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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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griffe auffaßte uno aus dem letzten Zweck dös persönlichen, womöglich physischen
Wohlbefindens die gestimmte sittliche Ideenwelt herleitete. Der Leerheit dieses
Systems mußte durch eine scharfe Hervorhebung einer höhern, freien und selbst¬
ständigen Ideenwelt entgegengearbeitet werden. Auf der andern Seite mußte
man die Reaction bekämpfen, welche mit den Auswüchsen der Aufklärung auch
ihre gesunden, dauerhaften Früchte vernichten wollte. Hier hatte die Restau¬
ration durch ihre einseitige Parteirichtung der natürlichen Entwicklung Frank¬
reichs einen starken Stoß gegeben. Sie hielt sich selbst für eine schlagende
Widerlegung aller Ideen, welche die Ueberzeugung des 18. Jahrhunderts aus¬
gemacht hatten. Sie versprach, das Zeitalter von seinen Illusionen zu heilen,
indem sie alle seine Entdeckungen 'als nicht geschehen betrachtete, alle seine
Schöpfungen zertrat; sie sah in der Religion nicht den natürlichen Ausdruck
des Herzens, sondern gewissermaßen eine göttliche Zuchtruthe gegen den Zeit¬
geist, ein Mittel, die Neuerer in Schranken zu halten. Ein solches System
konnte wol Heuchler hervorbringen, aber keine Gläubigen.

Die restaurirte Kirche hatte sich wesentlich umgestaltet. Wenn man von
ihrer Verweltlichung im 18. Jahrhundert absieht, so hatte sie auch in ihrer
classischen Periode im 17. Jahrhundert sich gegen die Uebergriffe Roms sehr
entschieden verwahrt. Sie hatte als gallikanische Kirche den National¬
charakter vertreten, sie hatte in der Pflege der Wissenschaften, ja selbst der
Philosophie mit den Laien gewetteifert. Die Jansenisten, die zwar als
Sekte nur eine geringe Minderheit des Volkes bildeten, hatten doch auf die
Entwicklung der allgemeinen Cultur einen entscheidenden Einfluß ausgeübt,
der durch die Beziehungen Pascals zu Cartestus einerseits, andererseits zu
Bossuet charakterisirt wird. Von solchen Zugeständnissen war bei der neuen
Kirche nicht mehr die Rede. Aus Haß gegen die Ideen der Revolution ergab
sie sich unbedingt dem Ultramontanismus; sie verleugnete alles Nationalgefühl
und alle Bildung und stellte in dem Feldzuge gegen die Philosophie die Je¬
suiten an ihre Spitze. So schnell konnten die gebildeten Classen des Volkes
ihre Erinnerungen und ihre heiligsten Traditionen nicht von sich werfen, und
eS war begreiflich, daß ein neuer Janscnismus auftauchte, der mit der Reli¬
gion das Nationalgefühl, mit dem Cultus die Freiheit, mit der Andacht die
Bildung zu vereinigen suchte. Die Beziehungen der neuen Schule zum Jan-
scnismuS sind nicht blos äußerlich. Wenn ihre Hauptvertreter aus den alten
jansenistischen Familien hervorgingen, so stimmte dieser Zufall mit ihrer wahren
Stellung innerhalb der Geschichte überein; mit den Jansenisten und wenn wir
weiter gehen wollen mit den Protestanten, theilten sie das Streben, das Herz
mit dem religiösen Gefühl zu durchdringen und eS zur Basis, des Sitten-
gesetzes zu machen, während ihre "Gegner hauptsächlich die Phantasie beschäf¬
tigten und eine heilige Moral von der irdischen unterschieden. Freilich fehlte


griffe auffaßte uno aus dem letzten Zweck dös persönlichen, womöglich physischen
Wohlbefindens die gestimmte sittliche Ideenwelt herleitete. Der Leerheit dieses
Systems mußte durch eine scharfe Hervorhebung einer höhern, freien und selbst¬
ständigen Ideenwelt entgegengearbeitet werden. Auf der andern Seite mußte
man die Reaction bekämpfen, welche mit den Auswüchsen der Aufklärung auch
ihre gesunden, dauerhaften Früchte vernichten wollte. Hier hatte die Restau¬
ration durch ihre einseitige Parteirichtung der natürlichen Entwicklung Frank¬
reichs einen starken Stoß gegeben. Sie hielt sich selbst für eine schlagende
Widerlegung aller Ideen, welche die Ueberzeugung des 18. Jahrhunderts aus¬
gemacht hatten. Sie versprach, das Zeitalter von seinen Illusionen zu heilen,
indem sie alle seine Entdeckungen 'als nicht geschehen betrachtete, alle seine
Schöpfungen zertrat; sie sah in der Religion nicht den natürlichen Ausdruck
des Herzens, sondern gewissermaßen eine göttliche Zuchtruthe gegen den Zeit¬
geist, ein Mittel, die Neuerer in Schranken zu halten. Ein solches System
konnte wol Heuchler hervorbringen, aber keine Gläubigen.

Die restaurirte Kirche hatte sich wesentlich umgestaltet. Wenn man von
ihrer Verweltlichung im 18. Jahrhundert absieht, so hatte sie auch in ihrer
classischen Periode im 17. Jahrhundert sich gegen die Uebergriffe Roms sehr
entschieden verwahrt. Sie hatte als gallikanische Kirche den National¬
charakter vertreten, sie hatte in der Pflege der Wissenschaften, ja selbst der
Philosophie mit den Laien gewetteifert. Die Jansenisten, die zwar als
Sekte nur eine geringe Minderheit des Volkes bildeten, hatten doch auf die
Entwicklung der allgemeinen Cultur einen entscheidenden Einfluß ausgeübt,
der durch die Beziehungen Pascals zu Cartestus einerseits, andererseits zu
Bossuet charakterisirt wird. Von solchen Zugeständnissen war bei der neuen
Kirche nicht mehr die Rede. Aus Haß gegen die Ideen der Revolution ergab
sie sich unbedingt dem Ultramontanismus; sie verleugnete alles Nationalgefühl
und alle Bildung und stellte in dem Feldzuge gegen die Philosophie die Je¬
suiten an ihre Spitze. So schnell konnten die gebildeten Classen des Volkes
ihre Erinnerungen und ihre heiligsten Traditionen nicht von sich werfen, und
eS war begreiflich, daß ein neuer Janscnismus auftauchte, der mit der Reli¬
gion das Nationalgefühl, mit dem Cultus die Freiheit, mit der Andacht die
Bildung zu vereinigen suchte. Die Beziehungen der neuen Schule zum Jan-
scnismuS sind nicht blos äußerlich. Wenn ihre Hauptvertreter aus den alten
jansenistischen Familien hervorgingen, so stimmte dieser Zufall mit ihrer wahren
Stellung innerhalb der Geschichte überein; mit den Jansenisten und wenn wir
weiter gehen wollen mit den Protestanten, theilten sie das Streben, das Herz
mit dem religiösen Gefühl zu durchdringen und eS zur Basis, des Sitten-
gesetzes zu machen, während ihre „Gegner hauptsächlich die Phantasie beschäf¬
tigten und eine heilige Moral von der irdischen unterschieden. Freilich fehlte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/252>, abgerufen am 22.07.2024.