Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zweite Ritter und Mohren im Kampfe, eine dritte Scenen ans der Geschichte
des Oedipus und diese mit den Ziffern 1--6, und die Figuren darin durch
dazu geschnittene Namen bezeichnet. Die einzelnen größeren Formen sind durch
kleinere getrennt, auf denen arabeskenartige Zeichnungen theils Mädchenköpfc,
theils Ungeheuer, offenbar nach Erinnerungen aus der Antike gezeichnet, sind.

Aus der Tracht der Tanzenden und der Rüstung der Ritter ist sicher zu
erkennen, daß die Holzstempel um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in
Italien geschnitten sein müssen. Es ist die italienische Frauen- und Männer¬
tracht genau dieser Zeit, die Ritter tragen noch das Kettenhemd, an Ober¬
schenkel und Knie Eisenschienen u. s. w. Die Anordnung der Muster und die
sonstige Beschaffenheit des Leinwandfragments macht wahrscheinlich, daß es ein
Stück alter Tapete ist, wie sie im Mittelalter theils zur Bekleidung der Zim¬
merwände, theils zur Decoration bei Festlichkeiten beliebt waren. Möglich,
daß die Tapete einst in einem Zimmer des bischöflichen Palastes von Sitten
gehangen hat. Aus der künstlichen Mannigfaltigkeit und Anordnung der For¬
men und aus der Sicherheit der Arbeit läßt sich schließen, daß dieser Leinwand¬
druck kein neuer Versuch war5 und daß dergleichen Buntdrucke möglicherweise
schon lange vorher verfertigt wurden.

Man kannte also in Italien schon um das Jahr einen Farbendruck
mit Holzformen, durch welchen man Bild und Schrift vervielfältigte. Nun
aber ist bekannt, daß die Verfertigung der Holztafelbilder die erste Anregung
zur Buchdruckerkunst gegeben hat. Und in allen Werken über die Erfindung
der Holzschneide- und Buchdruckerkunst ist bis jetzt angenommen worden, daß
zuerst im Anfange des töten Jahrhunderts bei Fabrikation von Spielkarten
und Heiligenbildern die Benutzung von Holzformen erfunden worden sei und
zwar in Deutschland, und daß auf diese neue Erfindung bald die weitere ge¬
folgt sei, auch ganze Seiten Schrift in Holzstöcke zu schneiden, und daß man
von diesen auf die beweglichen Buchstaben gekommen sei. Die alte Lein¬
wand von Sitten wirft die Annahme über die Zeit und den deutschen Ursprung
der Erfindung vollständig um. Wir lernen aus dem Fragment, daß man in
Italien vielleicht schon ein Jahrhundert bevor in Deutschland Spielkarten ge¬
druckt wurden, der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht weniger nahe war,
und daß auch die größte Erfindung des Menschengeschlechts lange Zeit, wahr¬
scheinlich Jahrhunderte brauchte, ehe sie aus den ersten Anfängen den einen
entscheidenden Schritt that, durch welchen ihre mächtige und folgenschwere
Ausbildung gelang. An diese Beobachtung fügt sich eine andere, daß auch
die großen menschlichen Erfindungen nach innern Gesetzen aufblühen. So viel
der Zufall anrege, nicht er ist der Erfinder, sondern der von der Gottheit er¬
füllte, zweckvoll suchende Menschengeist. Erst als die kirchliche Welt des Mit-
telalters in den besten Köpfen durch den heidnischen Inhalt der römischen und


zweite Ritter und Mohren im Kampfe, eine dritte Scenen ans der Geschichte
des Oedipus und diese mit den Ziffern 1—6, und die Figuren darin durch
dazu geschnittene Namen bezeichnet. Die einzelnen größeren Formen sind durch
kleinere getrennt, auf denen arabeskenartige Zeichnungen theils Mädchenköpfc,
theils Ungeheuer, offenbar nach Erinnerungen aus der Antike gezeichnet, sind.

Aus der Tracht der Tanzenden und der Rüstung der Ritter ist sicher zu
erkennen, daß die Holzstempel um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in
Italien geschnitten sein müssen. Es ist die italienische Frauen- und Männer¬
tracht genau dieser Zeit, die Ritter tragen noch das Kettenhemd, an Ober¬
schenkel und Knie Eisenschienen u. s. w. Die Anordnung der Muster und die
sonstige Beschaffenheit des Leinwandfragments macht wahrscheinlich, daß es ein
Stück alter Tapete ist, wie sie im Mittelalter theils zur Bekleidung der Zim¬
merwände, theils zur Decoration bei Festlichkeiten beliebt waren. Möglich,
daß die Tapete einst in einem Zimmer des bischöflichen Palastes von Sitten
gehangen hat. Aus der künstlichen Mannigfaltigkeit und Anordnung der For¬
men und aus der Sicherheit der Arbeit läßt sich schließen, daß dieser Leinwand¬
druck kein neuer Versuch war5 und daß dergleichen Buntdrucke möglicherweise
schon lange vorher verfertigt wurden.

