Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

speare über seiner Zeit stand, nicht blos durch die geniale Kraft der Dar¬
stellung sondern auch durch seinen freien, echt menschlichen Blick.

In der Reihe literarhistorischer Monographien, durch welche unsere
Wissenschaft in neuster Zeit bereichert ist, heben wir zunächst die Entwicke¬
lungsgeschichte der französischen Tragödie vornehmlich im 16. Jahr¬
hundert von Adolph Ebert hervor (Gotha, Perthes). Grade hier liegt
unsere Kenntniß noch sehr im Argen, weil das Zeitalter Ludwigs XIV. mit
seinem scharf ausgesprochenen künstlerischen Charakter die Erinnerung an dje
frühere französische Entwickelung ganz aus unserm Gesichtskreis gedrängt hat.
Herr Ebert hat sich die doppelte Aufgabe gestellt, den Zusammenhang zwischen
der mittelalterlichen gewissermaßen elementarischen Volksbühne und dem mo¬
dernen Kunstdrama, und den Zusammenhang dieser Uebergangszeit mit dem
allgemeinen großen Umschwung, den die Menschheit dem Humanismus ver¬
dankt, nachzuweisen. Es ist ihm im Allgemeinen vortrefflich gelungen, und
das Buch nimmt in unserer literarhistorischen Wissenschaft eine nicht unbedeu¬
tende Stelle ein.

Von der Schrift! Shakespeares Zeitgenossen und ihre Werke,
in Charakteristiken und Übersetzungen, von Friedrich Bodenstedt (Berlin,
Decker) ist bis jetzt der erste Band erschienen, der die Werke John Web¬
st ers enthält. Das bedeutendste seiner Dramen, die Herzogin von Amalfi,
1623, also sieben Jahre nach Shakespeares Tod gedruckt, ist ganz mitgetheilt, so
vortrefflich übersetzt, wie wir es von der Kunst des Herausgebers zu erwarten
berechtigt sind. Von den übrigen Stücken: Vittoria Accorombona, des Teu¬
fels Rechtshändel, Appius und Virginia u. f. w. sind sehr zweckmäßige
charakteristische Auszüge gegeben, und durch kurze literarische und biographische
Notizen wird dem Leser das Verständniß erleichtert. Das Unternehmen ist
dankenswert!), und recht für das Bedürfniß eines größeren Lesekreises ein¬
gerichtet. Nur beiläufig bemerken wir, daß wir mit dem Urtheil des Ver¬
fassers nicht ganz übereinstimmen: daß wir auch die Herzogin von Amalfi an
Werth höchstens neben Titus Andronicus stellen können. Dagegen schließen
wir uns unbedingt der Auffassung des shakcspeareschen Zeitalters im Allge¬
meinen an. Dycc, der englische Herausgeber Websters, macht eine Bemer¬
kung, die man von unsern Verehrern des Mittelalters zu häufig hört, als
daß man sie nicht berücksichtigen sollte. "Vielleicht hat sich die Bühnenspra'che
nur in demselben Maße veredelt, als unsere Sitten sich verschlimmert haben,
und wir fürchten die Erwähnung von Lastern, welche wir uns nicht scheuen
M üben, während unsere Vorfahren weniger zimperlich als wir, aber desto
energischer in Grundsätzen, sorglos in Worten und vorsichtig nur im Handeln
waren." Herr Bodenstedt erwidert darauf mit vollem Recht: Ich kann mit
dieser Ansicht des Herrn Dyce nicht übereinstimmen; ich glaube, daß unsere


44*

speare über seiner Zeit stand, nicht blos durch die geniale Kraft der Dar¬
stellung sondern auch durch seinen freien, echt menschlichen Blick.

In der Reihe literarhistorischer Monographien, durch welche unsere
Wissenschaft in neuster Zeit bereichert ist, heben wir zunächst die Entwicke¬
lungsgeschichte der französischen Tragödie vornehmlich im 16. Jahr¬
hundert von Adolph Ebert hervor (Gotha, Perthes). Grade hier liegt
unsere Kenntniß noch sehr im Argen, weil das Zeitalter Ludwigs XIV. mit
seinem scharf ausgesprochenen künstlerischen Charakter die Erinnerung an dje
frühere französische Entwickelung ganz aus unserm Gesichtskreis gedrängt hat.
Herr Ebert hat sich die doppelte Aufgabe gestellt, den Zusammenhang zwischen
der mittelalterlichen gewissermaßen elementarischen Volksbühne und dem mo¬
dernen Kunstdrama, und den Zusammenhang dieser Uebergangszeit mit dem
allgemeinen großen Umschwung, den die Menschheit dem Humanismus ver¬
dankt, nachzuweisen. Es ist ihm im Allgemeinen vortrefflich gelungen, und
das Buch nimmt in unserer literarhistorischen Wissenschaft eine nicht unbedeu¬
tende Stelle ein.

