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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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nicht weil Ludwig ihn nachgeahmt hätte, sondern weil es zwei durchweg ver¬
wandte Naturen sind. Die beiden Hauptfiguren, der Holders Fritz und die
Heiterethei könnten ganz bequem in einer schweizer Dorfgeschichte stehn, wie
denn wol überall gleiche Ursachen gleiche Wirkungen erzeugen. In beiden
übersprudelt die innere Lebenskraft, und äußert sich zunächst in der Form un¬
bändigen Trotzes, bis die Liebe sie ergreift und diese stolzen Herzen sich unter¬
wirft. Das Aneinanderprallen dieser harten Naturen ist mit ebenso viel
Naturwahrheit als Poesie geschildert. Der Ausgang ist nicht blos wohl¬
thuend,, sondern er erregt auch das Gefühl der Nothwendigkeit, was bei Lud¬
wig nicht immer der Fall war. Hin und wieder zeigen sich freilich Spuren
von jener Willkür in der Voraussetzung, auf deren Gefahr wir im Anfang
hingewiesen haben, und grade in den schönsten Stellen. Die künstlerisch
vollendetste Scene, die allein hinreichen würde, Ludwig eine Stelle im Reich
der Poesie zu sichern, der Traum der Heiterethei, in dem sie sich zuerst ihrer
Liebe bewußt wird, beruht auf einer unstatthaften Voraussetzung, daß nämlich
ein 18jähriges Mädchen noch nie geträumt hat. Selbst wenn so etwas physisch
möglich wäre, was wir nicht wissen, hat der Dichter doch nicht das Recht,
von einer psychischen Abnormität auszugehn. Vergißt man freilich diesen
Mangel, so wird man von dem Zauber einer. Darstellung hingerissen, in der
sich Kraft mit Innigkeit auf das schönste vermählt. Eine sehr gewagte Scene
ist serner die eigentliche Katastrophe. Der Holders Fritz, der zuerst durch
scharfe Vorwürfe der Heiterethei bewogen ist, in sich zu gehn und die Ver¬
kehrtheit seines frühern Lebens zu erkennen, will ihr seine Liebe gestehn, .da
er sich aber schämt, es offen zu thun, lauert er ihr auf ihren nächtlichen
Wegen aus, und die Nachbarn, die das bemerken, reden ihr ein, er wolle sie
umbringen. Einmal sieht sie ihn auf einem gefährlichen Damm vor sich, sie
sieht in ihrer erhitzten Einbildungskraft nur den Mörder, und um ihm zuvor
zu kommen, stößt sie ihn rasch ins Wasser. Die Scene ist meisterhaft aus¬
gemalt und der Dichter wendet einen so geschickten Pragmatismus an, daß
man ihm Schritt vor Schritt ohne Widerrede folgt, ist man aber bis zur
Katastrophe gekommen, so sagt man sich doch, daß in der Erfindung eine Un¬
wahrheit liegt. Der unglückliche Ausgang wird freilich vermieden, aber in
der Intention hat das Mädchen einen Mord begangen, und das ist ein
Gebiet, wo die Berechtigung des Pragmatismus aufhört. Selbst wenn der
Dichter psychologisch die Möglichkeit nachgewiesen Kälte, die Einheit der
Stimmung ist gestört, und es gehört seine ganze Kunst dazu, uns durch die
heiteren Bilder, die darauf folgen, diesen peinlichen Eindruck vergessen zu
machen.

In den Nebenfiguren ist sein Reichthum nicht so groß als bei Gotthelf.
Die Klatschschwestcrn des Städtchens sind vortrefflich geschildert, aber die


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nicht weil Ludwig ihn nachgeahmt hätte, sondern weil es zwei durchweg ver¬
wandte Naturen sind. Die beiden Hauptfiguren, der Holders Fritz und die
Heiterethei könnten ganz bequem in einer schweizer Dorfgeschichte stehn, wie
denn wol überall gleiche Ursachen gleiche Wirkungen erzeugen. In beiden
übersprudelt die innere Lebenskraft, und äußert sich zunächst in der Form un¬
bändigen Trotzes, bis die Liebe sie ergreift und diese stolzen Herzen sich unter¬
wirft. Das Aneinanderprallen dieser harten Naturen ist mit ebenso viel
Naturwahrheit als Poesie geschildert. Der Ausgang ist nicht blos wohl¬
thuend,, sondern er erregt auch das Gefühl der Nothwendigkeit, was bei Lud¬
wig nicht immer der Fall war. Hin und wieder zeigen sich freilich Spuren
von jener Willkür in der Voraussetzung, auf deren Gefahr wir im Anfang
hingewiesen haben, und grade in den schönsten Stellen. Die künstlerisch
vollendetste Scene, die allein hinreichen würde, Ludwig eine Stelle im Reich
der Poesie zu sichern, der Traum der Heiterethei, in dem sie sich zuerst ihrer
Liebe bewußt wird, beruht auf einer unstatthaften Voraussetzung, daß nämlich
ein 18jähriges Mädchen noch nie geträumt hat. Selbst wenn so etwas physisch
möglich wäre, was wir nicht wissen, hat der Dichter doch nicht das Recht,
von einer psychischen Abnormität auszugehn. Vergißt man freilich diesen
Mangel, so wird man von dem Zauber einer. Darstellung hingerissen, in der
sich Kraft mit Innigkeit auf das schönste vermählt. Eine sehr gewagte Scene
ist serner die eigentliche Katastrophe. Der Holders Fritz, der zuerst durch
scharfe Vorwürfe der Heiterethei bewogen ist, in sich zu gehn und die Ver¬
kehrtheit seines frühern Lebens zu erkennen, will ihr seine Liebe gestehn, .da
er sich aber schämt, es offen zu thun, lauert er ihr auf ihren nächtlichen
Wegen aus, und die Nachbarn, die das bemerken, reden ihr ein, er wolle sie
umbringen. Einmal sieht sie ihn auf einem gefährlichen Damm vor sich, sie
sieht in ihrer erhitzten Einbildungskraft nur den Mörder, und um ihm zuvor
zu kommen, stößt sie ihn rasch ins Wasser. Die Scene ist meisterhaft aus¬
gemalt und der Dichter wendet einen so geschickten Pragmatismus an, daß
man ihm Schritt vor Schritt ohne Widerrede folgt, ist man aber bis zur
Katastrophe gekommen, so sagt man sich doch, daß in der Erfindung eine Un¬
wahrheit liegt. Der unglückliche Ausgang wird freilich vermieden, aber in
der Intention hat das Mädchen einen Mord begangen, und das ist ein
Gebiet, wo die Berechtigung des Pragmatismus aufhört. Selbst wenn der
Dichter psychologisch die Möglichkeit nachgewiesen Kälte, die Einheit der
Stimmung ist gestört, und es gehört seine ganze Kunst dazu, uns durch die
heiteren Bilder, die darauf folgen, diesen peinlichen Eindruck vergessen zu
machen.

