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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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'Formen entgegengetreten, bald eine verknöcherte Spießbürgern. Man hat in
unsern Tagen mit großem Erfolg das Handwerk und den Handel in den
Kreis der poetischen Stoffe aufgenommen; eS ist nicht ohne Interesse, zu
vergleichen, wie Goethe den Vertreter bürgerlicher Interessen sich' aussprechen
läßt. Der junge Meister hat in einer poetischen Allegorie nach dem Vorbild
Lucians das Handwerk neben die Kunst gestellt, und dem ersteren alles mög¬
liche Ueble nachgesagt. Nun corrigirt ihn sein Freund Werner: "Du magst
das Bild in irgend einem elenden Kramladen aufgeschnappt haben. Von der
Handlung hattest du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, wessen Geist
ausgebreiteter wäre, ausgebreiteter sein müßte, als der Geist eines echten
Handelsmannes. Welchen Ueberblick verschafft uns nicht die Ordnung, in der
wir unsere Geschäfte führen. Sie lassen uns jederzeit das Ganze überschauen,
ohne daß wir nöthig hätten, uns durch das Einzelne verwirren zu lassen.
Welche Vortheile gewährt die doppelte Buchführung dem Kaufmanne! Es ist
eine der schönsten Erfindungen ' des menschlichen Geistes, und ein jeder gute
Haushalter sollte sie in seiner Wirthschaft einführen." -- Das ist gewiß sehr
verständig, aber für poetisch wird es niemand halten.

Wenn die junge Poesie so übel von dem Leben urtheilte, so lag die
Schuld zum Theil freilich an ihr selbst, in ihrer ausschließlichen Richtung auf
den schönen Schein. Allein auch in den wirkliche" Zuständen hat ein großer
Umschwung stattgefunden. Das Bürgerthum hat an Kraft und Lebensmut!)
unendlich gewonnen, mal Theil weil die materiellen Interessen und ihre Wich¬
tigkeit für die Gesellschaft sich immer fühlbarer gemacht haben, zum Theil durch
die politische Emancipation der mittleren Classen seit 1830. Goethe, der nur
einer Anregung bedürfte, um ein neuaufgehendes Princip in seinem innersten
Kern zu begreifen und ihm einen künstlerisch vollendeten Ausdruck zu geben,
hat zuerst, durch Voßens Louise aufmerksam gemacht, in Hermann und Doro¬
thea, bann in einzelnen Partien der Wanderjahre die bürgerlichen Beschäfti¬
gungen in einer Weise idealisirt, die den neuern Dichtern als Muster dienen
kann. Das Gefühl, daß der aristokratischen Gesellschaft der Boden fehlte,
trieb ihn zuerst in die Spelunken, dann lernte er das Sonnenlicht wieder¬
geben, das auch die beschränkten Häuser der mittleren Schicht vergoldet. Auch
das bürgerliche Leben hat seinen Sonntag, der in Hermann und Dorothea
eine plastisch schöne, in Jean Pauls Romanen eine zwar verworrene, aber
doch sinnige Darstellung gefunden hat.

Wenn damals der Grunv, der die Dichter bestimmte, die idealen Kreise
deS Lebens zu verlassen und die Beschränktheit auszusuchen, in dem Gefühl
der Zwecklosigkeit lag, das mit der deutschen Aristokratie verbunden war, s"
wird man zur Erklärung verwandter Erscheinungen unserer Tage weiter zurück¬
greifen müssen. Denn natürlich ist diese Wendung für die Poesie nicht. Avr


'Formen entgegengetreten, bald eine verknöcherte Spießbürgern. Man hat in
unsern Tagen mit großem Erfolg das Handwerk und den Handel in den
Kreis der poetischen Stoffe aufgenommen; eS ist nicht ohne Interesse, zu
vergleichen, wie Goethe den Vertreter bürgerlicher Interessen sich' aussprechen
läßt. Der junge Meister hat in einer poetischen Allegorie nach dem Vorbild
Lucians das Handwerk neben die Kunst gestellt, und dem ersteren alles mög¬
liche Ueble nachgesagt. Nun corrigirt ihn sein Freund Werner: „Du magst
das Bild in irgend einem elenden Kramladen aufgeschnappt haben. Von der
Handlung hattest du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, wessen Geist
ausgebreiteter wäre, ausgebreiteter sein müßte, als der Geist eines echten
Handelsmannes. Welchen Ueberblick verschafft uns nicht die Ordnung, in der
wir unsere Geschäfte führen. Sie lassen uns jederzeit das Ganze überschauen,
ohne daß wir nöthig hätten, uns durch das Einzelne verwirren zu lassen.
Welche Vortheile gewährt die doppelte Buchführung dem Kaufmanne! Es ist
eine der schönsten Erfindungen ' des menschlichen Geistes, und ein jeder gute
Haushalter sollte sie in seiner Wirthschaft einführen." — Das ist gewiß sehr
verständig, aber für poetisch wird es niemand halten.

