Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

einem neuen Rheinbunde und als eine friedliche Demonstration, bei welcher
den Stämmen an Rhein und Neckar ihr großer Freund und Beschützer ge¬
zeigt wurde.

Wenn so Kaiser Napoleon nicht verschmäht, auf die Möglichkeiten der
Zukunft hin in den deutschen Grenzländern Terrain zu gewinnen, so ist doch
die Nheingrenze nicht grade das einzige Gebiet, welches er als Dotation für
Frankreich zu betrachten geneigt ist. Es gibt noch zwei andere, mit denen er
im Nothfall zufrieden wäre. Zwar wird der Name Belgien jetzt weder von
der ministeriellen Presse Frankreichs, noch von "unabhängigen" Enthu¬
siasten mit Erwerbungsplänen in Verbindung gebracht. Denn die Weis¬
heit des Königs Leopold und der warme Patriotismus der Belgier haben
noch mehr als die Familienverbindung mit England in Frankreich im-
ponirt und der Kaiser hat bei seinem Princip einer friedlichen Annera¬
tion wenigstens die Absicht, jede kräftige Volksrhümlichkeit zu achten. Aber
über die glückliche Gegenwart Belgiens schaut man zu Paris mit ge¬
heimen Hintergedanken in die umwölkte Zukunft deS kleinen Staates. In
der That sind die Parteien Belgiens, die klerikale und die liberal-industrielle
durch eine Kluft geschieden, über welche immer wieder durch die vermittelnde,
mäßigende und vorsorgende Person des Herrschers selbst die Brücke geschlagen
werden muß. Beide große Parteien bedrohen die sociale Zukunft des Staates
mit eigenthümlichen Gefahren. Das Princip deS Almosengcbens, durch welches
nach heiligen' Traditionen die klerikale Partei ihren großen Einfluß erhält,
erweist sich als unverträglich mit dem Leben eines industriellen Staates, der
sich nur durch moralische Hebung und Selbstthätigst der arbeitenden Classen
erhalten kann. Anderseits hat auch das rasche Aufblühen der belgischen Industrie
das Proletariat in auffallender Weise vermehrt. Bereits jetzt ist das Verhält¬
niß der Almosenempfänger in Belgien furchtbar groß, jede Stockung in Pro-
duction und Erwerb bedroht das Land schon jetzt mit Leiden von großer Aus¬
dehnung und wirft die Masse des Volkes in die Hände der klerikalen Partei.
Sollte nun in der nächsten Generation die Persönlichkeit des Regenten ihre
volle Sympathie der kirchlichen Partei zuwenden, so würde, wie sich schon
jetzt voraussehen läßt, eine Störung in das Staatsleben kommen, welche nach
gefährlichen Krämpfen einer vorwärtsstrebender und verzweifelnden Opposition
kaum andere Hoffnungen ließe, als sich an Frankreich anzulehnen.

Aber nicht im Osten allein sieht der Kaiser die Möglichkeit einer Dota¬
tion. Zuletzt würde er sich auch an Savoyen begnügen, und aus seinen
Ansichten über dieses Land, das für Piemottt doch !>o unbequem ist, hat' er kein
Geheimniß gemacht. Da Sardinien sich durch verständige Parteinahme und
männliche Politik seine Stellung unter den europäischen Staaten so vor-


einem neuen Rheinbunde und als eine friedliche Demonstration, bei welcher
den Stämmen an Rhein und Neckar ihr großer Freund und Beschützer ge¬
zeigt wurde.

