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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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angelegenheiten gezogen, oder in die Geschäfte der höchsten Verwaltung ein¬
geführt worden. Bis zum Jahr 1818 hatte er sogar durchaus.keine dienst¬
lichen Beschäftigungen und seine ganze Bekanntschaft mit der Welt beschränkte
sich auf die Eindrücke, welche er bei sich davon trug, wenn er jeden Morgen eine
Stunde oder mehr in dem Vorzimmer des Palastes, oder in dem Zimmer des
Secretärs zubrachte inmitten einer lärmenden Versammlung von Offizieren
und andern Personen, die beim Kaiser Zutritt hatten und sich hier größten-
theils mit Späßen und Spöttereien, zuweilen mit Intrigue" zerstreuten.

Also noch drei Jahre, nachdem man ihm seinen hohen Beruf verkündet,
hatte man ihm keine Gelegenheit gegeben, sich auf denselben vorzubereiten
und die Sache wurde überhaupt nicht wieder berührt. -- Erst im Februar
1822 veranlaßte der Kaiser seinen Bruder Konstantin in einem Schreiben,
das er eigenhändig corrigirte, ihm seinen Entschluß officiell mitzutheilen, und
gab in einem gleichfalls officiellen Schreiben demselben seine Bestätigung.
Von diesem wichtigen Actenstück wurde dem Großfürsten Nikolaus nichts mit¬
getheilt, es blieb ein Geheimniß zwischen den beiden Brüdern. Erst im
Sommer 1823 ließ der Kaiser ein Manifest ausfertigen, in welchem er die
Entsagung seines Bruders Konstantin und die Thronfolge von Nikolaus
gesetzlich feststellte. Durch die verwickeltsten Maßregeln wurde auch über diese
Angelegenheit das tiefste Geheimniß gebreitet. Weder Nikolaus noch Kon¬
stantin wußten davon und die beiden Reichsrathe, die bei der Ausfertigung
betheiligt waren, wurden auf das strengste verpflichtet, nichts darüber zu
sagen. Selbst ihnen wurde die Sache bedenklich, einer derselben wagte ein¬
mal dem Kaiser zu bemerken, daß es unzweckmäßig sei, Acte, welche die
Thronfolge abänderten, bei längerer Abwesenheit unpublicirt zu lassen
und welche Gefahr im Falle eines Unglücks hieraus entstehen könne.
Alexander schien zuerst von der Nichtigkeit dieser Bemerkung betroffen, aber
nach kurzem Stillschweigen erhob er die Hand zum Himmel und sagte leise:
Stellen wir es Gott anheim! er weiß besser als w ir Sterblicher was
er verhängen soll.

Dieser Mysticismus war in der That der einzige Grund für diese unbe¬
greifliche Handlungsweise. Kaiser Nikolaus und die übrigen Versasser der
vorliegenden Schrift haben vielfach darüber nachgedacht, sie haben aber keine
andere Erklärung gefunden als den eigenthümlichen Charakter Alexanders.
"Wir wissen, daß eines der von ihm am häufigsten angewendeten Sprich¬
wörter, an das er sich auch in der That hielt, das war: zehnmal überlegt, ehe
einmal gethan."

Bei dem plötzlichen Ableben deS Kaisers Alexander war sein Bruder Niko¬
laus in Petersburg, Konstantin in Warschau, an eine unmittelbare Commu-
nication also nicht zu denken, und die Sachlage war folgende. Nach altrusfi-


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angelegenheiten gezogen, oder in die Geschäfte der höchsten Verwaltung ein¬
geführt worden. Bis zum Jahr 1818 hatte er sogar durchaus.keine dienst¬
lichen Beschäftigungen und seine ganze Bekanntschaft mit der Welt beschränkte
sich auf die Eindrücke, welche er bei sich davon trug, wenn er jeden Morgen eine
Stunde oder mehr in dem Vorzimmer des Palastes, oder in dem Zimmer des
Secretärs zubrachte inmitten einer lärmenden Versammlung von Offizieren
und andern Personen, die beim Kaiser Zutritt hatten und sich hier größten-
theils mit Späßen und Spöttereien, zuweilen mit Intrigue» zerstreuten.

Also noch drei Jahre, nachdem man ihm seinen hohen Beruf verkündet,
hatte man ihm keine Gelegenheit gegeben, sich auf denselben vorzubereiten
und die Sache wurde überhaupt nicht wieder berührt. — Erst im Februar
1822 veranlaßte der Kaiser seinen Bruder Konstantin in einem Schreiben,
das er eigenhändig corrigirte, ihm seinen Entschluß officiell mitzutheilen, und
gab in einem gleichfalls officiellen Schreiben demselben seine Bestätigung.
Von diesem wichtigen Actenstück wurde dem Großfürsten Nikolaus nichts mit¬
getheilt, es blieb ein Geheimniß zwischen den beiden Brüdern. Erst im
Sommer 1823 ließ der Kaiser ein Manifest ausfertigen, in welchem er die
Entsagung seines Bruders Konstantin und die Thronfolge von Nikolaus
gesetzlich feststellte. Durch die verwickeltsten Maßregeln wurde auch über diese
Angelegenheit das tiefste Geheimniß gebreitet. Weder Nikolaus noch Kon¬
stantin wußten davon und die beiden Reichsrathe, die bei der Ausfertigung
betheiligt waren, wurden auf das strengste verpflichtet, nichts darüber zu
sagen. Selbst ihnen wurde die Sache bedenklich, einer derselben wagte ein¬
mal dem Kaiser zu bemerken, daß es unzweckmäßig sei, Acte, welche die
Thronfolge abänderten, bei längerer Abwesenheit unpublicirt zu lassen
und welche Gefahr im Falle eines Unglücks hieraus entstehen könne.
Alexander schien zuerst von der Nichtigkeit dieser Bemerkung betroffen, aber
nach kurzem Stillschweigen erhob er die Hand zum Himmel und sagte leise:
Stellen wir es Gott anheim! er weiß besser als w ir Sterblicher was
er verhängen soll.

