Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.Polizeiwesen schließlich aufgelöst. In keinem Lande sind die gesellschaftlichen Dies ist in seinen wesentlichen Grundzügen der Gedankengang des Ver¬ Von vornherein müssen wir zugeben, daß einzeln genommen fast alle seine Polizeiwesen schließlich aufgelöst. In keinem Lande sind die gesellschaftlichen Dies ist in seinen wesentlichen Grundzügen der Gedankengang des Ver¬ Von vornherein müssen wir zugeben, daß einzeln genommen fast alle seine <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103928"/> <p xml:id="ID_762" prev="#ID_761"> Polizeiwesen schließlich aufgelöst. In keinem Lande sind die gesellschaftlichen<lb/> Verhältnisse gesunder, der Gehorsam gegen die Obrigkeit in Erfüllung ihrer<lb/> StaatSpflichten williger, der Sinn für Gemeindeleben flinker; aber das Zu¬<lb/> sammenwirken aller dieser Elemente wird immer unmöglicher, je mehr im Laufe<lb/> eines Menschenalters gesellschaftliche Gruppen unter dem Namen Ritter, Bürger<lb/> und Bauern einander eifersüchtig gegenübergestellt, die kirchlichen Gegensätze<lb/> aufgeregt, die Neigung zur Umgestaltung des Besitzes erweckt ist. Grundsteuer,<lb/> Militärpflicht, Geschwornendienst, Gemeinderecht, Kammerwahlen, Zusammen¬<lb/> setzung der beiden Parlamentskörper sind allmälig so auseinandergegangen, als<lb/> wären sie für verschiedene Nationen bestimmt.</p><lb/> <p xml:id="ID_763"> Dies ist in seinen wesentlichen Grundzügen der Gedankengang des Ver¬<lb/> fassers, der überall durch eine reiche Belesenheit und durch ein tiefes Studium<lb/> der wirklichen Zustände getragen wird. Die Kette seiner Argumentation<lb/> scheint so fest ineinandergefügt und die einzelnen Glieder derselben so gewich¬<lb/> tig, daß eS schwer ist, sie zu zerreißen, und doch sträubt man sich gegen das<lb/> letzte Resultat. Er spricht es nicht unbedingt aus, aber er läßt es deutlich<lb/> genug durchblicken, daß er die Entwickelung der preußischen Ver¬<lb/> fassung auf den gegenwärtigen Grundlagen für vollkommen<lb/> hoffnungslos hält. Wie man nun ohne eine neue gewaltsame Unterbrechung<lb/> des Rechtszustandes zu den alten, gesunderen Zuständen von 1808 zurückkehren<lb/> solle, pas gibt er nicht an, ja er scheint selbst darüber rathlos zu sein. Man<lb/> fühlt heraus, daß irgendwo in der Argumentation eine Lücke sein muß. Wir<lb/> wollen versuchen diese herauszufinden.</p><lb/> <p xml:id="ID_764" next="#ID_765"> Von vornherein müssen wir zugeben, daß einzeln genommen fast alle seine<lb/> Bedenken begründet sind. Sie entspringen theils aus einer falschen Richtung<lb/> der verschiedenen aufeinanderfolgenden Regierungen, die ohne Schwierigkeit<lb/> hätte vermieden werden können, theils aus der Natur der Sache. Der preu¬<lb/> ßische Staat stellt sich in seiner gegenwärtigen Beschaffenheit als ein kräftiger,<lb/> "ber unfertiger Organismus dar, der, um überhaupt etwas zu sein, mehr<lb/> werden muß, als er jetzt ist. Der preußische Staat ist auf weitere Erwerbungen<lb/> hingewiesen, wenn er die Rolle, die er seit mehr als einem Jahrhundert ge¬<lb/> spielt, weiter fortsetzen will. Dazu bedarf er eines loyalen, tüchtig aus¬<lb/> gerüsteten schlagfertigen Heeres, eines Heeres, dessen Kosten das gewöhnliche<lb/> Maß eines Staates von gleichem Umfang bei weitem übersteigen müssen.<lb/> Preußen kann sein Heer nicht schwächen, wenn eS nicht seine Stellung inner¬<lb/> halb der Großmächte aufgeben will, und auf der anderen Seite ist es sehr<lb/> schwierig, dieses übermächtige Staatselement in ein geregeltes Verfasfungsleben<lb/> einzuführen und seine Nothwendigkeit den aus bürgerlichen Bestandtheilen<lb/> zusammengesetzten Kammern immer gegenwärtig zu halten. Eine aus demokra¬<lb/> tischen, rein bürgerlichen Wahlen zusammengesetzte Kammer würde mit der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0261]
