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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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solches Denkmal gestoßen. Auch tragen hier die meisten Kirchen, so wie in
jedem Dorfe mehre Häuser, besonders die Gasthäuser, an der äußeren Wand
ein religiöses Bild, oft mit einer Unterschrift, z. B. "Heiliger N. N. bitte
für uns." Und daß es keine Ueberbleibsel aus einer früheren Zeit waren,
sah man an den frischen Farben vieler Bilder. Daß ein Wirthshaus kein
Crucifix in einer oberen Wandecke hat, dürste hier zu den Seltenheiten ge¬
hören. Indeß sah ich doch auch viele Einheimische an diesen Bildern ohne
Reverenz vorübergehen, während sie den Weltgeistlichen und Mönchen ohne
Ausnahme mit Ehrerbietung, oft schon mit Gruß und Hutabnehmen aus der
Ferne, begegneten, was ich in dem übrigen Oestreich durchaus nicht in dem¬
selben Grade wieder gefunden habe. Tirol ist in ganz Oestreich die Burg
und das Paradies der katholischen Kirche und Hierarchie; und dabei habe ich
überall den Eindruck empfangen und mitgenommen, daß dem tiroler Volk ein
braver sittlicher Sinn, nicht die Frivolität und Unsittlichkeit der großen öst¬
reichischen Städte und ihrer Umgebung, worin sich vor allen Venedig aus¬
zeichnet, inne wohnt. Uebrigens ist der Tiroler keineswegs ein pietistischer Kopf¬
hänger oder ein religiöser Hypochonder; er ist lebenslustig und läßt den lieben
Gott, wenn er ihm sein Opfer gebracht hat, einen frommen Mann sein. Kaum
hat er in einer Kapelle vor der Mutter Gottes niedergekniet, so nimmt er
seinen Stutzen und steigt auf die Felsen zur verbotenen Gemsenjagd.

Wie nahe dem Oestreicher der Gottes- und der Weltdienst nebenein¬
ander liegen, beweisen unter anderem besonders die Wallfahrten. Die
Leute gehen sonst nicht auf Reisen, aber die Wallfahrt ist ihre Himmelsreise
und Erdenreise. Da verläßt selbst der arme Mann mit Weib und Kind die
Heimath, spart zusammen, was er kann, und begibt sich wochenlang auf die
Wanderschaft. Und wenn solche religiöse Uebungen neuerdings wieder besonders
von der Hierarchie befördert worden ist, so trifft mit dieser Tendenz die Nei¬
gung des Volkes ganz zusammen. Was die Zeitungen in diesem Jahre von
den zahlreichen Wallfahrern nach Mariazell erzählt haben, habe ich mit eige¬
nen Augen (am 12. August, einem Mittwoch) in Gratz gesehen, wo täglich
ein Paar Züge von 600 bis 800 Wallfahrern befördert wurden. Und dies
dauerte vier Wochen lang! Ich bemerkte unter ihnen im Ganzen mehr Frauen
und Mädchen, als Männer und Jünglinge; jeder war in froh erregter Stim¬
mung und der Strauß in seiner Hand das obligate Symbol seiner Lust.




solches Denkmal gestoßen. Auch tragen hier die meisten Kirchen, so wie in
jedem Dorfe mehre Häuser, besonders die Gasthäuser, an der äußeren Wand
ein religiöses Bild, oft mit einer Unterschrift, z. B. „Heiliger N. N. bitte
für uns." Und daß es keine Ueberbleibsel aus einer früheren Zeit waren,
sah man an den frischen Farben vieler Bilder. Daß ein Wirthshaus kein
Crucifix in einer oberen Wandecke hat, dürste hier zu den Seltenheiten ge¬
hören. Indeß sah ich doch auch viele Einheimische an diesen Bildern ohne
Reverenz vorübergehen, während sie den Weltgeistlichen und Mönchen ohne
Ausnahme mit Ehrerbietung, oft schon mit Gruß und Hutabnehmen aus der
Ferne, begegneten, was ich in dem übrigen Oestreich durchaus nicht in dem¬
selben Grade wieder gefunden habe. Tirol ist in ganz Oestreich die Burg
und das Paradies der katholischen Kirche und Hierarchie; und dabei habe ich
überall den Eindruck empfangen und mitgenommen, daß dem tiroler Volk ein
braver sittlicher Sinn, nicht die Frivolität und Unsittlichkeit der großen öst¬
reichischen Städte und ihrer Umgebung, worin sich vor allen Venedig aus¬
zeichnet, inne wohnt. Uebrigens ist der Tiroler keineswegs ein pietistischer Kopf¬
hänger oder ein religiöser Hypochonder; er ist lebenslustig und läßt den lieben
Gott, wenn er ihm sein Opfer gebracht hat, einen frommen Mann sein. Kaum
hat er in einer Kapelle vor der Mutter Gottes niedergekniet, so nimmt er
seinen Stutzen und steigt auf die Felsen zur verbotenen Gemsenjagd.

