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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Volk sofort in Scharen, um an der Ergötzlichkeit Theil zunehmen. Kein Land
von denen, die wir kennen, hat in Städten wie in Dörfern so viel Gaukler
und Tänzer, nirgend fanden wir unter einer Gesellschaft die Gabe Grimassen
zu schneiden, Possenspiele aufzuführen und lustige Sprünge zu machen so reich¬
lich vertheilt, als unter den hartarbeitenden, dürstig genährten Matrosen, die
uns nach den Katarakten des Nil hinaufführten. Nirgend hörten wir so oft
als hier jenes baucherschütlernde Lachen, welches aus den tiefsten Tiefen deS
Herzensgrundes hervorzubrechen scheint. Mit dieser fast immer heitern Stim¬
mung hängt wol auch die ungemeine Lust zusammen, welche in Aegypten Alt
und Jung an Gesang hat. Kaum kann man durch eine der belebteren
Straßen Kairos gehen, ohne eine oder die andere Sängerin um Lohn singen
zu hören. Jedes Familienfest wohlhabender Leute wird damit gefeiert, daß im
Hofe Schulmeister ein Korancapitel oder Derwische eines ihrer mystischen Liebes¬
lieder absingen müssen. Unsre Matrosen sangen beim Rudern, beim Ziehen des Boo¬
tes, selbst bei dem höchst mühseligen Wegschieben desselben von Sandbänken,
und wenn der Abend ihnen Ruhe erlaubte, zogen sie eS statt zu schlafen vor,
noch stundenlang zum Schall der Darabuka, unablässig in die Hände klatschend,
ihre eintönigen Gesänge vorzutragen. Wo irgend ein Schiff beladen, ein
Haus gebaut, eine Last von Mehrern fortbewegt wird, ist man sicher ein Lied
im Chor zu hören. Sogar die langen Züge kleiner Kinder, die man bei
Bauten beschäftigt sieht, in Körben und Holzschüfseln Kalk und Mörtel fort¬
zutragen, thun ihre Arbeit unter unaufhörlichem Gesänge.

Auffallend ist ferner die bedeutende Rolle, welche Gott, Mohammed und
der Koran in der Redeweise der mittleren und zum Theil auch der untern
Classen spielen. Wenn der Kaufmann früh den Laden öffnet, der Schreiber
die Feder ansetzt, um ein Document oder auch nur einen Brief zu schreiben,
wenn ein Kranker Arznei einnimmt, ein Gesunder sich zu Tische setzt, so ge¬
schieht es in der Regel mit den Worten: "Im Namen Gottes, des All¬
barmherzigen." Wenn zwei Personen ein Geschäft von Bedeutung ab¬
schließen, so sprechen sie vorher gewöhnlich das erste Capitel deS Koran.
Wenn ein dritter zwei streitende zu besänftigen wünscht, so unterbricht
er sie oft mitten im wüthendsten Schimpfen mit dem Ausruf: "Segen
über den Propheten!" und sie antworten regelmäßig: "O Gott sei ihm gnädig!"
Wol ein Dutzend Mal des Tages geschah es, daß der Vorsänger unsrer
Matrosen während des Ruderns den Gesang mit der Frage unterbrach: "Was
ist die beste Religion?" Worauf alle im Chor erwiederten: "Der Islam!"
Alle andern Arbeiten waren von steten Anrufungen Mohammeds und anderer
Heiligen begleitet. Bei jeder Gelegenheit wird bei Gott, bei dem Propheten,
bei dem oder jenem berühmten Schech geschworen. Selbst in die großentheils
sehr frivolen, oft obscönen Liebeslieder mischen sich Gebete. Eines derselben


Volk sofort in Scharen, um an der Ergötzlichkeit Theil zunehmen. Kein Land
von denen, die wir kennen, hat in Städten wie in Dörfern so viel Gaukler
und Tänzer, nirgend fanden wir unter einer Gesellschaft die Gabe Grimassen
zu schneiden, Possenspiele aufzuführen und lustige Sprünge zu machen so reich¬
lich vertheilt, als unter den hartarbeitenden, dürstig genährten Matrosen, die
uns nach den Katarakten des Nil hinaufführten. Nirgend hörten wir so oft
als hier jenes baucherschütlernde Lachen, welches aus den tiefsten Tiefen deS
Herzensgrundes hervorzubrechen scheint. Mit dieser fast immer heitern Stim¬
mung hängt wol auch die ungemeine Lust zusammen, welche in Aegypten Alt
und Jung an Gesang hat. Kaum kann man durch eine der belebteren
Straßen Kairos gehen, ohne eine oder die andere Sängerin um Lohn singen
zu hören. Jedes Familienfest wohlhabender Leute wird damit gefeiert, daß im
Hofe Schulmeister ein Korancapitel oder Derwische eines ihrer mystischen Liebes¬
lieder absingen müssen. Unsre Matrosen sangen beim Rudern, beim Ziehen des Boo¬
tes, selbst bei dem höchst mühseligen Wegschieben desselben von Sandbänken,
und wenn der Abend ihnen Ruhe erlaubte, zogen sie eS statt zu schlafen vor,
noch stundenlang zum Schall der Darabuka, unablässig in die Hände klatschend,
ihre eintönigen Gesänge vorzutragen. Wo irgend ein Schiff beladen, ein
Haus gebaut, eine Last von Mehrern fortbewegt wird, ist man sicher ein Lied
im Chor zu hören. Sogar die langen Züge kleiner Kinder, die man bei
Bauten beschäftigt sieht, in Körben und Holzschüfseln Kalk und Mörtel fort¬
zutragen, thun ihre Arbeit unter unaufhörlichem Gesänge.

Auffallend ist ferner die bedeutende Rolle, welche Gott, Mohammed und
der Koran in der Redeweise der mittleren und zum Theil auch der untern
Classen spielen. Wenn der Kaufmann früh den Laden öffnet, der Schreiber
die Feder ansetzt, um ein Document oder auch nur einen Brief zu schreiben,
wenn ein Kranker Arznei einnimmt, ein Gesunder sich zu Tische setzt, so ge¬
schieht es in der Regel mit den Worten: „Im Namen Gottes, des All¬
barmherzigen." Wenn zwei Personen ein Geschäft von Bedeutung ab¬
schließen, so sprechen sie vorher gewöhnlich das erste Capitel deS Koran.
Wenn ein dritter zwei streitende zu besänftigen wünscht, so unterbricht
er sie oft mitten im wüthendsten Schimpfen mit dem Ausruf: „Segen
über den Propheten!" und sie antworten regelmäßig: „O Gott sei ihm gnädig!"
Wol ein Dutzend Mal des Tages geschah es, daß der Vorsänger unsrer
Matrosen während des Ruderns den Gesang mit der Frage unterbrach: „Was
ist die beste Religion?" Worauf alle im Chor erwiederten: „Der Islam!"
Alle andern Arbeiten waren von steten Anrufungen Mohammeds und anderer
Heiligen begleitet. Bei jeder Gelegenheit wird bei Gott, bei dem Propheten,
bei dem oder jenem berühmten Schech geschworen. Selbst in die großentheils
sehr frivolen, oft obscönen Liebeslieder mischen sich Gebete. Eines derselben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/462>, abgerufen am 12.12.2024.