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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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dem sie gesund oder verderbt sind, einen hoffnungsreichen oder trostlosen Blick
in unsere Zukunft eröffnen. Es handelt sich um eine ernste Frage. Sind die
Lebensbedingungen der Gesellschaft wirklich so, daß eine lebensfähige Indivi¬
dualität in Abwege gedrängt oder wenigstens dazu verleitet wird, so ist damit
jener Gesinnung Thor und Thür geöffnet, aus welcher die Revolutionen her¬
vorgehen; denn wenn der innerste Lebensnerv eines gesellschaftlichen Organis¬
mus angefressen ist , wird die kühlste Besonnenheit und die lebhafteste Achtung
vor allem Positiven nicht vor dem Wunsch einer Radicalcur d. h. einer Re¬
volution bewahren.

Und die Welt, die uns Alfred de Musset in seinen Poesien eröffnet, ist
nicht blos arg, sie ist entsetzlich; ja der Eindruck wird um so peinlicher, wenn
man überlegt, daß er die ersten seiner Gedichte, die in Bezug auf die Größe
des Talents wie auf die Abscheulichkeit des Stoffes, den spätern ebenbürtig
zur Seite stehen, in seinem 18. Jahr schrieb, und daß er später in der Reife
seiner männlichen Kraft, trotz vielfacher Versuche einer Sinnesänderung, stets
auf die nämlichen Probleme zurückkommt.

Wir weisen von vornherein den Verdacht einer einseitigen Moralität von
uns. Wir wissen sehr wohl, daß die Poesie eine andere Aufgabe hat, als den
Katechismus, daß sie ihren Beruf, menschliche Kraftentwicklung darzustellen,
nicht anders ausführen kann, als durch häufigen Conflict gegen das Sitten¬
gesetz. Die Conflicte zwischen der Leidenschaft, dem concentrirtesten Ausdruck
einer individuellen Natur, und dem Gesetz, welches die Gemeininteressen
der Gesellschaft vertritt, können zu tragischen Katastrophen führen, in denen
wir nicht blos unser Mitleid, sondern unsere innigste Theilnahme der frevel¬
haften Individualität schenken. Auch hier wird der Dichter die Aufgabe haben,
zuletzt den Conflict im Sinn unserer heiligsten Ueberzeugungen zu lösen, und
gleichviel welches der thatsächliche Ausgang ist, uns mit dem erhöhten Gefühl
des menschlichen Ideals zu durchdringen. Aber um diesen Conflict der Leiden¬
schaft und der Sitte handelt eS sich hier gar nicht. Es ist nicht die Leiden¬
schaft, die Alfred de Musset verherrlicht, oder zu seinem tragischen Gegenstand
nimmt, sondern das Laster in seiner widerwärtigsten Form, in einer cynischen
Nacktheit. Die Leidenschaft, auch wo sie zum Frevel führt, versöhnt uns durch
ihre Stärke, das Laster ist aber stets siech und schwächlich. Und daß hier
uicht von der Leidenschaft, sondern von dem bloßen Laster die Rede ist, dafür
wogen einige Züge aus seinen Dichtungen Bürgschaft leisten, die noch nicht
°>renat das Aergste enthalten.

Einer seiner Helden, Don Paez, erfährt, daß er von seiner Maitresse
betrogen ist; er tödtet zuerst den Nebenbuhler im Duell und beschließt, die
treulose Geliebte im letzten Kuß zu erwürgen. Um den letzten Act seines
Gebens mit dem nöthigen Raffinement auszuüben, geht er vorher zu einer


dem sie gesund oder verderbt sind, einen hoffnungsreichen oder trostlosen Blick
in unsere Zukunft eröffnen. Es handelt sich um eine ernste Frage. Sind die
Lebensbedingungen der Gesellschaft wirklich so, daß eine lebensfähige Indivi¬
dualität in Abwege gedrängt oder wenigstens dazu verleitet wird, so ist damit
jener Gesinnung Thor und Thür geöffnet, aus welcher die Revolutionen her¬
vorgehen; denn wenn der innerste Lebensnerv eines gesellschaftlichen Organis¬
mus angefressen ist , wird die kühlste Besonnenheit und die lebhafteste Achtung
vor allem Positiven nicht vor dem Wunsch einer Radicalcur d. h. einer Re¬
volution bewahren.

Und die Welt, die uns Alfred de Musset in seinen Poesien eröffnet, ist
nicht blos arg, sie ist entsetzlich; ja der Eindruck wird um so peinlicher, wenn
man überlegt, daß er die ersten seiner Gedichte, die in Bezug auf die Größe
des Talents wie auf die Abscheulichkeit des Stoffes, den spätern ebenbürtig
zur Seite stehen, in seinem 18. Jahr schrieb, und daß er später in der Reife
seiner männlichen Kraft, trotz vielfacher Versuche einer Sinnesänderung, stets
auf die nämlichen Probleme zurückkommt.

