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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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"ut alle Fragen, die hier zwischen dem "Ich" und dem "Staat" gelöst werden
sollten, nur zu lösen sind zwischen großen Korporationen und der Verwal-
tungsordnung des Staats. Die Verfassung Englands, die man als Muster
vor Augen hielt, ist nur die letzte Stütze historisch gegliederter und zusammen¬
hängender Nerwaltungsformen. In Preußen dagegen sollte sie entgegenstehende
gesellschaftliche Gruppen erfinden. Indem man die parlamentarische Regierung
auf einer falschen Basis aufführte, ging daraus ein systematischer Mißbrauch
der obrigkeitlichen Gewalt hervor, im Interesse der stärkern Classe gegen die
schwächere; ein systematischer Mißbrauch des Anstellungsrechts, welches die
Aemter in Masse zu Prämien der herrschenden Faction macht. Von dem
Augenblick an, wo das gesellschaftliche Recht das Uebergewicht gewinnt, ver¬
schwinden die Rechtsbegriffe aus dem Verwaltungsprogramm. Es wird voraus¬
gesetzt, daß der Beamte entweder die Vorurtheile der herrschenden Partei von
Hause aus theile, oder daß er sich ihnen wenigstens stillschweigend accommo-
dire, da sie ohnehin rechtlich unaussprechbar sind. Die feindselige Parteinahme
des Beamten in dem Classenkampf, zur Bedingung der Anstellung gemacht,
enthält zugleich die Anweisung zum parteiischen Gebrauche des Amtsrechts;
und wo der Verwaltungsbeamte zugleich Richter über die Rechtmäßigkeit seines
Acts ist, ergibt sich daraus die Verschiebung des ganzen öffentlichen Rechts-
zustandes. Alles dies entstand durch ein Zusammenschieben englischer Ver-
fassungs- mit kontinentalen Verwaltungssystemen.

Daß die Befugnisse der preußischen Kammern in vielen wesentlichen
Punkten hinter denen der großbritannischen zurückblieben, würde an sich gegen
ihre Bedeutung nichts präjudiciren. Das englische Parlament hatte von Hause
aus keine größeren Rechte; es hat sie erst erworben durch seinen Zusammen¬
hang mit der Grafschaft. Schon die allgemeine Vorstellung, daß in unserer
Verfassung die Rechte eines Parlaments enthalten seien, ist eine Macht, welche
einen starken Einfluß, unter Umständen einen Druck auf die Staatsregierung
ausüben kann. Ob aber zum Heil und zur Kräftigung des Staats, oder zur
Lähmung und Verwirrung der Gesetzgebung, der Steuerbewilligung, des ge¬
summten Rechtszustandes im Lande, das hängt lediglich ab von Zusammen¬
setzung der beiden Bestandtheile und von ihrem Zusammenhang mit den ge¬
summten Institutionen des Landes.

Fehlerhaft ist zunächst die Bildung des Herrenhauses. Eine erste Kammer
nach englischem Vorbild soll die dauernden Interessen der Staatsgewalt, die
Permanenz der Verwaltungsordnung darstellen, sie soll die bisher regierende
Classe in sich aufnehmen; sie foll die Kraft, Bedeutung, Intelligenz, das
traditionelle Ansehn einer regierenden Classe im Volksleben darstellen; sie soll
der Schlußstein und letzte Garant des Vermögens- und Familiemechts im
Lande sein, der Repräsentant des gemeinen Landesrechts überhaupt. Aber


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»ut alle Fragen, die hier zwischen dem „Ich" und dem „Staat" gelöst werden
sollten, nur zu lösen sind zwischen großen Korporationen und der Verwal-
tungsordnung des Staats. Die Verfassung Englands, die man als Muster
vor Augen hielt, ist nur die letzte Stütze historisch gegliederter und zusammen¬
hängender Nerwaltungsformen. In Preußen dagegen sollte sie entgegenstehende
gesellschaftliche Gruppen erfinden. Indem man die parlamentarische Regierung
auf einer falschen Basis aufführte, ging daraus ein systematischer Mißbrauch
der obrigkeitlichen Gewalt hervor, im Interesse der stärkern Classe gegen die
schwächere; ein systematischer Mißbrauch des Anstellungsrechts, welches die
Aemter in Masse zu Prämien der herrschenden Faction macht. Von dem
Augenblick an, wo das gesellschaftliche Recht das Uebergewicht gewinnt, ver¬
schwinden die Rechtsbegriffe aus dem Verwaltungsprogramm. Es wird voraus¬
gesetzt, daß der Beamte entweder die Vorurtheile der herrschenden Partei von
Hause aus theile, oder daß er sich ihnen wenigstens stillschweigend accommo-
dire, da sie ohnehin rechtlich unaussprechbar sind. Die feindselige Parteinahme
des Beamten in dem Classenkampf, zur Bedingung der Anstellung gemacht,
enthält zugleich die Anweisung zum parteiischen Gebrauche des Amtsrechts;
und wo der Verwaltungsbeamte zugleich Richter über die Rechtmäßigkeit seines
Acts ist, ergibt sich daraus die Verschiebung des ganzen öffentlichen Rechts-
zustandes. Alles dies entstand durch ein Zusammenschieben englischer Ver-
fassungs- mit kontinentalen Verwaltungssystemen.

Daß die Befugnisse der preußischen Kammern in vielen wesentlichen
Punkten hinter denen der großbritannischen zurückblieben, würde an sich gegen
ihre Bedeutung nichts präjudiciren. Das englische Parlament hatte von Hause
aus keine größeren Rechte; es hat sie erst erworben durch seinen Zusammen¬
hang mit der Grafschaft. Schon die allgemeine Vorstellung, daß in unserer
Verfassung die Rechte eines Parlaments enthalten seien, ist eine Macht, welche
einen starken Einfluß, unter Umständen einen Druck auf die Staatsregierung
ausüben kann. Ob aber zum Heil und zur Kräftigung des Staats, oder zur
Lähmung und Verwirrung der Gesetzgebung, der Steuerbewilligung, des ge¬
summten Rechtszustandes im Lande, das hängt lediglich ab von Zusammen¬
setzung der beiden Bestandtheile und von ihrem Zusammenhang mit den ge¬
summten Institutionen des Landes.

Fehlerhaft ist zunächst die Bildung des Herrenhauses. Eine erste Kammer
nach englischem Vorbild soll die dauernden Interessen der Staatsgewalt, die
Permanenz der Verwaltungsordnung darstellen, sie soll die bisher regierende
Classe in sich aufnehmen; sie foll die Kraft, Bedeutung, Intelligenz, das
traditionelle Ansehn einer regierenden Classe im Volksleben darstellen; sie soll
der Schlußstein und letzte Garant des Vermögens- und Familiemechts im
Lande sein, der Repräsentant des gemeinen Landesrechts überhaupt. Aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/259>, abgerufen am 28.07.2024.