Von der Schrift! Shakespeares Zeitgenossen und ihre Werke,
in Charakteristiken und Übersetzungen, von Friedrich Bodenstedt (Berlin,
Decker) ist bis jetzt der erste Band erschienen, der die Werke John Web¬
st ers enthält. Das bedeutendste seiner Dramen, die Herzogin von Amalfi,
1623, also sieben Jahre nach Shakespeares Tod gedruckt, ist ganz mitgetheilt, so
vortrefflich übersetzt, wie wir es von der Kunst des Herausgebers zu erwarten
berechtigt sind. Von den übrigen Stücken: Vittoria Accorombona, des Teu¬
fels Rechtshändel, Appius und Virginia u. f. w. sind sehr zweckmäßige
charakteristische Auszüge gegeben, und durch kurze literarische und biographische
Notizen wird dem Leser das Verständniß erleichtert. Das Unternehmen ist
dankenswert!), und recht für das Bedürfniß eines größeren Lesekreises ein¬
gerichtet. Nur beiläufig bemerken wir, daß wir mit dem Urtheil des Ver¬
fassers nicht ganz übereinstimmen: daß wir auch die Herzogin von Amalfi an
Werth höchstens neben Titus Andronicus stellen können. Dagegen schließen
wir uns unbedingt der Auffassung des shakcspeareschen Zeitalters im Allge¬
meinen an. Dycc, der englische Herausgeber Websters, macht eine Bemer¬
kung, die man von unsern Verehrern des Mittelalters zu häufig hört, als
daß man sie nicht berücksichtigen sollte. „Vielleicht hat sich die Bühnenspra'che
nur in demselben Maße veredelt, als unsere Sitten sich verschlimmert haben,
und wir fürchten die Erwähnung von Lastern, welche wir uns nicht scheuen
M üben, während unsere Vorfahren weniger zimperlich als wir, aber desto
energischer in Grundsätzen, sorglos in Worten und vorsichtig nur im Handeln
waren." Herr Bodenstedt erwidert darauf mit vollem Recht: Ich kann mit
dieser Ansicht des Herrn Dyce nicht übereinstimmen; ich glaube, daß unsere