Wenn so Kaiser Napoleon nicht verschmäht, auf die Möglichkeiten der
Zukunft hin in den deutschen Grenzländern Terrain zu gewinnen, so ist doch
die Nheingrenze nicht grade das einzige Gebiet, welches er als Dotation für
Frankreich zu betrachten geneigt ist. Es gibt noch zwei andere, mit denen er
im Nothfall zufrieden wäre. Zwar wird der Name Belgien jetzt weder von
der ministeriellen Presse Frankreichs, noch von „unabhängigen" Enthu¬
siasten mit Erwerbungsplänen in Verbindung gebracht. Denn die Weis¬
heit des Königs Leopold und der warme Patriotismus der Belgier haben
noch mehr als die Familienverbindung mit England in Frankreich im-
ponirt und der Kaiser hat bei seinem Princip einer friedlichen Annera¬
tion wenigstens die Absicht, jede kräftige Volksrhümlichkeit zu achten. Aber
über die glückliche Gegenwart Belgiens schaut man zu Paris mit ge¬
heimen Hintergedanken in die umwölkte Zukunft deS kleinen Staates. In
der That sind die Parteien Belgiens, die klerikale und die liberal-industrielle
durch eine Kluft geschieden, über welche immer wieder durch die vermittelnde,
mäßigende und vorsorgende Person des Herrschers selbst die Brücke geschlagen
werden muß. Beide große Parteien bedrohen die sociale Zukunft des Staates
mit eigenthümlichen Gefahren. Das Princip deS Almosengcbens, durch welches
nach heiligen' Traditionen die klerikale Partei ihren großen Einfluß erhält,
erweist sich als unverträglich mit dem Leben eines industriellen Staates, der
sich nur durch moralische Hebung und Selbstthätigst der arbeitenden Classen
erhalten kann. Anderseits hat auch das rasche Aufblühen der belgischen Industrie
das Proletariat in auffallender Weise vermehrt. Bereits jetzt ist das Verhält¬
niß der Almosenempfänger in Belgien furchtbar groß, jede Stockung in Pro-
duction und Erwerb bedroht das Land schon jetzt mit Leiden von großer Aus¬
dehnung und wirft die Masse des Volkes in die Hände der klerikalen Partei.
Sollte nun in der nächsten Generation die Persönlichkeit des Regenten ihre
volle Sympathie der kirchlichen Partei zuwenden, so würde, wie sich schon
jetzt voraussehen läßt, eine Störung in das Staatsleben kommen, welche nach
gefährlichen Krämpfen einer vorwärtsstrebender und verzweifelnden Opposition
kaum andere Hoffnungen ließe, als sich an Frankreich anzulehnen.

