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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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dauern oft schon mehre Tage nur zur Fahrt nach ihrem Districte brauchen.
Und mit wie kundiger Hand geht dann die große Masse ans Werk! Der eine
säet feinen Sand auf den mit Schnee bedeckten Pfad, als wäre es Klee,
der andere nimmt gröbere Steine und fährt sie in den Schlamm, um denselben
wenigstens etwas konsistenter zu machen -- die wenigsten kommen ihrer Schul¬
digkeit pünktlich und geschickt nach, und das Beste muß der Sommer thun,
welcher, nachdem Edelmann und Bauer den schuldigen Tribut an zertrümmer¬
ten Rädern und Gliedmaßen gezahlt haben, den austrocknenden Lehm zu einer
glatten Straße ebnet, die so lange es trocken bleibt nichts zu wünschen übrig
läßt. -- Wir gehen indeß nicht zu Fuße, denn das ist hier zu Lande nicht
Sitte und auch nicht gerathen, da man sich gegen das Verhungern nur durch
Mitnahme eines Brotsackes schützen könnte, indem die unreinlichen Krüge an
den Straßen außer Branntwein und saurem Biere nichts Genießbares bieten.
Den Ausländer befremdet auf einer solchen Fahrt am meisten die Leerheit der
Gegenden, die Seltenheit der Dörfer und Edelhofe, und es würde ein Punkt
zur Berühmtheit gelangen, von welchem aus man drei Kirchen auf einmal er¬
blicken könnte. Die alten Schlösser sind fast alle nicht mehr, theils von den
Russen gesprengt, theils vom A,leer zerbröckelt. Von der alten Bergfeste Fellin .
ragen nur noch einzelne Mauern empor; Wesenberg und Weißenstein liegen
in Trümmern; besser erhalten sind die Ruinen vom Schlosse Wenden, der
Residenz des HeermeisterS deS deutschen Ordens. Die einzige noch bewohnte
alte Burg i" Esthland ist Schloß Lo h de, welches einst die Belagerung Iwans
des Schrecklichen im -16. Jahrhundert rühmlich abschlug und noch heute zur
Erinnerung mit dessen Kugeln gespickt ist. Die neuere Zeit hat sich fast ganz
dem Holzbau zugewendet, weil der gewöhnliche Flußkalkstein zu feuchte Woh¬
nungen erzeugt und überhaupt steinerne Häuser als kalt verschrieen sind. Lieber
setzt man daher aus horizontal liegenden Balken das Haus zusammen, beklei¬
det sie außen mit Bretern und innen mit Ziegeln, verstopft und verklebt sorg¬
fältig die Doppelfenster und trotzt dann dem nordischen Winter, wenn anch
nicht dem sibirischen Nordoste mit bestem Erfolg. Diese Bauart duldet freilich
blos einstöckige Gebäude, da die Balken bei höhern Häusern leicht aus dem
Lotse weichen, und die meisten Wohnungen auf dem Lande, aber auch in D or-
pat und in den kleinen Städten haben eine niedrige, langgestreckte Gestalt. Die
Lage "der Gutsgebäude ist selten malerisch. Die Schuld davon trägt allerdings
die stiefmütterliche Natur, welche dieses Land nur am finnischen Meere mit
anmuthigem Rande säumte, im Westen aber die Meeresküste in glatten Sand,
>>n Innern die Seeufer in Sumpf und Morast verlaufen ließ und nur hier und
da pittoreske Punkte ausstreute. Allein die Hand des Menschen hätte doch im
Allgemein"! mehr zur Verschönerung wenigstens der nächsten Umgebung der


Grenzboten. III. -1867.

