir uns ausschließlich mit<lb/>
der englischen und französischen Politik beschäftigten, anstatt uns um unsere<lb/>
eigene» Angelegenheiten zu kümmern. Im Gegentheil zeigt sich jetzt die<lb/>
Neigung, die Angelegenheiten des Auslandes fo zu betrachten, als gingen sie<lb/>
uns gar nichts an. Das ist z. B. neuerdings bei dem Sturz Palmerstons<lb/>
geschehn. Weil man früher työrichterweisc diesen Mann als den Champion<lb/>
des Liberalismus bezeichnete, soll man jetzt nach besserer Einsicht sich wol<lb/>
gar über seinen Fall freuen. An und für sich kann es uns auch vollkommen<lb/>
gleichgiltig sein, ob Lord Palmerston oder Lord Derby in England regieren,<lb/>
aber es sind mit diesem Ereigniß Umstände verknüpft, die eine ernstere Er-<lb/>
wägung verdienen. Zwar sind wir jetzt in der Cultur so weit vorgerückt, daß<lb/>
die Staaten ihre Handlungsweise nicht nach abstrafen Principien, sondern<lb/>
nach Interessen bestimmen. Aber deshalb ist die Macht der Principien noch<lb/>
nicht gebrochen, und das gleiche Princip hängt in sämmtlichen Ländern durch<lb/>
eine elektrische Kette zusammen, , die nur derjenige leugnet, der den Einfluß<lb/>
der öffentlichen Meinung auf die Politik überhaupt leugnet. Denjenigen,<lb/>
welche für die deutsche Staatsentwickeluug die Anhänger des konstitutionellen<lb/>
Princips sind, muß jede Erschütterung desselben in einem andern Lande als<lb/>
eine Niederlage erscheinen. Der Fall der constitutionellen Monarchie in Frank¬<lb/>
reich war eine NiedcUage des Constitutionalismus überhaupt, denn er unter¬<lb/>
grub den Glauben an das Princip. Noch viel schlimmer wäre es. wenn<lb/>
auch England in diese Lage käme. Daß man bis jetzt noch keinen derartigen<lb/>
Versuch gemacht hat, liegt ganz ausschließlich in der unvergleichlichen Haltung<lb/>
der Königin, die nach strengem Gewissen handelt. Einem unternehmenden<lb/>
Monarchen hätten sich in den letzten Jahren die zahlreichsten Gelegenheiten<lb/>
geboten, bei der Unmöglichkeit, mit der Majorität des Parlaments zu regieren,<lb/>
den Persuch zu machen, ohne dieselbe zu regieren; und das englische Volk wird<lb/>
die ernste Prüfung, ob es^seine Freiheit in einem wirklichen Conflict ver¬<lb/>
treten kann, noch bestehen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1186" next="#ID_1187"> Der Sinn des constitutionellen Princips ist, daß in formal Beziehung<lb/>
die Souvcrnnetät beim König bleibt, daß aber der Inhalt seines Wille's sich<lb/>
nach dein Nationalwillen richte. Zu diesem Zweck werden zwischen de,7<lb/>
Souverän und das Volk zwei Mittelglieder eingeschoben, das Ministerium<lb/>
und das Parlament. Jenes vertritt den Souverän, dieses das Volk, und<lb/>
der Grundsatz, auf dem alles constitutionelle Leben drfire, ist die Nothwendig-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0453] in ihren Forderungen für Deutschland weiter gehn, als unsere eigenen Re¬ gierungen. Frankreich ist sür den Augenblick durch das Bündnis; mit England paralysirt und England steht in guten Verhältnissen zu Preußen, Dies ist der Punkt, bei welchem wir die Besprechung der zweiten ungelösten Frage anknüpfen. Die Zeit ist noch nickt lange vorüber, daß wir uns ausschließlich mit der englischen und französischen Politik beschäftigten, anstatt uns um unsere eigene» Angelegenheiten zu kümmern. Im Gegentheil zeigt sich jetzt die Neigung, die Angelegenheiten des Auslandes fo zu betrachten, als gingen sie uns gar nichts an. Das ist z. B. neuerdings bei dem Sturz Palmerstons geschehn. Weil man früher työrichterweisc diesen Mann als den Champion des Liberalismus bezeichnete, soll man jetzt nach besserer Einsicht sich wol gar über seinen Fall freuen. An und für sich kann es uns auch vollkommen gleichgiltig sein, ob Lord Palmerston oder Lord Derby in England regieren, aber es sind mit diesem Ereigniß Umstände verknüpft, die eine ernstere Er- wägung verdienen. Zwar sind wir jetzt in der Cultur so weit vorgerückt, daß die Staaten ihre Handlungsweise nicht nach abstrafen Principien, sondern nach Interessen bestimmen. Aber deshalb ist die Macht der Principien noch nicht gebrochen, und das gleiche Princip hängt in sämmtlichen Ländern durch eine elektrische Kette zusammen, , die nur derjenige leugnet, der den Einfluß der öffentlichen Meinung auf die Politik überhaupt leugnet. Denjenigen, welche für die deutsche Staatsentwickeluug die Anhänger des konstitutionellen Princips sind, muß jede Erschütterung desselben in einem andern Lande als eine Niederlage erscheinen. Der Fall der constitutionellen Monarchie in Frank¬ reich war eine NiedcUage des Constitutionalismus überhaupt, denn er unter¬ grub den Glauben an das Princip. Noch viel schlimmer wäre es. wenn auch England in diese Lage käme. Daß man bis jetzt noch keinen derartigen Versuch gemacht hat, liegt ganz ausschließlich in der unvergleichlichen Haltung der Königin, die nach strengem Gewissen handelt. Einem unternehmenden Monarchen hätten sich in den letzten Jahren die zahlreichsten Gelegenheiten geboten, bei der Unmöglichkeit, mit der Majorität des Parlaments zu regieren, den Persuch zu machen, ohne dieselbe zu regieren; und das englische Volk wird die ernste Prüfung, ob es^seine Freiheit in einem wirklichen Conflict ver¬ treten kann, noch bestehen müssen. Der Sinn des constitutionellen Princips ist, daß in formal Beziehung die Souvcrnnetät beim König bleibt, daß aber der Inhalt seines Wille's sich nach dein Nationalwillen richte. Zu diesem Zweck werden zwischen de,7 Souverän und das Volk zwei Mittelglieder eingeschoben, das Ministerium und das Parlament. Jenes vertritt den Souverän, dieses das Volk, und der Grundsatz, auf dem alles constitutionelle Leben drfire, ist die Nothwendig-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/453
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/453>, abgerufen am 27.07.2024.