Aber nicht im Osten allein sieht der Kaiser die Möglichkeit einer Dota¬
tion. Zuletzt würde er sich auch an Savoyen begnügen, und aus seinen
Ansichten über dieses Land, das für Piemottt doch !>o unbequem ist, hat' er kein
Geheimniß gemacht. Da Sardinien sich durch verständige Parteinahme und
männliche Politik seine Stellung unter den europäischen Staaten so vor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0332" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105067"/>
          <p xml:id="ID_939" prev="#ID_938"> einem neuen Rheinbunde und als eine friedliche Demonstration, bei welcher<lb/>
den Stämmen an Rhein und Neckar ihr großer Freund und Beschützer ge¬<lb/>
zeigt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_940"> Wenn so Kaiser Napoleon nicht verschmäht, auf die Möglichkeiten der<lb/>
Zukunft hin in den deutschen Grenzländern Terrain zu gewinnen, so ist doch<lb/>
die Nheingrenze nicht grade das einzige Gebiet, welches er als Dotation für<lb/>
Frankreich zu betrachten geneigt ist. Es gibt noch zwei andere, mit denen er<lb/>
im Nothfall zufrieden wäre. Zwar wird der Name Belgien jetzt weder von<lb/>
der ministeriellen Presse Frankreichs, noch von &#x201E;unabhängigen" Enthu¬<lb/>
siasten mit Erwerbungsplänen in Verbindung gebracht. Denn die Weis¬<lb/>
heit des Königs Leopold und der warme Patriotismus der Belgier haben<lb/>
noch mehr als die Familienverbindung mit England in Frankreich im-<lb/>
ponirt und der Kaiser hat bei seinem Princip einer friedlichen Annera¬<lb/>
tion wenigstens die Absicht, jede kräftige Volksrhümlichkeit zu achten. Aber<lb/>
über die glückliche Gegenwart Belgiens schaut man zu Paris mit ge¬<lb/>
heimen Hintergedanken in die umwölkte Zukunft deS kleinen Staates. In<lb/>
der That sind die Parteien Belgiens, die klerikale und die liberal-industrielle<lb/>
durch eine Kluft geschieden, über welche immer wieder durch die vermittelnde,<lb/>
mäßigende und vorsorgende Person des Herrschers selbst die Brücke geschlagen<lb/>
werden muß. Beide große Parteien bedrohen die sociale Zukunft des Staates<lb/>
mit eigenthümlichen Gefahren. Das Princip deS Almosengcbens, durch welches<lb/>
nach heiligen' Traditionen die klerikale Partei ihren großen Einfluß erhält,<lb/>
erweist sich als unverträglich mit dem Leben eines industriellen Staates, der<lb/>
sich nur durch moralische Hebung und Selbstthätigst der arbeitenden Classen<lb/>
erhalten kann. Anderseits hat auch das rasche Aufblühen der belgischen Industrie<lb/>
das Proletariat in auffallender Weise vermehrt. Bereits jetzt ist das Verhält¬<lb/>
niß der Almosenempfänger in Belgien furchtbar groß, jede Stockung in Pro-<lb/>
duction und Erwerb bedroht das Land schon jetzt mit Leiden von großer Aus¬<lb/>
dehnung und wirft die Masse des Volkes in die Hände der klerikalen Partei.<lb/>
Sollte nun in der nächsten Generation die Persönlichkeit des Regenten ihre<lb/>
volle Sympathie der kirchlichen Partei zuwenden, so würde, wie sich schon<lb/>
jetzt voraussehen läßt, eine Störung in das Staatsleben kommen, welche nach<lb/>
gefährlichen Krämpfen einer vorwärtsstrebender und verzweifelnden Opposition<lb/>
kaum andere Hoffnungen ließe, als sich an Frankreich anzulehnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_941" next="#ID_942"> Aber nicht im Osten allein sieht der Kaiser die Möglichkeit einer Dota¬<lb/>
tion. Zuletzt würde er sich auch an Savoyen begnügen, und aus seinen<lb/>
Ansichten über dieses Land, das für Piemottt doch !&gt;o unbequem ist, hat' er kein<lb/>
Geheimniß gemacht. Da Sardinien sich durch verständige Parteinahme und<lb/>
männliche Politik seine Stellung unter den europäischen Staaten so vor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0332] einem neuen Rheinbunde und als eine friedliche Demonstration, bei welcher den Stämmen an Rhein und Neckar ihr großer Freund und Beschützer ge¬ zeigt wurde. Wenn so Kaiser Napoleon nicht verschmäht, auf die Möglichkeiten der Zukunft hin in den deutschen Grenzländern Terrain zu gewinnen, so ist doch die Nheingrenze nicht grade das einzige Gebiet, welches er als Dotation für Frankreich zu betrachten geneigt ist. Es gibt noch zwei andere, mit denen er im Nothfall zufrieden wäre. Zwar wird der Name Belgien jetzt weder von der ministeriellen Presse Frankreichs, noch von „unabhängigen" Enthu¬ siasten mit Erwerbungsplänen in Verbindung gebracht. Denn die Weis¬ heit des Königs Leopold und der warme Patriotismus der Belgier haben noch mehr als die Familienverbindung mit England in Frankreich im- ponirt und der Kaiser hat bei seinem Princip einer friedlichen Annera¬ tion wenigstens die Absicht, jede kräftige Volksrhümlichkeit zu achten. Aber über die glückliche Gegenwart Belgiens schaut man zu Paris mit ge¬ heimen Hintergedanken in die umwölkte Zukunft deS kleinen Staates. In der That sind die Parteien Belgiens, die klerikale und die liberal-industrielle durch eine Kluft geschieden, über welche immer wieder durch die vermittelnde, mäßigende und vorsorgende Person des Herrschers selbst die Brücke geschlagen werden muß. Beide große Parteien bedrohen die sociale Zukunft des Staates mit eigenthümlichen Gefahren. Das Princip deS Almosengcbens, durch welches nach heiligen' Traditionen die klerikale Partei ihren großen Einfluß erhält, erweist sich als unverträglich mit dem Leben eines industriellen Staates, der sich nur durch moralische Hebung und Selbstthätigst der arbeitenden Classen erhalten kann. Anderseits hat auch das rasche Aufblühen der belgischen Industrie das Proletariat in auffallender Weise vermehrt. Bereits jetzt ist das Verhält¬ niß der Almosenempfänger in Belgien furchtbar groß, jede Stockung in Pro- duction und Erwerb bedroht das Land schon jetzt mit Leiden von großer Aus¬ dehnung und wirft die Masse des Volkes in die Hände der klerikalen Partei. Sollte nun in der nächsten Generation die Persönlichkeit des Regenten ihre volle Sympathie der kirchlichen Partei zuwenden, so würde, wie sich schon jetzt voraussehen läßt, eine Störung in das Staatsleben kommen, welche nach gefährlichen Krämpfen einer vorwärtsstrebender und verzweifelnden Opposition kaum andere Hoffnungen ließe, als sich an Frankreich anzulehnen. Aber nicht im Osten allein sieht der Kaiser die Möglichkeit einer Dota¬ tion. Zuletzt würde er sich auch an Savoyen begnügen, und aus seinen Ansichten über dieses Land, das für Piemottt doch !>o unbequem ist, hat' er kein Geheimniß gemacht. Da Sardinien sich durch verständige Parteinahme und männliche Politik seine Stellung unter den europäischen Staaten so vor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/332
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/332>, abgerufen am 23.07.2024.