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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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sprechen und Handkehrum mit einem ältern Mann ein sehr ernstes Gespräch
führen. Er suchte jedem daS zu sein, was er glaubte, daS ihm am besten
entspreche. Seine Predigten sann er sich auf seinen Spaziergängen aus, oder
auch in der Unterhaltung mit Freunden. Zur Herbstzeit ging er auf die Jagd.
In seinen nächsten Umgebungen lernte er jene großen Bauernhäuser, jene
freiherrlichen Bauern kennen, jene Familien von altadeliger Ehrbarkeit und
wahrhaft patriarchalischer Gastfreiheit, die er mit so vieler Liebe und Wärme
in seinen Schriften schildert, deren Sinn und Sitten er in so manchem farben¬
vollen Bild verewigt hat.

1829 wurde Bitzius als Vicar nach Bern berufen. Endlich zu Neujahr
1831 fand er seinen bleibenden Aufenthalt in dem Dorf Lützelflüh, etwa fünf
Stunden von Bern, wo er nach dem Tode des alten Pfarrers, dessen Enkelin
er heirathete, im März 1832 die Pfarrstelle erhielt. Eine höchst glückliche
Ehe und eine gedeihliche Wirksamkeit innerhalb der großen Pfarrgemeinde,
die gegen 4000 Einwohner zählt, gaben seinem Leben einen festen Halt; nur
fingen damals die politischen Wirren, die seit der Einführung der demokra¬
tischen Verfassung 1831 den ganzen Canton Bern in Bewegung setzten, an,
auch ihn lebhaft zu erregen, hauptsächlich weil die politischen Tagesfragen
sich auch des Erziehungswesens und der Armenpflege bemächtigten. DaS Be¬
dürfniß, seine Ueberzeugungen auch in einem weitern Kreise zur Geltung zu
bringen, machte ihn zum Schriftsteller. Der Schriftsteller von Beruf gibt es
in der Schweiz wenige, am wenigsten im Fach der sogenannten schönen Lite¬
ratur. In diesen kleinen Freistaaten, wo alles aufs Leben gerichtet ist und
vom Leben in Anspruch genommen wird, wo das Nüchterne, Praktische, Reelle
überall vorwaltet, findet die Belletristik kein Gedeihen. DaS Lesebedürfniß
wird, wo es vorhanden ist und über die TageSpublicistik hinausgeht, durch
das Ausland mehr als befriedigt. Auch bei Bitzius war die Literatur nur
Mittel, nicht Zweck. Er empfand das Bedürfniß, zu reformiren,' gewisse
Zweige des öffentlichen Lebens, deren Gebrechen ihm genau bekannt waren,
verbessern zu helfen, und durch rückhaltlose Darlegung der Thatsachen auf
Abhilfe hinzuwirken. Außerdem fühlte er in sich einen gewaltigen Thätigkeits¬
trieb, der in den gewöhnlichen Amtsgeschäften sich nicht befriedigte. Er schreibt
an einen Freund: "Hätte ich alle zwei Tage einen Ritt thun können, ich hätte
nie geschrieben. Begreife nun, daß ein wildes Leben in mir wogte, von dem
niemand Ahnung hatte; und wenn einige Aeußerungen los sich rangen, so
nahm man sie halt als freche Worte. Dieses Leben mußte sich entweder aus¬
zehren oder losbrechen auf irgend eine Weise. Es that es in Schrift......
Mein Schreiben war ein wildes Umsichschlagen nach allen Seite" hin, woher
der Druck gekommen, um freien Platz zu erhalten. Es war, wie ich zum
Schreiben gekommen, auf der einen Seite eine Naturnothwendigkeit, auf der


sprechen und Handkehrum mit einem ältern Mann ein sehr ernstes Gespräch
führen. Er suchte jedem daS zu sein, was er glaubte, daS ihm am besten
entspreche. Seine Predigten sann er sich auf seinen Spaziergängen aus, oder
auch in der Unterhaltung mit Freunden. Zur Herbstzeit ging er auf die Jagd.
In seinen nächsten Umgebungen lernte er jene großen Bauernhäuser, jene
freiherrlichen Bauern kennen, jene Familien von altadeliger Ehrbarkeit und
wahrhaft patriarchalischer Gastfreiheit, die er mit so vieler Liebe und Wärme
in seinen Schriften schildert, deren Sinn und Sitten er in so manchem farben¬
vollen Bild verewigt hat.

