Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lassen sich doch durch kein Absperrungssyftem abwenden, und wenn sie sich
zuerst in burlesken Formen äußerten, so kann doch wol einmal der Tag
kommen, wo sie auf die Pulsader des öffentlichen Lebens einwirken und in
den russischen Organismus ein neues Lebenselement einführen. Daß sie im
Jahre 182S auch nur für Augenblicke die Ruhe des Reichs erschüttern konnten,
lag freilich nur in einem Zusammentreffen der sonderbarsten Umstände, die
nicht leicht zum zweiten Mal vorkommen werden. In einer unbeschränkten
Monarchie, wo der Kaiser mit viel größerm Recht als Ludwig XIV. von sich
sagen kann, er sei ausschließlich der Staat, war man Wochen, ja Monate
lang in Unwissenheit, wer Kaiser sei. Niemand wußte es, selbst derjenige
nicht, dem die Krone zufiel. Der Grund dieser Verwirrung lag in dem
eigenthümlichen Charakter Kniser Alexanders, einem der merkwürdigsten in der
neueren Geschichte. Aus diesen Charakter werfen die mitgetheilten Actenstücke
ein überraschendes Licht.

Als 18jähriger Großfürst schreibt er 1796 an seinen Freund Kotschubei,
den Gesandten in^Konstantinopel: "Ja mein Freund, ich wiederhole es, ich bin
mit meiner Lage durchaus nicht zufrieden, sie ist viel zu glänzend für meinen
Charakter, der nur die Ruhe und den Frieden liebt. Der Hof ist kein
Aufenthalt sür mich geschaffen; ich leite, wenn ich an demselben erscheinen
muß, und es macht mir jedes Mal böses Blut, wenn ich die Erbärmlichkeiten
sehe, die man jeden Augenblick begeht, um eine Auszeichnung zu erlangen,
für die ich nicht drei Sous geben würde. Ich bin unglücklich, mit Leuten in
Gesellschaft sein zu müssen, die ich nicht zu Bedienten möchte und die hier
Dienststellen haben. Kurz, mein Freund, ich fühle mich durchaus nicht für den
Platz geschaffen, den ich jetzt einnehme und noch weniger sür den, der mir
eines Tags bestimmt ist und auf den ich mir geschworen habe zu verzichten,
sei es auf die eine oder die andere Weise . . . .- Das ist, mein Freund, das
große Geheimniß, welches ich Ihnen schon so lange mittheilen wollte und
wegen dessen ich nicht nöthig habe, Ihnen die Geheimhaltung anzuempfehlen,
denn Sie wissen, eS ist eine Sache, die mich theuer zu stehn kommen könnte.
. . . Ich habe diesen Gegenstand viel und von allen Seilen bedacht, denn
ich muß Ihnen sagen, daß mir der erste Gedanke daran gekommen ist, ehe ich
Sie kannte und ich habe nicht gezögert, meinen jetzigen Entschluß zu fassen
. . . Unsere Angelegenheiten sind in unglaublicher Unordnung; man stiehlt
allerwärts; qlle Departements sind schlecht verwaltet, die Ordnung fehlt
überall und der Staat vergrößert fortwährend seine Grenzen: wie soll also ein
einziger Mensch im Stande sein, ihn zu regieren und noch viel mehr die
Mißbräuche abzustellen? das ist nicht allein für einen Mann von gewöhnlichen
Fähigkeiten wie ich, sondern selbst für ein Genie unmöglich, und es ist immer
mein Grundsatz gewesen, sich mit einer Aufgabe lieber nicht zu befassen, als


GrenzbotmIV. 18S7. 18

lassen sich doch durch kein Absperrungssyftem abwenden, und wenn sie sich
zuerst in burlesken Formen äußerten, so kann doch wol einmal der Tag
kommen, wo sie auf die Pulsader des öffentlichen Lebens einwirken und in
den russischen Organismus ein neues Lebenselement einführen. Daß sie im
Jahre 182S auch nur für Augenblicke die Ruhe des Reichs erschüttern konnten,
lag freilich nur in einem Zusammentreffen der sonderbarsten Umstände, die
nicht leicht zum zweiten Mal vorkommen werden. In einer unbeschränkten
Monarchie, wo der Kaiser mit viel größerm Recht als Ludwig XIV. von sich
sagen kann, er sei ausschließlich der Staat, war man Wochen, ja Monate
lang in Unwissenheit, wer Kaiser sei. Niemand wußte es, selbst derjenige
nicht, dem die Krone zufiel. Der Grund dieser Verwirrung lag in dem
eigenthümlichen Charakter Kniser Alexanders, einem der merkwürdigsten in der
neueren Geschichte. Aus diesen Charakter werfen die mitgetheilten Actenstücke
ein überraschendes Licht.