Man kannte also in Italien schon um das Jahr einen Farbendruck
mit Holzformen, durch welchen man Bild und Schrift vervielfältigte. Nun
aber ist bekannt, daß die Verfertigung der Holztafelbilder die erste Anregung
zur Buchdruckerkunst gegeben hat. Und in allen Werken über die Erfindung
der Holzschneide- und Buchdruckerkunst ist bis jetzt angenommen worden, daß
zuerst im Anfange des töten Jahrhunderts bei Fabrikation von Spielkarten
und Heiligenbildern die Benutzung von Holzformen erfunden worden sei und
zwar in Deutschland, und daß auf diese neue Erfindung bald die weitere ge¬
folgt sei, auch ganze Seiten Schrift in Holzstöcke zu schneiden, und daß man
von diesen auf die beweglichen Buchstaben gekommen sei. Die alte Lein¬
wand von Sitten wirft die Annahme über die Zeit und den deutschen Ursprung
der Erfindung vollständig um. Wir lernen aus dem Fragment, daß man in
Italien vielleicht schon ein Jahrhundert bevor in Deutschland Spielkarten ge¬
druckt wurden, der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht weniger nahe war,
und daß auch die größte Erfindung des Menschengeschlechts lange Zeit, wahr¬
scheinlich Jahrhunderte brauchte, ehe sie aus den ersten Anfängen den einen
entscheidenden Schritt that, durch welchen ihre mächtige und folgenschwere
Ausbildung gelang. An diese Beobachtung fügt sich eine andere, daß auch
die großen menschlichen Erfindungen nach innern Gesetzen aufblühen. So viel
der Zufall anrege, nicht er ist der Erfinder, sondern der von der Gottheit er¬
füllte, zweckvoll suchende Menschengeist. Erst als die kirchliche Welt des Mit-
telalters in den besten Köpfen durch den heidnischen Inhalt der römischen und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0397" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104064"/>
          <p xml:id="ID_1134" prev="#ID_1133"> zweite Ritter und Mohren im Kampfe, eine dritte Scenen ans der Geschichte<lb/>
des Oedipus und diese mit den Ziffern 1&#x2014;6, und die Figuren darin durch<lb/>
dazu geschnittene Namen bezeichnet. Die einzelnen größeren Formen sind durch<lb/>
kleinere getrennt, auf denen arabeskenartige Zeichnungen theils Mädchenköpfc,<lb/>
theils Ungeheuer, offenbar nach Erinnerungen aus der Antike gezeichnet, sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1135"> Aus der Tracht der Tanzenden und der Rüstung der Ritter ist sicher zu<lb/>
erkennen, daß die Holzstempel um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in<lb/>
Italien geschnitten sein müssen. Es ist die italienische Frauen- und Männer¬<lb/>
tracht genau dieser Zeit, die Ritter tragen noch das Kettenhemd, an Ober¬<lb/>
schenkel und Knie Eisenschienen u. s. w. Die Anordnung der Muster und die<lb/>
sonstige Beschaffenheit des Leinwandfragments macht wahrscheinlich, daß es ein<lb/>
Stück alter Tapete ist, wie sie im Mittelalter theils zur Bekleidung der Zim¬<lb/>
merwände, theils zur Decoration bei Festlichkeiten beliebt waren. Möglich,<lb/>
daß die Tapete einst in einem Zimmer des bischöflichen Palastes von Sitten<lb/>
gehangen hat. Aus der künstlichen Mannigfaltigkeit und Anordnung der For¬<lb/>
men und aus der Sicherheit der Arbeit läßt sich schließen, daß dieser Leinwand¬<lb/>
druck kein neuer Versuch war5 und daß dergleichen Buntdrucke möglicherweise<lb/>
schon lange vorher verfertigt wurden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1136" next="#ID_1137"> Man kannte also in Italien schon um das Jahr einen Farbendruck<lb/>
mit Holzformen, durch welchen man Bild und Schrift vervielfältigte. Nun<lb/>
aber ist bekannt, daß die Verfertigung der Holztafelbilder die erste Anregung<lb/>
zur Buchdruckerkunst gegeben hat. Und in allen Werken über die Erfindung<lb/>
der Holzschneide- und Buchdruckerkunst ist bis jetzt angenommen worden, daß<lb/>
zuerst im Anfange des töten Jahrhunderts bei Fabrikation von Spielkarten<lb/>
und Heiligenbildern die Benutzung von Holzformen erfunden worden sei und<lb/>
zwar in Deutschland, und daß auf diese neue Erfindung bald die weitere ge¬<lb/>
folgt sei, auch ganze Seiten Schrift in Holzstöcke zu schneiden, und daß man<lb/>
von diesen auf die beweglichen Buchstaben gekommen sei. Die alte Lein¬<lb/>