44*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105632"/>
          <p xml:id="ID_909" prev="#ID_908"> speare über seiner Zeit stand, nicht blos durch die geniale Kraft der Dar¬<lb/>
stellung sondern auch durch seinen freien, echt menschlichen Blick.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_910"> In der Reihe literarhistorischer Monographien, durch welche unsere<lb/>
Wissenschaft in neuster Zeit bereichert ist, heben wir zunächst die Entwicke¬<lb/>
lungsgeschichte der französischen Tragödie vornehmlich im 16. Jahr¬<lb/>
hundert von Adolph Ebert hervor (Gotha, Perthes). Grade hier liegt<lb/>
unsere Kenntniß noch sehr im Argen, weil das Zeitalter Ludwigs XIV. mit<lb/>
seinem scharf ausgesprochenen künstlerischen Charakter die Erinnerung an dje<lb/>
frühere französische Entwickelung ganz aus unserm Gesichtskreis gedrängt hat.<lb/>
Herr Ebert hat sich die doppelte Aufgabe gestellt, den Zusammenhang zwischen<lb/>
der mittelalterlichen gewissermaßen elementarischen Volksbühne und dem mo¬<lb/>
dernen Kunstdrama, und den Zusammenhang dieser Uebergangszeit mit dem<lb/>
allgemeinen großen Umschwung, den die Menschheit dem Humanismus ver¬<lb/>
dankt, nachzuweisen. Es ist ihm im Allgemeinen vortrefflich gelungen, und<lb/>
das Buch nimmt in unserer literarhistorischen Wissenschaft eine nicht unbedeu¬<lb/>
tende Stelle ein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_911" next="#ID_912"> Von der Schrift! Shakespeares Zeitgenossen und ihre Werke,<lb/>
in Charakteristiken und Übersetzungen, von Friedrich Bodenstedt (Berlin,<lb/>
Decker) ist bis jetzt der erste Band erschienen, der die Werke John Web¬<lb/>
st ers enthält. Das bedeutendste seiner Dramen, die Herzogin von Amalfi,<lb/>
1623, also sieben Jahre nach Shakespeares Tod gedruckt, ist ganz mitgetheilt, so<lb/>
vortrefflich übersetzt, wie wir es von der Kunst des Herausgebers zu erwarten<lb/>
berechtigt sind. Von den übrigen Stücken: Vittoria Accorombona, des Teu¬<lb/>
fels Rechtshändel, Appius und Virginia u. f. w. sind sehr zweckmäßige<lb/>
charakteristische Auszüge gegeben, und durch kurze literarische und biographische<lb/>
Notizen wird dem Leser das Verständniß erleichtert. Das Unternehmen ist<lb/>
dankenswert!), und recht für das Bedürfniß eines größeren Lesekreises ein¬<lb/>
gerichtet. Nur beiläufig bemerken wir, daß wir mit dem Urtheil des Ver¬<lb/>
fassers nicht ganz übereinstimmen: daß wir auch die Herzogin von Amalfi an<lb/>
Werth höchstens neben Titus Andronicus stellen können. Dagegen schließen<lb/>
wir uns unbedingt der Auffassung des shakcspeareschen Zeitalters im Allge¬<lb/>
meinen an. Dycc, der englische Herausgeber Websters, macht eine Bemer¬<lb/>
kung, die man von unsern Verehrern des Mittelalters zu häufig hört, als<lb/>
daß man sie nicht berücksichtigen sollte. &#x201E;Vielleicht hat sich die Bühnenspra'che<lb/>
nur in demselben Maße veredelt, als unsere Sitten sich verschlimmert haben,<lb/>
und wir fürchten die Erwähnung von Lastern, welche wir uns nicht scheuen<lb/>
M üben, während unsere Vorfahren weniger zimperlich als wir, aber desto<lb/>
energischer in Grundsätzen, sorglos in Worten und vorsichtig nur im Handeln<lb/>
waren." Herr Bodenstedt erwidert darauf mit vollem Recht: Ich kann mit<lb/>
dieser Ansicht des Herrn Dyce nicht übereinstimmen; ich glaube, daß unsere</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 44*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0355] speare über seiner Zeit stand, nicht blos durch die geniale Kraft der Dar¬ stellung sondern auch durch seinen freien, echt menschlichen Blick. In der Reihe literarhistorischer Monographien, durch welche unsere Wissenschaft in neuster Zeit bereichert ist, heben wir zunächst die Entwicke¬ lungsgeschichte der französischen Tragödie vornehmlich im 16. Jahr¬ hundert von Adolph Ebert hervor (Gotha, Perthes). Grade hier liegt unsere Kenntniß noch sehr im Argen, weil das Zeitalter Ludwigs XIV. mit seinem scharf ausgesprochenen künstlerischen Charakter die Erinnerung an dje frühere französische Entwickelung ganz aus unserm Gesichtskreis gedrängt hat. Herr Ebert hat sich die doppelte Aufgabe gestellt, den Zusammenhang zwischen der mittelalterlichen gewissermaßen elementarischen Volksbühne und dem mo¬ dernen Kunstdrama, und den Zusammenhang dieser Uebergangszeit mit dem allgemeinen großen Umschwung, den die Menschheit dem Humanismus ver¬ dankt, nachzuweisen. Es ist ihm im Allgemeinen vortrefflich gelungen, und das Buch nimmt in unserer literarhistorischen Wissenschaft eine nicht unbedeu¬ tende Stelle ein. Von der Schrift! Shakespeares Zeitgenossen und ihre Werke, in Charakteristiken und Übersetzungen, von Friedrich Bodenstedt (Berlin, Decker) ist bis jetzt der erste Band erschienen, der die Werke John Web¬ st ers enthält. Das bedeutendste seiner Dramen, die Herzogin von Amalfi, 1623, also sieben Jahre nach Shakespeares Tod gedruckt, ist ganz mitgetheilt, so vortrefflich übersetzt, wie wir es von der Kunst des Herausgebers zu erwarten berechtigt sind. Von den übrigen Stücken: Vittoria Accorombona, des Teu¬ fels Rechtshändel, Appius und Virginia u. f. w. sind sehr zweckmäßige charakteristische Auszüge gegeben, und durch kurze literarische und biographische Notizen wird dem Leser das Verständniß erleichtert. Das Unternehmen ist dankenswert!), und recht für das Bedürfniß eines größeren Lesekreises ein¬ gerichtet. Nur beiläufig bemerken wir, daß wir mit dem Urtheil des Ver¬ fassers nicht ganz übereinstimmen: daß wir auch die Herzogin von Amalfi an Werth höchstens neben Titus Andronicus stellen können. Dagegen schließen wir uns unbedingt der Auffassung des shakcspeareschen Zeitalters im Allge¬ meinen an. Dycc, der englische Herausgeber Websters, macht eine Bemer¬ kung, die man von unsern Verehrern des Mittelalters zu häufig hört, als daß man sie nicht berücksichtigen sollte. „Vielleicht hat sich die Bühnenspra'che nur in demselben Maße veredelt, als unsere Sitten sich verschlimmert haben, und wir fürchten die Erwähnung von Lastern, welche wir uns nicht scheuen M üben, während unsere Vorfahren weniger zimperlich als wir, aber desto energischer in Grundsätzen, sorglos in Worten und vorsichtig nur im Handeln waren." Herr Bodenstedt erwidert darauf mit vollem Recht: Ich kann mit dieser Ansicht des Herrn Dyce nicht übereinstimmen; ich glaube, daß unsere 44*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/355
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/355>, abgerufen am 22.12.2024.