Als 18jähriger Großfürst schreibt er 1796 an seinen Freund Kotschubei,
den Gesandten in^Konstantinopel: „Ja mein Freund, ich wiederhole es, ich bin
mit meiner Lage durchaus nicht zufrieden, sie ist viel zu glänzend für meinen
Charakter, der nur die Ruhe und den Frieden liebt. Der Hof ist kein
Aufenthalt sür mich geschaffen; ich leite, wenn ich an demselben erscheinen
muß, und es macht mir jedes Mal böses Blut, wenn ich die Erbärmlichkeiten
sehe, die man jeden Augenblick begeht, um eine Auszeichnung zu erlangen,
für die ich nicht drei Sous geben würde. Ich bin unglücklich, mit Leuten in
Gesellschaft sein zu müssen, die ich nicht zu Bedienten möchte und die hier
Dienststellen haben. Kurz, mein Freund, ich fühle mich durchaus nicht für den
Platz geschaffen, den ich jetzt einnehme und noch weniger sür den, der mir
eines Tags bestimmt ist und auf den ich mir geschworen habe zu verzichten,
sei es auf die eine oder die andere Weise . . . .- Das ist, mein Freund, das
große Geheimniß, welches ich Ihnen schon so lange mittheilen wollte und
wegen dessen ich nicht nöthig habe, Ihnen die Geheimhaltung anzuempfehlen,
denn Sie wissen, eS ist eine Sache, die mich theuer zu stehn kommen könnte.
. . . Ich habe diesen Gegenstand viel und von allen Seilen bedacht, denn
ich muß Ihnen sagen, daß mir der erste Gedanke daran gekommen ist, ehe ich
Sie kannte und ich habe nicht gezögert, meinen jetzigen Entschluß zu fassen
. . . Unsere Angelegenheiten sind in unglaublicher Unordnung; man stiehlt
allerwärts; qlle Departements sind schlecht verwaltet, die Ordnung fehlt
überall und der Staat vergrößert fortwährend seine Grenzen: wie soll also ein
einziger Mensch im Stande sein, ihn zu regieren und noch viel mehr die
Mißbräuche abzustellen? das ist nicht allein für einen Mann von gewöhnlichen
Fähigkeiten wie ich, sondern selbst für ein Genie unmöglich, und es ist immer
mein Grundsatz gewesen, sich mit einer Aufgabe lieber nicht zu befassen, als


