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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Handels mit dem Auslande gewährten, der allerdings weder für die fehlende
Einfuhr des Salzes entschädigte, noch sich aus die livländischen FlachSbistricte
erstreckte, in welchen die Preise auf die Hälfte der Durchschnittssunune fielen
und viele Flachöhändler ihr Vermögen verloren. -- Im Ackerbausystem selbst
hat sich vieles in neuerer Zeit zum Vortheil umgestaltet; das Princip des
Fruchtwechsels mit Futterbau hat die alte Dreifelderwirthschaft fast allenthalben
verdrängt; in der Entwässerung der Moraste, welche noch ungefähr ein Viertel
des ganzen Landes einnehmen, hat man wenigstens Anfänge gemacht; in der
Bestellung der Felder durch Knechte statt der Frvhnbauern hat man an vielen
Orten Vortheil für den Besitzer gefunden, und es kann sein, daß der Egoismus
sich hier einmal ausnahmsweise als Beförderer der Humanität bewährt. Nur
zieht die Spärlichkeit der Vegetation und die Ungunst deS Klimas den Neue¬
rungen überall hemmende Grenzen, und Ausländer, auch junge Inländer, die
von ausländischen Lehranstalten zurückkehrend mit ihren Reformen zu vorschnell
zu Werke gingen, scheiterten oft an diesen Klippen und bestärkten nur die Al¬
ten in ihren festgewurzelten Gewohnheiten. Diese Kargheit der Natur und die
durch sie nothwendig gesteigerte Thätigkeit bei der Verwaltung der Güter
schärfen wol auf der einen Seite den Sinn für das Praktische und spornen die
Thatkraft an, auf der andern ziehen sie aber den Geist recht eigentlich zur
Mutter Erde, zur Materie hin und lassen alles Höhere in den Hintergrund treten.
Wir fühle" dies aus den Gesprächen der Männer heraus, noch ehe wir sie
näher kennen lernen; wir merken es vorzüglich aus ihren Urtheilen über Poli¬
tik, die hier auf dem Lande keinerlei Zwang unterliegen, wenn nicht ganz un¬
bekannte Personen sich unter der Gesellschaft befinden. Zuerst begegnen uns
die merkwürdigsten Widersprüche, wenn wir mit ihnen über ihr eignes Ver¬
hältniß zu Rußland sprechen. Sie rühmen sich ihrer deutschen Gesinnung,
ihres Festhaltens am deutschen Elemente; aber sie sind stolz auf die Macht des
russischen Reichs und bekennen laut ihr Wohlbehagen, demselben anzugehören;
sie verachten die Russen, hassen daS russische Wesen in Sitte und Sprache,
aber Söhne und Brüder dienen im russischen Heere und freuen sich über
Avancement und Orden; sie haben Furcht vor der drohenden Russificirung
und vor der Unerbittlichkeit des Regierungssystems, aber sie besitzen die größte
Anhänglichkeit an daS kaiserliche Haus. Die Erklärung dieser Anomalien ist
leicht. Es ist zuerst der aristokratische Egoismus, welcher den Adel hier an
die Fittige des nordischen SlUcrS kettet, weil derselbe sie noch am sichersten vor
dem Verluste ihrer exceptionelle" Stellung zu bewahren vermag, und es ist
eine Art selbstgefälliger Bequemlichkeit, welche an der Oberfläche der Verhält¬
nisse hasten bleibt, ohne in die Tiefe des Zusammenhanges einzudringen. -- Und
sie sind glücklich in dieser Passivität, ebenso glücklich, wie der Kranke, welcher
die Größe seiner Gefahr nicht ahnend, Hoffnungsschimmer und Lebenslust bis


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Handels mit dem Auslande gewährten, der allerdings weder für die fehlende
Einfuhr des Salzes entschädigte, noch sich aus die livländischen FlachSbistricte
erstreckte, in welchen die Preise auf die Hälfte der Durchschnittssunune fielen
und viele Flachöhändler ihr Vermögen verloren. — Im Ackerbausystem selbst
hat sich vieles in neuerer Zeit zum Vortheil umgestaltet; das Princip des
Fruchtwechsels mit Futterbau hat die alte Dreifelderwirthschaft fast allenthalben
verdrängt; in der Entwässerung der Moraste, welche noch ungefähr ein Viertel
des ganzen Landes einnehmen, hat man wenigstens Anfänge gemacht; in der
Bestellung der Felder durch Knechte statt der Frvhnbauern hat man an vielen
Orten Vortheil für den Besitzer gefunden, und es kann sein, daß der Egoismus
sich hier einmal ausnahmsweise als Beförderer der Humanität bewährt. Nur
zieht die Spärlichkeit der Vegetation und die Ungunst deS Klimas den Neue¬
rungen überall hemmende Grenzen, und Ausländer, auch junge Inländer, die
von ausländischen Lehranstalten zurückkehrend mit ihren Reformen zu vorschnell
zu Werke gingen, scheiterten oft an diesen Klippen und bestärkten nur die Al¬
ten in ihren festgewurzelten Gewohnheiten. Diese Kargheit der Natur und die
durch sie nothwendig gesteigerte Thätigkeit bei der Verwaltung der Güter
schärfen wol auf der einen Seite den Sinn für das Praktische und spornen die
Thatkraft an, auf der andern ziehen sie aber den Geist recht eigentlich zur
Mutter Erde, zur Materie hin und lassen alles Höhere in den Hintergrund treten.
Wir fühle« dies aus den Gesprächen der Männer heraus, noch ehe wir sie
näher kennen lernen; wir merken es vorzüglich aus ihren Urtheilen über Poli¬
tik, die hier auf dem Lande keinerlei Zwang unterliegen, wenn nicht ganz un¬
bekannte Personen sich unter der Gesellschaft befinden. Zuerst begegnen uns
die merkwürdigsten Widersprüche, wenn wir mit ihnen über ihr eignes Ver¬
hältniß zu Rußland sprechen. Sie rühmen sich ihrer deutschen Gesinnung,
ihres Festhaltens am deutschen Elemente; aber sie sind stolz auf die Macht des
russischen Reichs und bekennen laut ihr Wohlbehagen, demselben anzugehören;
sie verachten die Russen, hassen daS russische Wesen in Sitte und Sprache,
aber Söhne und Brüder dienen im russischen Heere und freuen sich über
Avancement und Orden; sie haben Furcht vor der drohenden Russificirung
und vor der Unerbittlichkeit des Regierungssystems, aber sie besitzen die größte
Anhänglichkeit an daS kaiserliche Haus. Die Erklärung dieser Anomalien ist
leicht. Es ist zuerst der aristokratische Egoismus, welcher den Adel hier an
die Fittige des nordischen SlUcrS kettet, weil derselbe sie noch am sichersten vor
dem Verluste ihrer exceptionelle» Stellung zu bewahren vermag, und es ist
eine Art selbstgefälliger Bequemlichkeit, welche an der Oberfläche der Verhält¬
nisse hasten bleibt, ohne in die Tiefe des Zusammenhanges einzudringen. — Und
sie sind glücklich in dieser Passivität, ebenso glücklich, wie der Kranke, welcher
die Größe seiner Gefahr nicht ahnend, Hoffnungsschimmer und Lebenslust bis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/315>, abgerufen am 22.07.2024.