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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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zogen; als wir dies nachträglich thaten, fanden wir ju unserer Ueberraschung,
daß sie vollkommen mit dem übereinstimmt, was Riemer über die Zeit ihrer Ab¬
fassung anführt. Er erzählt nämlich, das sacrarium der von ihm "Eginhard"
betitelten Tragödie sei ihm selbst von Goethe, der dieselbe schon früher concipirt
gehabt, dictirt worden und es habe Goethe dieser Tragödie zulieb noch 1810
Eginhards Leben Karls deS Großen und Turpins Chronik studirt. *) Riemer
kam 1803 in Goethes Haus, also kann jenes Dictiren in keinen frühern Zeit¬
punkt fallen und daß es lange vor 1810 geschah, geht daraus hervor, daß
Riemer die Beschäftigung damit im Jahr 1810 durch das Wörtchen "noch"
unzweideutig als eine viel später als das Dictiren statthabende erwähnt. Ist
es aber auch nicht wahrscheinlich, daß Goethe sieben Jahr um den Gegenstand
sich bemüht habe, ohne etwas Weiteres, als die wenigen Bruchstücke hervor¬
zubringen, und können wir diese Beschäftigung unter den obwaltenden Umstän¬
den auf höchstens drei Jahr beschränken, so werden wir mit der Entstehung
der Tragödienfragmente ebenso wie mit einem Bühnenwerkversuch nach Calde-
ron auf das Jahr 1807 hingeleitet.

Fassen wir das Ergebniß der hiermit geschlossenen Untersuchung zusammen,
so ist es, daß die für Goethe, seiner Natur nach, bestehende Nothwendigkeit,
eine Schöpfung im Geiste Calderons zu unternehmen, die in den Tragödien-
sragmenten zu erkennenden dramatischen Formen, der in denselben angedeutete
Stoff und die Zeit ihrer Abfassung gleichmäßig darauf hinführen, daß diese
Fragmente in der Absicht, ein Schauspiel im spanischen Stil zu schreiben, ver¬
faßt wurden, und daß diese Absicht Goethes durch vie von allen Seiten kom¬
menden Anzeigen als völlig erwiesen anzusehen ist.

So hat denn Goethe, mancherlei ureigner Schöpfungen für die Bühne
nicht zu gedenken, nicht blos die classische Komödie und Tragödie der Franzo¬
sen, das Schäferspiel und die evmmecUa alsit'arte der Italiener, die Historien
Shakspeares, das altdeutsche Schauspiel, die Puppenkomödie, nach Lessings
Vorgang gebildete Bühnenstücke, das deutsche Singspiel, die Oper, die Komö¬
die und Tragödie der Hellenen, so wie Rousseaus Melodramen, sondern auch
das classische Schauspiel der Spanier in sich ausgenommen, verarbeitet, umge¬
staltet und zu neuer Erscheinung gebracht oder doch zu bringen versucht. Wenn
diese letzte Verarbeitung bisher noch in der Vielseitigkeit seiner bühnenschöpfe-
rischen Thätigkeit zu fehlen schien, mithin abermals eine Lücke in Goethes
Kunstleben ausgefüllt ist, und wenn wir ferner auch aus den wenigen Bruch¬
stücken zu erkennen vermögen, waS Goethe an Calderon nachahmenswürdig
fand und was nicht, so mag gegenwärtiger Nachweis nicht als nutzlos an¬
gesehen werden.



') Riemers Mittheilungen. B. 2, S. 622.
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zogen; als wir dies nachträglich thaten, fanden wir ju unserer Ueberraschung,
daß sie vollkommen mit dem übereinstimmt, was Riemer über die Zeit ihrer Ab¬
fassung anführt. Er erzählt nämlich, das sacrarium der von ihm „Eginhard"
betitelten Tragödie sei ihm selbst von Goethe, der dieselbe schon früher concipirt
gehabt, dictirt worden und es habe Goethe dieser Tragödie zulieb noch 1810
Eginhards Leben Karls deS Großen und Turpins Chronik studirt. *) Riemer
kam 1803 in Goethes Haus, also kann jenes Dictiren in keinen frühern Zeit¬
punkt fallen und daß es lange vor 1810 geschah, geht daraus hervor, daß
Riemer die Beschäftigung damit im Jahr 1810 durch das Wörtchen „noch"
unzweideutig als eine viel später als das Dictiren statthabende erwähnt. Ist
es aber auch nicht wahrscheinlich, daß Goethe sieben Jahr um den Gegenstand
sich bemüht habe, ohne etwas Weiteres, als die wenigen Bruchstücke hervor¬
zubringen, und können wir diese Beschäftigung unter den obwaltenden Umstän¬
den auf höchstens drei Jahr beschränken, so werden wir mit der Entstehung
der Tragödienfragmente ebenso wie mit einem Bühnenwerkversuch nach Calde-
ron auf das Jahr 1807 hingeleitet.

Fassen wir das Ergebniß der hiermit geschlossenen Untersuchung zusammen,
so ist es, daß die für Goethe, seiner Natur nach, bestehende Nothwendigkeit,
eine Schöpfung im Geiste Calderons zu unternehmen, die in den Tragödien-
sragmenten zu erkennenden dramatischen Formen, der in denselben angedeutete
Stoff und die Zeit ihrer Abfassung gleichmäßig darauf hinführen, daß diese
Fragmente in der Absicht, ein Schauspiel im spanischen Stil zu schreiben, ver¬
faßt wurden, und daß diese Absicht Goethes durch vie von allen Seiten kom¬
menden Anzeigen als völlig erwiesen anzusehen ist.

So hat denn Goethe, mancherlei ureigner Schöpfungen für die Bühne
nicht zu gedenken, nicht blos die classische Komödie und Tragödie der Franzo¬
sen, das Schäferspiel und die evmmecUa alsit'arte der Italiener, die Historien
Shakspeares, das altdeutsche Schauspiel, die Puppenkomödie, nach Lessings
Vorgang gebildete Bühnenstücke, das deutsche Singspiel, die Oper, die Komö¬
die und Tragödie der Hellenen, so wie Rousseaus Melodramen, sondern auch
das classische Schauspiel der Spanier in sich ausgenommen, verarbeitet, umge¬
staltet und zu neuer Erscheinung gebracht oder doch zu bringen versucht. Wenn
diese letzte Verarbeitung bisher noch in der Vielseitigkeit seiner bühnenschöpfe-
rischen Thätigkeit zu fehlen schien, mithin abermals eine Lücke in Goethes
Kunstleben ausgefüllt ist, und wenn wir ferner auch aus den wenigen Bruch¬
stücken zu erkennen vermögen, waS Goethe an Calderon nachahmenswürdig
fand und was nicht, so mag gegenwärtiger Nachweis nicht als nutzlos an¬
gesehen werden.



') Riemers Mittheilungen. B. 2, S. 622.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/499>, abgerufen am 01.09.2024.