In den Nebenfiguren ist sein Reichthum nicht so groß als bei Gotthelf.
Die Klatschschwestcrn des Städtchens sind vortrefflich geschildert, aber die


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[0419] nicht weil Ludwig ihn nachgeahmt hätte, sondern weil es zwei durchweg ver¬ wandte Naturen sind. Die beiden Hauptfiguren, der Holders Fritz und die Heiterethei könnten ganz bequem in einer schweizer Dorfgeschichte stehn, wie denn wol überall gleiche Ursachen gleiche Wirkungen erzeugen. In beiden übersprudelt die innere Lebenskraft, und äußert sich zunächst in der Form un¬ bändigen Trotzes, bis die Liebe sie ergreift und diese stolzen Herzen sich unter¬ wirft. Das Aneinanderprallen dieser harten Naturen ist mit ebenso viel Naturwahrheit als Poesie geschildert. Der Ausgang ist nicht blos wohl¬ thuend,, sondern er erregt auch das Gefühl der Nothwendigkeit, was bei Lud¬ wig nicht immer der Fall war. Hin und wieder zeigen sich freilich Spuren von jener Willkür in der Voraussetzung, auf deren Gefahr wir im Anfang hingewiesen haben, und grade in den schönsten Stellen. Die künstlerisch vollendetste Scene, die allein hinreichen würde, Ludwig eine Stelle im Reich der Poesie zu sichern, der Traum der Heiterethei, in dem sie sich zuerst ihrer Liebe bewußt wird, beruht auf einer unstatthaften Voraussetzung, daß nämlich ein 18jähriges Mädchen noch nie geträumt hat. Selbst wenn so etwas physisch möglich wäre, was wir nicht wissen, hat der Dichter doch nicht das Recht, von einer psychischen Abnormität auszugehn. Vergißt man freilich diesen Mangel, so wird man von dem Zauber einer. Darstellung hingerissen, in der sich Kraft mit Innigkeit auf das schönste vermählt. Eine sehr gewagte Scene ist serner die eigentliche Katastrophe. Der Holders Fritz, der zuerst durch scharfe Vorwürfe der Heiterethei bewogen ist, in sich zu gehn und die Ver¬ kehrtheit seines frühern Lebens zu erkennen, will ihr seine Liebe gestehn, .da er sich aber schämt, es offen zu thun, lauert er ihr auf ihren nächtlichen Wegen aus, und die Nachbarn, die das bemerken, reden ihr ein, er wolle sie umbringen. Einmal sieht sie ihn auf einem gefährlichen Damm vor sich, sie sieht in ihrer erhitzten Einbildungskraft nur den Mörder, und um ihm zuvor zu kommen, stößt sie ihn rasch ins Wasser. Die Scene ist meisterhaft aus¬ gemalt und der Dichter wendet einen so geschickten Pragmatismus an, daß man ihm Schritt vor Schritt ohne Widerrede folgt, ist man aber bis zur Katastrophe gekommen, so sagt man sich doch, daß in der Erfindung eine Un¬ wahrheit liegt. Der unglückliche Ausgang wird freilich vermieden, aber in der Intention hat das Mädchen einen Mord begangen, und das ist ein Gebiet, wo die Berechtigung des Pragmatismus aufhört. Selbst wenn der Dichter psychologisch die Möglichkeit nachgewiesen Kälte, die Einheit der Stimmung ist gestört, und es gehört seine ganze Kunst dazu, uns durch die heiteren Bilder, die darauf folgen, diesen peinlichen Eindruck vergessen zu machen. In den Nebenfiguren ist sein Reichthum nicht so groß als bei Gotthelf. Die Klatschschwestcrn des Städtchens sind vortrefflich geschildert, aber die ö2*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/419>, abgerufen am 23.07.2024.