Polizeiwesen schließlich aufgelöst. In keinem Lande sind die gesellschaftlichen
Verhältnisse gesunder, der Gehorsam gegen die Obrigkeit in Erfüllung ihrer
StaatSpflichten williger, der Sinn für Gemeindeleben flinker; aber das Zu¬
sammenwirken aller dieser Elemente wird immer unmöglicher, je mehr im Laufe
eines Menschenalters gesellschaftliche Gruppen unter dem Namen Ritter, Bürger
und Bauern einander eifersüchtig gegenübergestellt, die kirchlichen Gegensätze
aufgeregt, die Neigung zur Umgestaltung des Besitzes erweckt ist. Grundsteuer,
Militärpflicht, Geschwornendienst, Gemeinderecht, Kammerwahlen, Zusammen¬
setzung der beiden Parlamentskörper sind allmälig so auseinandergegangen, als
wären sie für verschiedene Nationen bestimmt.
Dies ist in seinen wesentlichen Grundzügen der Gedankengang des Ver¬
fassers, der überall durch eine reiche Belesenheit und durch ein tiefes Studium
der wirklichen Zustände getragen wird. Die Kette seiner Argumentation
scheint so fest ineinandergefügt und die einzelnen Glieder derselben so gewich¬
tig, daß eS schwer ist, sie zu zerreißen, und doch sträubt man sich gegen das
letzte Resultat. Er spricht es nicht unbedingt aus, aber er läßt es deutlich
genug durchblicken, daß er die Entwickelung der preußischen Ver¬
fassung auf den gegenwärtigen Grundlagen für vollkommen
hoffnungslos hält. Wie man nun ohne eine neue gewaltsame Unterbrechung
des Rechtszustandes zu den alten, gesunderen Zuständen von 1808 zurückkehren
solle, pas gibt er nicht an, ja er scheint selbst darüber rathlos zu sein. Man
fühlt heraus, daß irgendwo in der Argumentation eine Lücke sein muß. Wir
wollen versuchen diese herauszufinden.
Von vornherein müssen wir zugeben, daß einzeln genommen fast alle seine
Bedenken begründet sind. Sie entspringen theils aus einer falschen Richtung
der verschiedenen aufeinanderfolgenden Regierungen, die ohne Schwierigkeit
hätte vermieden werden können, theils aus der Natur der Sache. Der preu¬
ßische Staat stellt sich in seiner gegenwärtigen Beschaffenheit als ein kräftiger,
"ber unfertiger Organismus dar, der, um überhaupt etwas zu sein, mehr
werden muß, als er jetzt ist. Der preußische Staat ist auf weitere Erwerbungen
hingewiesen, wenn er die Rolle, die er seit mehr als einem Jahrhundert ge¬
spielt, weiter fortsetzen will. Dazu bedarf er eines loyalen, tüchtig aus¬
gerüsteten schlagfertigen Heeres, eines Heeres, dessen Kosten das gewöhnliche
Maß eines Staates von gleichem Umfang bei weitem übersteigen müssen.
Preußen kann sein Heer nicht schwächen, wenn eS nicht seine Stellung inner¬
halb der Großmächte aufgeben will, und auf der anderen Seite ist es sehr
schwierig, dieses übermächtige Staatselement in ein geregeltes Verfasfungsleben
einzuführen und seine Nothwendigkeit den aus bürgerlichen Bestandtheilen
zusammengesetzten Kammern immer gegenwärtig zu halten. Eine aus demokra¬
tischen, rein bürgerlichen Wahlen zusammengesetzte Kammer würde mit der
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