Wir weisen von vornherein den Verdacht einer einseitigen Moralität von
uns. Wir wissen sehr wohl, daß die Poesie eine andere Aufgabe hat, als den
Katechismus, daß sie ihren Beruf, menschliche Kraftentwicklung darzustellen,
nicht anders ausführen kann, als durch häufigen Conflict gegen das Sitten¬
gesetz. Die Conflicte zwischen der Leidenschaft, dem concentrirtesten Ausdruck
einer individuellen Natur, und dem Gesetz, welches die Gemeininteressen
der Gesellschaft vertritt, können zu tragischen Katastrophen führen, in denen
wir nicht blos unser Mitleid, sondern unsere innigste Theilnahme der frevel¬
haften Individualität schenken. Auch hier wird der Dichter die Aufgabe haben,
zuletzt den Conflict im Sinn unserer heiligsten Ueberzeugungen zu lösen, und
gleichviel welches der thatsächliche Ausgang ist, uns mit dem erhöhten Gefühl
des menschlichen Ideals zu durchdringen. Aber um diesen Conflict der Leiden¬
schaft und der Sitte handelt eS sich hier gar nicht. Es ist nicht die Leiden¬
schaft, die Alfred de Musset verherrlicht, oder zu seinem tragischen Gegenstand
nimmt, sondern das Laster in seiner widerwärtigsten Form, in einer cynischen
Nacktheit. Die Leidenschaft, auch wo sie zum Frevel führt, versöhnt uns durch
ihre Stärke, das Laster ist aber stets siech und schwächlich. Und daß hier
uicht von der Leidenschaft, sondern von dem bloßen Laster die Rede ist, dafür
wogen einige Züge aus seinen Dichtungen Bürgschaft leisten, die noch nicht
°>renat das Aergste enthalten.

Einer seiner Helden, Don Paez, erfährt, daß er von seiner Maitresse
betrogen ist; er tödtet zuerst den Nebenbuhler im Duell und beschließt, die
treulose Geliebte im letzten Kuß zu erwürgen. Um den letzten Act seines
Gebens mit dem nöthigen Raffinement auszuüben, geht er vorher zu einer


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[0421] dem sie gesund oder verderbt sind, einen hoffnungsreichen oder trostlosen Blick in unsere Zukunft eröffnen. Es handelt sich um eine ernste Frage. Sind die Lebensbedingungen der Gesellschaft wirklich so, daß eine lebensfähige Indivi¬ dualität in Abwege gedrängt oder wenigstens dazu verleitet wird, so ist damit jener Gesinnung Thor und Thür geöffnet, aus welcher die Revolutionen her¬ vorgehen; denn wenn der innerste Lebensnerv eines gesellschaftlichen Organis¬ mus angefressen ist , wird die kühlste Besonnenheit und die lebhafteste Achtung vor allem Positiven nicht vor dem Wunsch einer Radicalcur d. h. einer Re¬ volution bewahren. Und die Welt, die uns Alfred de Musset in seinen Poesien eröffnet, ist nicht blos arg, sie ist entsetzlich; ja der Eindruck wird um so peinlicher, wenn man überlegt, daß er die ersten seiner Gedichte, die in Bezug auf die Größe des Talents wie auf die Abscheulichkeit des Stoffes, den spätern ebenbürtig zur Seite stehen, in seinem 18. Jahr schrieb, und daß er später in der Reife seiner männlichen Kraft, trotz vielfacher Versuche einer Sinnesänderung, stets auf die nämlichen Probleme zurückkommt. Wir weisen von vornherein den Verdacht einer einseitigen Moralität von uns. Wir wissen sehr wohl, daß die Poesie eine andere Aufgabe hat, als den Katechismus, daß sie ihren Beruf, menschliche Kraftentwicklung darzustellen, nicht anders ausführen kann, als durch häufigen Conflict gegen das Sitten¬ gesetz. Die Conflicte zwischen der Leidenschaft, dem concentrirtesten Ausdruck einer individuellen Natur, und dem Gesetz, welches die Gemeininteressen der Gesellschaft vertritt, können zu tragischen Katastrophen führen, in denen wir nicht blos unser Mitleid, sondern unsere innigste Theilnahme der frevel¬ haften Individualität schenken. Auch hier wird der Dichter die Aufgabe haben, zuletzt den Conflict im Sinn unserer heiligsten Ueberzeugungen zu lösen, und gleichviel welches der thatsächliche Ausgang ist, uns mit dem erhöhten Gefühl des menschlichen Ideals zu durchdringen. Aber um diesen Conflict der Leiden¬ schaft und der Sitte handelt eS sich hier gar nicht. Es ist nicht die Leiden¬ schaft, die Alfred de Musset verherrlicht, oder zu seinem tragischen Gegenstand nimmt, sondern das Laster in seiner widerwärtigsten Form, in einer cynischen Nacktheit. Die Leidenschaft, auch wo sie zum Frevel führt, versöhnt uns durch ihre Stärke, das Laster ist aber stets siech und schwächlich. Und daß hier uicht von der Leidenschaft, sondern von dem bloßen Laster die Rede ist, dafür wogen einige Züge aus seinen Dichtungen Bürgschaft leisten, die noch nicht °>renat das Aergste enthalten. Einer seiner Helden, Don Paez, erfährt, daß er von seiner Maitresse betrogen ist; er tödtet zuerst den Nebenbuhler im Duell und beschließt, die treulose Geliebte im letzten Kuß zu erwürgen. Um den letzten Act seines Gebens mit dem nöthigen Raffinement auszuüben, geht er vorher zu einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/421>, abgerufen am 27.07.2024.