Wie nahe dem Oestreicher der Gottes- und der Weltdienst nebenein¬
ander liegen, beweisen unter anderem besonders die Wallfahrten. Die
Leute gehen sonst nicht auf Reisen, aber die Wallfahrt ist ihre Himmelsreise
und Erdenreise. Da verläßt selbst der arme Mann mit Weib und Kind die
Heimath, spart zusammen, was er kann, und begibt sich wochenlang auf die
Wanderschaft. Und wenn solche religiöse Uebungen neuerdings wieder besonders
von der Hierarchie befördert worden ist, so trifft mit dieser Tendenz die Nei¬
gung des Volkes ganz zusammen. Was die Zeitungen in diesem Jahre von
den zahlreichen Wallfahrern nach Mariazell erzählt haben, habe ich mit eige¬
nen Augen (am 12. August, einem Mittwoch) in Gratz gesehen, wo täglich
ein Paar Züge von 600 bis 800 Wallfahrern befördert wurden. Und dies
dauerte vier Wochen lang! Ich bemerkte unter ihnen im Ganzen mehr Frauen
und Mädchen, als Männer und Jünglinge; jeder war in froh erregter Stim¬
mung und der Strauß in seiner Hand das obligate Symbol seiner Lust.




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[0270] solches Denkmal gestoßen. Auch tragen hier die meisten Kirchen, so wie in jedem Dorfe mehre Häuser, besonders die Gasthäuser, an der äußeren Wand ein religiöses Bild, oft mit einer Unterschrift, z. B. „Heiliger N. N. bitte für uns." Und daß es keine Ueberbleibsel aus einer früheren Zeit waren, sah man an den frischen Farben vieler Bilder. Daß ein Wirthshaus kein Crucifix in einer oberen Wandecke hat, dürste hier zu den Seltenheiten ge¬ hören. Indeß sah ich doch auch viele Einheimische an diesen Bildern ohne Reverenz vorübergehen, während sie den Weltgeistlichen und Mönchen ohne Ausnahme mit Ehrerbietung, oft schon mit Gruß und Hutabnehmen aus der Ferne, begegneten, was ich in dem übrigen Oestreich durchaus nicht in dem¬ selben Grade wieder gefunden habe. Tirol ist in ganz Oestreich die Burg und das Paradies der katholischen Kirche und Hierarchie; und dabei habe ich überall den Eindruck empfangen und mitgenommen, daß dem tiroler Volk ein braver sittlicher Sinn, nicht die Frivolität und Unsittlichkeit der großen öst¬ reichischen Städte und ihrer Umgebung, worin sich vor allen Venedig aus¬ zeichnet, inne wohnt. Uebrigens ist der Tiroler keineswegs ein pietistischer Kopf¬ hänger oder ein religiöser Hypochonder; er ist lebenslustig und läßt den lieben Gott, wenn er ihm sein Opfer gebracht hat, einen frommen Mann sein. Kaum hat er in einer Kapelle vor der Mutter Gottes niedergekniet, so nimmt er seinen Stutzen und steigt auf die Felsen zur verbotenen Gemsenjagd. Wie nahe dem Oestreicher der Gottes- und der Weltdienst nebenein¬ ander liegen, beweisen unter anderem besonders die Wallfahrten. Die Leute gehen sonst nicht auf Reisen, aber die Wallfahrt ist ihre Himmelsreise und Erdenreise. Da verläßt selbst der arme Mann mit Weib und Kind die Heimath, spart zusammen, was er kann, und begibt sich wochenlang auf die Wanderschaft. Und wenn solche religiöse Uebungen neuerdings wieder besonders von der Hierarchie befördert worden ist, so trifft mit dieser Tendenz die Nei¬ gung des Volkes ganz zusammen. Was die Zeitungen in diesem Jahre von den zahlreichen Wallfahrern nach Mariazell erzählt haben, habe ich mit eige¬ nen Augen (am 12. August, einem Mittwoch) in Gratz gesehen, wo täglich ein Paar Züge von 600 bis 800 Wallfahrern befördert wurden. Und dies dauerte vier Wochen lang! Ich bemerkte unter ihnen im Ganzen mehr Frauen und Mädchen, als Männer und Jünglinge; jeder war in froh erregter Stim¬ mung und der Strauß in seiner Hand das obligate Symbol seiner Lust.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/270>, abgerufen am 23.07.2024.