Wenn die junge Poesie so übel von dem Leben urtheilte, so lag die
Schuld zum Theil freilich an ihr selbst, in ihrer ausschließlichen Richtung auf
den schönen Schein. Allein auch in den wirkliche» Zuständen hat ein großer
Umschwung stattgefunden. Das Bürgerthum hat an Kraft und Lebensmut!)
unendlich gewonnen, mal Theil weil die materiellen Interessen und ihre Wich¬
tigkeit für die Gesellschaft sich immer fühlbarer gemacht haben, zum Theil durch
die politische Emancipation der mittleren Classen seit 1830. Goethe, der nur
einer Anregung bedürfte, um ein neuaufgehendes Princip in seinem innersten
Kern zu begreifen und ihm einen künstlerisch vollendeten Ausdruck zu geben,
hat zuerst, durch Voßens Louise aufmerksam gemacht, in Hermann und Doro¬
thea, bann in einzelnen Partien der Wanderjahre die bürgerlichen Beschäfti¬
gungen in einer Weise idealisirt, die den neuern Dichtern als Muster dienen
kann. Das Gefühl, daß der aristokratischen Gesellschaft der Boden fehlte,
trieb ihn zuerst in die Spelunken, dann lernte er das Sonnenlicht wieder¬
geben, das auch die beschränkten Häuser der mittleren Schicht vergoldet. Auch
das bürgerliche Leben hat seinen Sonntag, der in Hermann und Dorothea
eine plastisch schöne, in Jean Pauls Romanen eine zwar verworrene, aber
doch sinnige Darstellung gefunden hat.

Wenn damals der Grunv, der die Dichter bestimmte, die idealen Kreise
deS Lebens zu verlassen und die Beschränktheit auszusuchen, in dem Gefühl
der Zwecklosigkeit lag, das mit der deutschen Aristokratie verbunden war, s"
wird man zur Erklärung verwandter Erscheinungen unserer Tage weiter zurück¬
greifen müssen. Denn natürlich ist diese Wendung für die Poesie nicht. Avr


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[0410] 'Formen entgegengetreten, bald eine verknöcherte Spießbürgern. Man hat in unsern Tagen mit großem Erfolg das Handwerk und den Handel in den Kreis der poetischen Stoffe aufgenommen; eS ist nicht ohne Interesse, zu vergleichen, wie Goethe den Vertreter bürgerlicher Interessen sich' aussprechen läßt. Der junge Meister hat in einer poetischen Allegorie nach dem Vorbild Lucians das Handwerk neben die Kunst gestellt, und dem ersteren alles mög¬ liche Ueble nachgesagt. Nun corrigirt ihn sein Freund Werner: „Du magst das Bild in irgend einem elenden Kramladen aufgeschnappt haben. Von der Handlung hattest du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, wessen Geist ausgebreiteter wäre, ausgebreiteter sein müßte, als der Geist eines echten Handelsmannes. Welchen Ueberblick verschafft uns nicht die Ordnung, in der wir unsere Geschäfte führen. Sie lassen uns jederzeit das Ganze überschauen, ohne daß wir nöthig hätten, uns durch das Einzelne verwirren zu lassen. Welche Vortheile gewährt die doppelte Buchführung dem Kaufmanne! Es ist eine der schönsten Erfindungen ' des menschlichen Geistes, und ein jeder gute Haushalter sollte sie in seiner Wirthschaft einführen." — Das ist gewiß sehr verständig, aber für poetisch wird es niemand halten. Wenn die junge Poesie so übel von dem Leben urtheilte, so lag die Schuld zum Theil freilich an ihr selbst, in ihrer ausschließlichen Richtung auf den schönen Schein. Allein auch in den wirkliche» Zuständen hat ein großer Umschwung stattgefunden. Das Bürgerthum hat an Kraft und Lebensmut!) unendlich gewonnen, mal Theil weil die materiellen Interessen und ihre Wich¬ tigkeit für die Gesellschaft sich immer fühlbarer gemacht haben, zum Theil durch die politische Emancipation der mittleren Classen seit 1830. Goethe, der nur einer Anregung bedürfte, um ein neuaufgehendes Princip in seinem innersten Kern zu begreifen und ihm einen künstlerisch vollendeten Ausdruck zu geben, hat zuerst, durch Voßens Louise aufmerksam gemacht, in Hermann und Doro¬ thea, bann in einzelnen Partien der Wanderjahre die bürgerlichen Beschäfti¬ gungen in einer Weise idealisirt, die den neuern Dichtern als Muster dienen kann. Das Gefühl, daß der aristokratischen Gesellschaft der Boden fehlte, trieb ihn zuerst in die Spelunken, dann lernte er das Sonnenlicht wieder¬ geben, das auch die beschränkten Häuser der mittleren Schicht vergoldet. Auch das bürgerliche Leben hat seinen Sonntag, der in Hermann und Dorothea eine plastisch schöne, in Jean Pauls Romanen eine zwar verworrene, aber doch sinnige Darstellung gefunden hat. Wenn damals der Grunv, der die Dichter bestimmte, die idealen Kreise deS Lebens zu verlassen und die Beschränktheit auszusuchen, in dem Gefühl der Zwecklosigkeit lag, das mit der deutschen Aristokratie verbunden war, s" wird man zur Erklärung verwandter Erscheinungen unserer Tage weiter zurück¬ greifen müssen. Denn natürlich ist diese Wendung für die Poesie nicht. Avr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/410>, abgerufen am 23.07.2024.