1829 wurde Bitzius als Vicar nach Bern berufen. Endlich zu Neujahr
1831 fand er seinen bleibenden Aufenthalt in dem Dorf Lützelflüh, etwa fünf
Stunden von Bern, wo er nach dem Tode des alten Pfarrers, dessen Enkelin
er heirathete, im März 1832 die Pfarrstelle erhielt. Eine höchst glückliche
Ehe und eine gedeihliche Wirksamkeit innerhalb der großen Pfarrgemeinde,
die gegen 4000 Einwohner zählt, gaben seinem Leben einen festen Halt; nur
fingen damals die politischen Wirren, die seit der Einführung der demokra¬
tischen Verfassung 1831 den ganzen Canton Bern in Bewegung setzten, an,
auch ihn lebhaft zu erregen, hauptsächlich weil die politischen Tagesfragen
sich auch des Erziehungswesens und der Armenpflege bemächtigten. DaS Be¬
dürfniß, seine Ueberzeugungen auch in einem weitern Kreise zur Geltung zu
bringen, machte ihn zum Schriftsteller. Der Schriftsteller von Beruf gibt es
in der Schweiz wenige, am wenigsten im Fach der sogenannten schönen Lite¬
ratur. In diesen kleinen Freistaaten, wo alles aufs Leben gerichtet ist und
vom Leben in Anspruch genommen wird, wo das Nüchterne, Praktische, Reelle
überall vorwaltet, findet die Belletristik kein Gedeihen. DaS Lesebedürfniß
wird, wo es vorhanden ist und über die TageSpublicistik hinausgeht, durch
das Ausland mehr als befriedigt. Auch bei Bitzius war die Literatur nur
Mittel, nicht Zweck. Er empfand das Bedürfniß, zu reformiren,' gewisse
Zweige des öffentlichen Lebens, deren Gebrechen ihm genau bekannt waren,
verbessern zu helfen, und durch rückhaltlose Darlegung der Thatsachen auf
Abhilfe hinzuwirken. Außerdem fühlte er in sich einen gewaltigen Thätigkeits¬
trieb, der in den gewöhnlichen Amtsgeschäften sich nicht befriedigte. Er schreibt
an einen Freund: „Hätte ich alle zwei Tage einen Ritt thun können, ich hätte
nie geschrieben. Begreife nun, daß ein wildes Leben in mir wogte, von dem
niemand Ahnung hatte; und wenn einige Aeußerungen los sich rangen, so
nahm man sie halt als freche Worte. Dieses Leben mußte sich entweder aus¬
zehren oder losbrechen auf irgend eine Weise. Es that es in Schrift......
Mein Schreiben war ein wildes Umsichschlagen nach allen Seite» hin, woher
der Druck gekommen, um freien Platz zu erhalten. Es war, wie ich zum
Schreiben gekommen, auf der einen Seite eine Naturnothwendigkeit, auf der


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[0381] sprechen und Handkehrum mit einem ältern Mann ein sehr ernstes Gespräch führen. Er suchte jedem daS zu sein, was er glaubte, daS ihm am besten entspreche. Seine Predigten sann er sich auf seinen Spaziergängen aus, oder auch in der Unterhaltung mit Freunden. Zur Herbstzeit ging er auf die Jagd. In seinen nächsten Umgebungen lernte er jene großen Bauernhäuser, jene freiherrlichen Bauern kennen, jene Familien von altadeliger Ehrbarkeit und wahrhaft patriarchalischer Gastfreiheit, die er mit so vieler Liebe und Wärme in seinen Schriften schildert, deren Sinn und Sitten er in so manchem farben¬ vollen Bild verewigt hat. 1829 wurde Bitzius als Vicar nach Bern berufen. Endlich zu Neujahr 1831 fand er seinen bleibenden Aufenthalt in dem Dorf Lützelflüh, etwa fünf Stunden von Bern, wo er nach dem Tode des alten Pfarrers, dessen Enkelin er heirathete, im März 1832 die Pfarrstelle erhielt. Eine höchst glückliche Ehe und eine gedeihliche Wirksamkeit innerhalb der großen Pfarrgemeinde, die gegen 4000 Einwohner zählt, gaben seinem Leben einen festen Halt; nur fingen damals die politischen Wirren, die seit der Einführung der demokra¬ tischen Verfassung 1831 den ganzen Canton Bern in Bewegung setzten, an, auch ihn lebhaft zu erregen, hauptsächlich weil die politischen Tagesfragen sich auch des Erziehungswesens und der Armenpflege bemächtigten. DaS Be¬ dürfniß, seine Ueberzeugungen auch in einem weitern Kreise zur Geltung zu bringen, machte ihn zum Schriftsteller. Der Schriftsteller von Beruf gibt es in der Schweiz wenige, am wenigsten im Fach der sogenannten schönen Lite¬ ratur. In diesen kleinen Freistaaten, wo alles aufs Leben gerichtet ist und vom Leben in Anspruch genommen wird, wo das Nüchterne, Praktische, Reelle überall vorwaltet, findet die Belletristik kein Gedeihen. DaS Lesebedürfniß wird, wo es vorhanden ist und über die TageSpublicistik hinausgeht, durch das Ausland mehr als befriedigt. Auch bei Bitzius war die Literatur nur Mittel, nicht Zweck. Er empfand das Bedürfniß, zu reformiren,' gewisse Zweige des öffentlichen Lebens, deren Gebrechen ihm genau bekannt waren, verbessern zu helfen, und durch rückhaltlose Darlegung der Thatsachen auf Abhilfe hinzuwirken. Außerdem fühlte er in sich einen gewaltigen Thätigkeits¬ trieb, der in den gewöhnlichen Amtsgeschäften sich nicht befriedigte. Er schreibt an einen Freund: „Hätte ich alle zwei Tage einen Ritt thun können, ich hätte nie geschrieben. Begreife nun, daß ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand Ahnung hatte; und wenn einige Aeußerungen los sich rangen, so nahm man sie halt als freche Worte. Dieses Leben mußte sich entweder aus¬ zehren oder losbrechen auf irgend eine Weise. Es that es in Schrift...... Mein Schreiben war ein wildes Umsichschlagen nach allen Seite» hin, woher der Druck gekommen, um freien Platz zu erhalten. Es war, wie ich zum Schreiben gekommen, auf der einen Seite eine Naturnothwendigkeit, auf der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/381>, abgerufen am 28.07.2024.