Dieser Mysticismus war in der That der einzige Grund für diese unbe¬
greifliche Handlungsweise. Kaiser Nikolaus und die übrigen Versasser der
vorliegenden Schrift haben vielfach darüber nachgedacht, sie haben aber keine
andere Erklärung gefunden als den eigenthümlichen Charakter Alexanders.
„Wir wissen, daß eines der von ihm am häufigsten angewendeten Sprich¬
wörter, an das er sich auch in der That hielt, das war: zehnmal überlegt, ehe
einmal gethan."

Bei dem plötzlichen Ableben deS Kaisers Alexander war sein Bruder Niko¬
laus in Petersburg, Konstantin in Warschau, an eine unmittelbare Commu-
nication also nicht zu denken, und die Sachlage war folgende. Nach altrusfi-


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[0147] angelegenheiten gezogen, oder in die Geschäfte der höchsten Verwaltung ein¬ geführt worden. Bis zum Jahr 1818 hatte er sogar durchaus.keine dienst¬ lichen Beschäftigungen und seine ganze Bekanntschaft mit der Welt beschränkte sich auf die Eindrücke, welche er bei sich davon trug, wenn er jeden Morgen eine Stunde oder mehr in dem Vorzimmer des Palastes, oder in dem Zimmer des Secretärs zubrachte inmitten einer lärmenden Versammlung von Offizieren und andern Personen, die beim Kaiser Zutritt hatten und sich hier größten- theils mit Späßen und Spöttereien, zuweilen mit Intrigue» zerstreuten. Also noch drei Jahre, nachdem man ihm seinen hohen Beruf verkündet, hatte man ihm keine Gelegenheit gegeben, sich auf denselben vorzubereiten und die Sache wurde überhaupt nicht wieder berührt. — Erst im Februar 1822 veranlaßte der Kaiser seinen Bruder Konstantin in einem Schreiben, das er eigenhändig corrigirte, ihm seinen Entschluß officiell mitzutheilen, und gab in einem gleichfalls officiellen Schreiben demselben seine Bestätigung. Von diesem wichtigen Actenstück wurde dem Großfürsten Nikolaus nichts mit¬ getheilt, es blieb ein Geheimniß zwischen den beiden Brüdern. Erst im Sommer 1823 ließ der Kaiser ein Manifest ausfertigen, in welchem er die Entsagung seines Bruders Konstantin und die Thronfolge von Nikolaus gesetzlich feststellte. Durch die verwickeltsten Maßregeln wurde auch über diese Angelegenheit das tiefste Geheimniß gebreitet. Weder Nikolaus noch Kon¬ stantin wußten davon und die beiden Reichsrathe, die bei der Ausfertigung betheiligt waren, wurden auf das strengste verpflichtet, nichts darüber zu sagen. Selbst ihnen wurde die Sache bedenklich, einer derselben wagte ein¬ mal dem Kaiser zu bemerken, daß es unzweckmäßig sei, Acte, welche die Thronfolge abänderten, bei längerer Abwesenheit unpublicirt zu lassen und welche Gefahr im Falle eines Unglücks hieraus entstehen könne. Alexander schien zuerst von der Nichtigkeit dieser Bemerkung betroffen, aber nach kurzem Stillschweigen erhob er die Hand zum Himmel und sagte leise: Stellen wir es Gott anheim! er weiß besser als w ir Sterblicher was er verhängen soll. Dieser Mysticismus war in der That der einzige Grund für diese unbe¬ greifliche Handlungsweise. Kaiser Nikolaus und die übrigen Versasser der vorliegenden Schrift haben vielfach darüber nachgedacht, sie haben aber keine andere Erklärung gefunden als den eigenthümlichen Charakter Alexanders. „Wir wissen, daß eines der von ihm am häufigsten angewendeten Sprich¬ wörter, an das er sich auch in der That hielt, das war: zehnmal überlegt, ehe einmal gethan." Bei dem plötzlichen Ableben deS Kaisers Alexander war sein Bruder Niko¬ laus in Petersburg, Konstantin in Warschau, an eine unmittelbare Commu- nication also nicht zu denken, und die Sachlage war folgende. Nach altrusfi- 48*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/147>, abgerufen am 18.06.2024.