wand von Sitten wirft die Annahme über die Zeit und den deutschen Ursprung<lb/>
der Erfindung vollständig um. Wir lernen aus dem Fragment, daß man in<lb/>
Italien vielleicht schon ein Jahrhundert bevor in Deutschland Spielkarten ge¬<lb/>
druckt wurden, der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht weniger nahe war,<lb/>
und daß auch die größte Erfindung des Menschengeschlechts lange Zeit, wahr¬<lb/>
scheinlich Jahrhunderte brauchte, ehe sie aus den ersten Anfängen den einen<lb/>
entscheidenden Schritt that, durch welchen ihre mächtige und folgenschwere<lb/>
Ausbildung gelang. An diese Beobachtung fügt sich eine andere, daß auch<lb/>
die großen menschlichen Erfindungen nach innern Gesetzen aufblühen. So viel<lb/>
der Zufall anrege, nicht er ist der Erfinder, sondern der von der Gottheit er¬<lb/>
füllte, zweckvoll suchende Menschengeist. Erst als die kirchliche Welt des Mit-<lb/>
telalters in den besten Köpfen durch den heidnischen Inhalt der römischen und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0397] zweite Ritter und Mohren im Kampfe, eine dritte Scenen ans der Geschichte des Oedipus und diese mit den Ziffern 1—6, und die Figuren darin durch dazu geschnittene Namen bezeichnet. Die einzelnen größeren Formen sind durch kleinere getrennt, auf denen arabeskenartige Zeichnungen theils Mädchenköpfc, theils Ungeheuer, offenbar nach Erinnerungen aus der Antike gezeichnet, sind. Aus der Tracht der Tanzenden und der Rüstung der Ritter ist sicher zu erkennen, daß die Holzstempel um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in Italien geschnitten sein müssen. Es ist die italienische Frauen- und Männer¬ tracht genau dieser Zeit, die Ritter tragen noch das Kettenhemd, an Ober¬ schenkel und Knie Eisenschienen u. s. w. Die Anordnung der Muster und die sonstige Beschaffenheit des Leinwandfragments macht wahrscheinlich, daß es ein Stück alter Tapete ist, wie sie im Mittelalter theils zur Bekleidung der Zim¬ merwände, theils zur Decoration bei Festlichkeiten beliebt waren. Möglich, daß die Tapete einst in einem Zimmer des bischöflichen Palastes von Sitten gehangen hat. Aus der künstlichen Mannigfaltigkeit und Anordnung der For¬ men und aus der Sicherheit der Arbeit läßt sich schließen, daß dieser Leinwand¬ druck kein neuer Versuch war5 und daß dergleichen Buntdrucke möglicherweise schon lange vorher verfertigt wurden. Man kannte also in Italien schon um das Jahr einen Farbendruck mit Holzformen, durch welchen man Bild und Schrift vervielfältigte. Nun aber ist bekannt, daß die Verfertigung der Holztafelbilder die erste Anregung zur Buchdruckerkunst gegeben hat. Und in allen Werken über die Erfindung der Holzschneide- und Buchdruckerkunst ist bis jetzt angenommen worden, daß zuerst im Anfange des töten Jahrhunderts bei Fabrikation von Spielkarten und Heiligenbildern die Benutzung von Holzformen erfunden worden sei und zwar in Deutschland, und daß auf diese neue Erfindung bald die weitere ge¬ folgt sei, auch ganze Seiten Schrift in Holzstöcke zu schneiden, und daß man von diesen auf die beweglichen Buchstaben gekommen sei. Die alte Lein¬ wand von Sitten wirft die Annahme über die Zeit und den deutschen Ursprung der Erfindung vollständig um. Wir lernen aus dem Fragment, daß man in Italien vielleicht schon ein Jahrhundert bevor in Deutschland Spielkarten ge¬ druckt wurden, der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht weniger nahe war, und daß auch die größte Erfindung des Menschengeschlechts lange Zeit, wahr¬ scheinlich Jahrhunderte brauchte, ehe sie aus den ersten Anfängen den einen entscheidenden Schritt that, durch welchen ihre mächtige und folgenschwere Ausbildung gelang. An diese Beobachtung fügt sich eine andere, daß auch die großen menschlichen Erfindungen nach innern Gesetzen aufblühen. So viel der Zufall anrege, nicht er ist der Erfinder, sondern der von der Gottheit er¬ füllte, zweckvoll suchende Menschengeist. Erst als die kirchliche Welt des Mit- telalters in den besten Köpfen durch den heidnischen Inhalt der römischen und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/397
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/397>, abgerufen am 01.09.2024.