dauern oft schon mehre Tage nur zur Fahrt nach ihrem Districte brauchen.
Und mit wie kundiger Hand geht dann die große Masse ans Werk! Der eine
säet feinen Sand auf den mit Schnee bedeckten Pfad, als wäre es Klee,
der andere nimmt gröbere Steine und fährt sie in den Schlamm, um denselben
wenigstens etwas konsistenter zu machen — die wenigsten kommen ihrer Schul¬
digkeit pünktlich und geschickt nach, und das Beste muß der Sommer thun,
welcher, nachdem Edelmann und Bauer den schuldigen Tribut an zertrümmer¬
ten Rädern und Gliedmaßen gezahlt haben, den austrocknenden Lehm zu einer
glatten Straße ebnet, die so lange es trocken bleibt nichts zu wünschen übrig
läßt. — Wir gehen indeß nicht zu Fuße, denn das ist hier zu Lande nicht
Sitte und auch nicht gerathen, da man sich gegen das Verhungern nur durch
Mitnahme eines Brotsackes schützen könnte, indem die unreinlichen Krüge an
den Straßen außer Branntwein und saurem Biere nichts Genießbares bieten.
Den Ausländer befremdet auf einer solchen Fahrt am meisten die Leerheit der
Gegenden, die Seltenheit der Dörfer und Edelhofe, und es würde ein Punkt
zur Berühmtheit gelangen, von welchem aus man drei Kirchen auf einmal er¬
blicken könnte. Die alten Schlösser sind fast alle nicht mehr, theils von den
Russen gesprengt, theils vom A,leer zerbröckelt. Von der alten Bergfeste Fellin .
ragen nur noch einzelne Mauern empor; Wesenberg und Weißenstein liegen
in Trümmern; besser erhalten sind die Ruinen vom Schlosse Wenden, der
Residenz des HeermeisterS deS deutschen Ordens. Die einzige noch bewohnte
alte Burg i» Esthland ist Schloß Lo h de, welches einst die Belagerung Iwans
des Schrecklichen im -16. Jahrhundert rühmlich abschlug und noch heute zur
Erinnerung mit dessen Kugeln gespickt ist. Die neuere Zeit hat sich fast ganz
dem Holzbau zugewendet, weil der gewöhnliche Flußkalkstein zu feuchte Woh¬
nungen erzeugt und überhaupt steinerne Häuser als kalt verschrieen sind. Lieber
setzt man daher aus horizontal liegenden Balken das Haus zusammen, beklei¬
det sie außen mit Bretern und innen mit Ziegeln, verstopft und verklebt sorg¬
fältig die Doppelfenster und trotzt dann dem nordischen Winter, wenn anch
nicht dem sibirischen Nordoste mit bestem Erfolg. Diese Bauart duldet freilich
blos einstöckige Gebäude, da die Balken bei höhern Häusern leicht aus dem
Lotse weichen, und die meisten Wohnungen auf dem Lande, aber auch in D or-
pat und in den kleinen Städten haben eine niedrige, langgestreckte Gestalt. Die
Lage "der Gutsgebäude ist selten malerisch. Die Schuld davon trägt allerdings
die stiefmütterliche Natur, welche dieses Land nur am finnischen Meere mit
anmuthigem Rande säumte, im Westen aber die Meeresküste in glatten Sand,
>>n Innern die Seeufer in Sumpf und Morast verlaufen ließ und nur hier und
da pittoreske Punkte ausstreute. Allein die Hand des Menschen hätte doch im
Allgemein«! mehr zur Verschönerung wenigstens der nächsten Umgebung der


Grenzboten. III. -1867.
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[0313] dauern oft schon mehre Tage nur zur Fahrt nach ihrem Districte brauchen. Und mit wie kundiger Hand geht dann die große Masse ans Werk! Der eine säet feinen Sand auf den mit Schnee bedeckten Pfad, als wäre es Klee, der andere nimmt gröbere Steine und fährt sie in den Schlamm, um denselben wenigstens etwas konsistenter zu machen — die wenigsten kommen ihrer Schul¬ digkeit pünktlich und geschickt nach, und das Beste muß der Sommer thun, welcher, nachdem Edelmann und Bauer den schuldigen Tribut an zertrümmer¬ ten Rädern und Gliedmaßen gezahlt haben, den austrocknenden Lehm zu einer glatten Straße ebnet, die so lange es trocken bleibt nichts zu wünschen übrig läßt. — Wir gehen indeß nicht zu Fuße, denn das ist hier zu Lande nicht Sitte und auch nicht gerathen, da man sich gegen das Verhungern nur durch Mitnahme eines Brotsackes schützen könnte, indem die unreinlichen Krüge an den Straßen außer Branntwein und saurem Biere nichts Genießbares bieten. Den Ausländer befremdet auf einer solchen Fahrt am meisten die Leerheit der Gegenden, die Seltenheit der Dörfer und Edelhofe, und es würde ein Punkt zur Berühmtheit gelangen, von welchem aus man drei Kirchen auf einmal er¬ blicken könnte. Die alten Schlösser sind fast alle nicht mehr, theils von den Russen gesprengt, theils vom A,leer zerbröckelt. Von der alten Bergfeste Fellin . ragen nur noch einzelne Mauern empor; Wesenberg und Weißenstein liegen in Trümmern; besser erhalten sind die Ruinen vom Schlosse Wenden, der Residenz des HeermeisterS deS deutschen Ordens. Die einzige noch bewohnte alte Burg i» Esthland ist Schloß Lo h de, welches einst die Belagerung Iwans des Schrecklichen im -16. Jahrhundert rühmlich abschlug und noch heute zur Erinnerung mit dessen Kugeln gespickt ist. Die neuere Zeit hat sich fast ganz dem Holzbau zugewendet, weil der gewöhnliche Flußkalkstein zu feuchte Woh¬ nungen erzeugt und überhaupt steinerne Häuser als kalt verschrieen sind. Lieber setzt man daher aus horizontal liegenden Balken das Haus zusammen, beklei¬ det sie außen mit Bretern und innen mit Ziegeln, verstopft und verklebt sorg¬ fältig die Doppelfenster und trotzt dann dem nordischen Winter, wenn anch nicht dem sibirischen Nordoste mit bestem Erfolg. Diese Bauart duldet freilich blos einstöckige Gebäude, da die Balken bei höhern Häusern leicht aus dem Lotse weichen, und die meisten Wohnungen auf dem Lande, aber auch in D or- pat und in den kleinen Städten haben eine niedrige, langgestreckte Gestalt. Die Lage "der Gutsgebäude ist selten malerisch. Die Schuld davon trägt allerdings die stiefmütterliche Natur, welche dieses Land nur am finnischen Meere mit anmuthigem Rande säumte, im Westen aber die Meeresküste in glatten Sand, >>n Innern die Seeufer in Sumpf und Morast verlaufen ließ und nur hier und da pittoreske Punkte ausstreute. Allein die Hand des Menschen hätte doch im Allgemein«! mehr zur Verschönerung wenigstens der nächsten Umgebung der Grenzboten. III. -1867.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/313>, abgerufen am 22.07.2024.