GrenzbotmIV. 18S7. 18
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0145" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104880"/>
          <p xml:id="ID_417" prev="#ID_416"> lassen sich doch durch kein Absperrungssyftem abwenden, und wenn sie sich<lb/>
zuerst in burlesken Formen äußerten, so kann doch wol einmal der Tag<lb/>
kommen, wo sie auf die Pulsader des öffentlichen Lebens einwirken und in<lb/>
den russischen Organismus ein neues Lebenselement einführen. Daß sie im<lb/>
Jahre 182S auch nur für Augenblicke die Ruhe des Reichs erschüttern konnten,<lb/>
lag freilich nur in einem Zusammentreffen der sonderbarsten Umstände, die<lb/>
nicht leicht zum zweiten Mal vorkommen werden. In einer unbeschränkten<lb/>
Monarchie, wo der Kaiser mit viel größerm Recht als Ludwig XIV. von sich<lb/>
sagen kann, er sei ausschließlich der Staat, war man Wochen, ja Monate<lb/>
lang in Unwissenheit, wer Kaiser sei. Niemand wußte es, selbst derjenige<lb/>
nicht, dem die Krone zufiel. Der Grund dieser Verwirrung lag in dem<lb/>
eigenthümlichen Charakter Kniser Alexanders, einem der merkwürdigsten in der<lb/>
neueren Geschichte. Aus diesen Charakter werfen die mitgetheilten Actenstücke<lb/>
ein überraschendes Licht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_418" next="#ID_419"> Als 18jähriger Großfürst schreibt er 1796 an seinen Freund Kotschubei,<lb/>
den Gesandten in^Konstantinopel: &#x201E;Ja mein Freund, ich wiederhole es, ich bin<lb/>
mit meiner Lage durchaus nicht zufrieden, sie ist viel zu glänzend für meinen<lb/>
Charakter, der nur die Ruhe und den Frieden liebt. Der Hof ist kein<lb/>
Aufenthalt sür mich geschaffen; ich leite, wenn ich an demselben erscheinen<lb/>
muß, und es macht mir jedes Mal böses Blut, wenn ich die Erbärmlichkeiten<lb/>
sehe, die man jeden Augenblick begeht, um eine Auszeichnung zu erlangen,<lb/>
für die ich nicht drei Sous geben würde. Ich bin unglücklich, mit Leuten in<lb/>
Gesellschaft sein zu müssen, die ich nicht zu Bedienten möchte und die hier<lb/>
Dienststellen haben. Kurz, mein Freund, ich fühle mich durchaus nicht für den<lb/>
Platz geschaffen, den ich jetzt einnehme und noch weniger sür den, der mir<lb/>
eines Tags bestimmt ist und auf den ich mir geschworen habe zu verzichten,<lb/>
sei es auf die eine oder die andere Weise . . . .- Das ist, mein Freund, das<lb/>
große Geheimniß, welches ich Ihnen schon so lange mittheilen wollte und<lb/>
wegen dessen ich nicht nöthig habe, Ihnen die Geheimhaltung anzuempfehlen,<lb/>
denn Sie wissen, eS ist eine Sache, die mich theuer zu stehn kommen könnte.<lb/>
. . . Ich habe diesen Gegenstand viel und von allen Seilen bedacht, denn<lb/>
ich muß Ihnen sagen, daß mir der erste Gedanke daran gekommen ist, ehe ich<lb/>
Sie kannte und ich habe nicht gezögert, meinen jetzigen Entschluß zu fassen<lb/>
. . . Unsere Angelegenheiten sind in unglaublicher Unordnung; man stiehlt<lb/>
allerwärts; qlle Departements sind schlecht verwaltet, die Ordnung fehlt<lb/>
überall und der Staat vergrößert fortwährend seine Grenzen: wie soll also ein<lb/>
einziger Mensch im Stande sein, ihn zu regieren und noch viel mehr die<lb/>
Mißbräuche abzustellen? das ist nicht allein für einen Mann von gewöhnlichen<lb/>
Fähigkeiten wie ich, sondern selbst für ein Genie unmöglich, und es ist immer<lb/>
mein Grundsatz gewesen, sich mit einer Aufgabe lieber nicht zu befassen, als</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GrenzbotmIV. 18S7. 18</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0145] lassen sich doch durch kein Absperrungssyftem abwenden, und wenn sie sich zuerst in burlesken Formen äußerten, so kann doch wol einmal der Tag kommen, wo sie auf die Pulsader des öffentlichen Lebens einwirken und in den russischen Organismus ein neues Lebenselement einführen. Daß sie im Jahre 182S auch nur für Augenblicke die Ruhe des Reichs erschüttern konnten, lag freilich nur in einem Zusammentreffen der sonderbarsten Umstände, die nicht leicht zum zweiten Mal vorkommen werden. In einer unbeschränkten Monarchie, wo der Kaiser mit viel größerm Recht als Ludwig XIV. von sich sagen kann, er sei ausschließlich der Staat, war man Wochen, ja Monate lang in Unwissenheit, wer Kaiser sei. Niemand wußte es, selbst derjenige nicht, dem die Krone zufiel. Der Grund dieser Verwirrung lag in dem eigenthümlichen Charakter Kniser Alexanders, einem der merkwürdigsten in der neueren Geschichte. Aus diesen Charakter werfen die mitgetheilten Actenstücke ein überraschendes Licht. Als 18jähriger Großfürst schreibt er 1796 an seinen Freund Kotschubei, den Gesandten in^Konstantinopel: „Ja mein Freund, ich wiederhole es, ich bin mit meiner Lage durchaus nicht zufrieden, sie ist viel zu glänzend für meinen Charakter, der nur die Ruhe und den Frieden liebt. Der Hof ist kein Aufenthalt sür mich geschaffen; ich leite, wenn ich an demselben erscheinen muß, und es macht mir jedes Mal böses Blut, wenn ich die Erbärmlichkeiten sehe, die man jeden Augenblick begeht, um eine Auszeichnung zu erlangen, für die ich nicht drei Sous geben würde. Ich bin unglücklich, mit Leuten in Gesellschaft sein zu müssen, die ich nicht zu Bedienten möchte und die hier Dienststellen haben. Kurz, mein Freund, ich fühle mich durchaus nicht für den Platz geschaffen, den ich jetzt einnehme und noch weniger sür den, der mir eines Tags bestimmt ist und auf den ich mir geschworen habe zu verzichten, sei es auf die eine oder die andere Weise . . . .- Das ist, mein Freund, das große Geheimniß, welches ich Ihnen schon so lange mittheilen wollte und wegen dessen ich nicht nöthig habe, Ihnen die Geheimhaltung anzuempfehlen, denn Sie wissen, eS ist eine Sache, die mich theuer zu stehn kommen könnte. . . . Ich habe diesen Gegenstand viel und von allen Seilen bedacht, denn ich muß Ihnen sagen, daß mir der erste Gedanke daran gekommen ist, ehe ich Sie kannte und ich habe nicht gezögert, meinen jetzigen Entschluß zu fassen . . . Unsere Angelegenheiten sind in unglaublicher Unordnung; man stiehlt allerwärts; qlle Departements sind schlecht verwaltet, die Ordnung fehlt überall und der Staat vergrößert fortwährend seine Grenzen: wie soll also ein einziger Mensch im Stande sein, ihn zu regieren und noch viel mehr die Mißbräuche abzustellen? das ist nicht allein für einen Mann von gewöhnlichen Fähigkeiten wie ich, sondern selbst für ein Genie unmöglich, und es ist immer mein Grundsatz gewesen, sich mit einer Aufgabe lieber nicht zu befassen, als GrenzbotmIV. 18S7. 18

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/145
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/145>, abgerufen am 18.06.2024.