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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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einer Curiosität einschlichen, sondern er mußte sich die Aufgabe stellen, den
Geist der Menschheit als ein Ganzes aufzufassen, ihn in allen seinen Aeußerungen
zu belauschen, und die Ideen nicht durch die Begebenheiten, sondern die Be¬
gebenheiten durch die Ideen zu erklären. Dies ist die Aufgabe, die er sich
bei der Geschichte des Alterthums gestellt hat.

Nicht eine Herleitung der Weltgeschichte aus dem Begriff, sondern eine
gewissenhafte Aufzeichnung dessen, was wir durch strenge gründliche Kritik erforscht
haben; nicht eine Phänomenologie der Ideen, die einander übergehen, son¬
dern ein Nachweis von der Integrität und Festigkeit des Kerns dieser Ideen,
der Nachweis, daß im Wesentlichen die Begriffe gut und vernünftig zu allen
Zeiten dieselbe Basis haben, ist der leitende Gedanke dieses Buchs. Aber
was eS von den frühern Pragmatikern unterscheidet, ist die Freude an der
Fülle und Mannigfaltigkeit der Erscheinung und das Talent, die verschieden¬
artigsten Lebensäußerungen in einem großen Gemälde zusammenzufassen. Indem
Duncker ein Volk des Alterthums nach dem andern uns vorführt, sucht er ein
vollständiges Culturgemälde, so weit es die Quellen möglich machen, zu ent¬
werfen: er beschreibt die Natur des Landes, die Gewohnheiten des täglichen
Lebens, er analysirt die Religion nicht blos in ihren Gedanken und Borstel¬
lungen, sondern in ihren Gebräuchen, in ihrem Verhältniß zum öffentlichen
Leben überhaupt, er beschreibt ihre beveutendsten Kunstwerke, ihre Entstehung,
ihren Zweck, er wendet sich an die Dichter und stellt wo möglich mit ihren
eignen Worten den Kreis der Ideen und Bilder dar, den die Besten und
Klügsten des Volkes gleichsam als Seher der Nachwelt überlieferten. Indem
er dann auf die politische Geschichte übergeht, sucht er, gestützt auf die Regeln,
die eine eingehende Vergleichung der verschiedensten Culturformen dem moder¬
nen Historiker möglich macht, auch das Detail nicht blos zu verstehen, son¬
dern zu vergegenwärtigen, die Verfassungen, die politischen Debatten, dann
die Einrichtung der Heere, die Schlachten u. s. w. Das Alles verräth einen
Kenner, der sich nicht mit den Erzählungen der alten Schriftsteller begnügt,
sondern der in der ernsten Schule des Lebens gelernt hat, auch in der ver¬
wickelten, ungeordneten Massenwirkung den innern Zusammenhang und daS
leitende Motiv herauszufinden.

Abgesehen von den Vorzügen, die aus einer solchen Auffassung der Ge¬
schichte für das Kunstwerk entspringen, ist namentlich auf die pädagogische
Bedeutung des Buchs hinzuweisen. Es ist recht eigentlich für den Theil der
Jugend geschrieben, der so weit vorbereitet ist, daß er über die Hauptpunkte
der Geschichte keine Aufklärung mehr bedarf, der aber die Frische noch bewahrt,
sich in ungewohnte Farben und Linien zu finden und die kräftige Zuversicht, aus
einem geistvolle" und. gründlichen Gemälde der Vergangenheit auch diebleiben¬
den Ideen zu entnehmen, die ihn selbst bei seinen Bestrebungen zu leiten haben.


einer Curiosität einschlichen, sondern er mußte sich die Aufgabe stellen, den
Geist der Menschheit als ein Ganzes aufzufassen, ihn in allen seinen Aeußerungen
zu belauschen, und die Ideen nicht durch die Begebenheiten, sondern die Be¬
gebenheiten durch die Ideen zu erklären. Dies ist die Aufgabe, die er sich
bei der Geschichte des Alterthums gestellt hat.

Nicht eine Herleitung der Weltgeschichte aus dem Begriff, sondern eine
gewissenhafte Aufzeichnung dessen, was wir durch strenge gründliche Kritik erforscht
haben; nicht eine Phänomenologie der Ideen, die einander übergehen, son¬
dern ein Nachweis von der Integrität und Festigkeit des Kerns dieser Ideen,
der Nachweis, daß im Wesentlichen die Begriffe gut und vernünftig zu allen
Zeiten dieselbe Basis haben, ist der leitende Gedanke dieses Buchs. Aber
was eS von den frühern Pragmatikern unterscheidet, ist die Freude an der
Fülle und Mannigfaltigkeit der Erscheinung und das Talent, die verschieden¬
artigsten Lebensäußerungen in einem großen Gemälde zusammenzufassen. Indem
Duncker ein Volk des Alterthums nach dem andern uns vorführt, sucht er ein
vollständiges Culturgemälde, so weit es die Quellen möglich machen, zu ent¬
werfen: er beschreibt die Natur des Landes, die Gewohnheiten des täglichen
Lebens, er analysirt die Religion nicht blos in ihren Gedanken und Borstel¬
lungen, sondern in ihren Gebräuchen, in ihrem Verhältniß zum öffentlichen
Leben überhaupt, er beschreibt ihre beveutendsten Kunstwerke, ihre Entstehung,
ihren Zweck, er wendet sich an die Dichter und stellt wo möglich mit ihren
eignen Worten den Kreis der Ideen und Bilder dar, den die Besten und
Klügsten des Volkes gleichsam als Seher der Nachwelt überlieferten. Indem
er dann auf die politische Geschichte übergeht, sucht er, gestützt auf die Regeln,
die eine eingehende Vergleichung der verschiedensten Culturformen dem moder¬
nen Historiker möglich macht, auch das Detail nicht blos zu verstehen, son¬
dern zu vergegenwärtigen, die Verfassungen, die politischen Debatten, dann
die Einrichtung der Heere, die Schlachten u. s. w. Das Alles verräth einen
Kenner, der sich nicht mit den Erzählungen der alten Schriftsteller begnügt,
sondern der in der ernsten Schule des Lebens gelernt hat, auch in der ver¬
wickelten, ungeordneten Massenwirkung den innern Zusammenhang und daS
leitende Motiv herauszufinden.

Abgesehen von den Vorzügen, die aus einer solchen Auffassung der Ge¬
schichte für das Kunstwerk entspringen, ist namentlich auf die pädagogische
Bedeutung des Buchs hinzuweisen. Es ist recht eigentlich für den Theil der
Jugend geschrieben, der so weit vorbereitet ist, daß er über die Hauptpunkte
der Geschichte keine Aufklärung mehr bedarf, der aber die Frische noch bewahrt,
sich in ungewohnte Farben und Linien zu finden und die kräftige Zuversicht, aus
einem geistvolle» und. gründlichen Gemälde der Vergangenheit auch diebleiben¬
den Ideen zu entnehmen, die ihn selbst bei seinen Bestrebungen zu leiten haben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/244>, abgerufen am 23.07.2024.