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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Lebens, dem Mangel der Entwickelung des mannhaften Sinnes und der
großen Eigenschaften einer Nation, welche nur ein sellxavernment erzeugt. Die
Gesetzgebung von 1808 war groß genug, auch hier das richtige Ziel zu wollen;
sie wollte keine Nachbildung napoleonischer Constitutionen, sondern die soliden
Grundlagen einer deutschen Repräsentativverfassung von untenherauf schaffen.
Das geschah durch die Städteordnung und Kreisverfassung. Als Wurzel alles
bisherigen Uebels ward anerkannt die Trennung der Communalangelegenheiten,
Rechtspflege und Finanzverwaltung zwischen den kleinen städtischen Communen,
Städteeigenthümern, Domänenämtern und ritterschaftlichen Societäten, so wie
das Uebergewicht einzelner Classen und deren vorherrschender Einfluß auf tue
öffentlichen Angelegenheiten. Die Zusammenberufung von Reichsständen auf
diesen Grundlagen ward zwar noch ausgesetzt, mit vollem Recht, sofern es
in der Aussicht geschal), die Gemeinde- und Kreiscorporationen erst zu consolidiren.
Rittergutsbesitzer, Bauern, Stadtbevölkerung, arbeitende Classen waren in neue
Zustünde eingetreten, die sie zunächst aus Regelung ihres Hausstandes verwiesen.
Es wurden aber die Grundzüge einer parlamentarischen Verfassung bereits
Zugesichert: Mitbeschließungsrecht bei den eigentlichen Gesetzen und Bewilli¬
gung neuer Steuern. Es sind hier alle Elemente einer mit unseren gesell¬
schaftlichen Zuständen und unserem Landesrecht vereinbarten Verfassung ge¬
geben, die sich gewissermaßen von selbst zusammengefügt haben würden, sofern
der Staat das Gesammtsystem der Stein-Hardenbergschen Gesetzgebung festhielt.
Statt dessen sind wir von Jahrzehnt zu Jahrzehnt von diesen Grundlagen
weiter abgekommen, in einen Zustand, dessen weitere Entwicklung schwer vor¬
herzusagen ist. Das liegt zunächst in dem Sinken des Beamtenthmus. Jede
regierende Classe kommt endlich in die Lage, ihr Vorrecht als Selbstzweck an¬
zusehen und für dessen Ausschließlichkeit zu streiten gegen Bestrebungen, die
berechtigter sind, als sie selbst. Die nöthigen Reformen kamen ins Stocken,
die überlegene Stellung der Verwaltungsbeamten führte zu stetiger Erweiterung
der Polizeigewalt, zu Eingriffen in den Gerichtsorganismus, und für die Be¬
lebung der korporativen Verbände geschah so gut wie nichts. Im Gegensatz
dazu tritt eine Opposition gegen den Beamtenstaat auf, deren Grundlage die
Reminiscenz an die frühere korporative Geltung des Landadels ist; gehoben
durch historischen Sinn und Studien, aber mit lose zusammenhängenden Ideen
vom Leben des Mittelalters, mit leichten Ansichten über die staatlichen Pflichten
der höheren Stände zu Steuerzahlung und verantwortlichen Ehrenämtern, ein
geistreicher politischer Dilettantismus, wie er da vorkommt, wo diese Kreise
nicht wie in England durch ernste Berufsgeschäfte in Grafschaft und Parlament
sich praktisch bilden. Von diesen gesellschaftlichen Anschauungen des digk Mo
aus erschien alö das wahre Ziel die Wiederherstellung der Ordnung, die seit
Jahrhunderten in unaufhaltsamer Auflösung begriffen, deren Bekämpfung


Grenzboten. II. -1867. 32

Lebens, dem Mangel der Entwickelung des mannhaften Sinnes und der
großen Eigenschaften einer Nation, welche nur ein sellxavernment erzeugt. Die
Gesetzgebung von 1808 war groß genug, auch hier das richtige Ziel zu wollen;
sie wollte keine Nachbildung napoleonischer Constitutionen, sondern die soliden
Grundlagen einer deutschen Repräsentativverfassung von untenherauf schaffen.
Das geschah durch die Städteordnung und Kreisverfassung. Als Wurzel alles
bisherigen Uebels ward anerkannt die Trennung der Communalangelegenheiten,
Rechtspflege und Finanzverwaltung zwischen den kleinen städtischen Communen,
Städteeigenthümern, Domänenämtern und ritterschaftlichen Societäten, so wie
das Uebergewicht einzelner Classen und deren vorherrschender Einfluß auf tue
öffentlichen Angelegenheiten. Die Zusammenberufung von Reichsständen auf
diesen Grundlagen ward zwar noch ausgesetzt, mit vollem Recht, sofern es
in der Aussicht geschal), die Gemeinde- und Kreiscorporationen erst zu consolidiren.
Rittergutsbesitzer, Bauern, Stadtbevölkerung, arbeitende Classen waren in neue
Zustünde eingetreten, die sie zunächst aus Regelung ihres Hausstandes verwiesen.
Es wurden aber die Grundzüge einer parlamentarischen Verfassung bereits
Zugesichert: Mitbeschließungsrecht bei den eigentlichen Gesetzen und Bewilli¬
gung neuer Steuern. Es sind hier alle Elemente einer mit unseren gesell¬
schaftlichen Zuständen und unserem Landesrecht vereinbarten Verfassung ge¬
geben, die sich gewissermaßen von selbst zusammengefügt haben würden, sofern
der Staat das Gesammtsystem der Stein-Hardenbergschen Gesetzgebung festhielt.
Statt dessen sind wir von Jahrzehnt zu Jahrzehnt von diesen Grundlagen
weiter abgekommen, in einen Zustand, dessen weitere Entwicklung schwer vor¬
herzusagen ist. Das liegt zunächst in dem Sinken des Beamtenthmus. Jede
regierende Classe kommt endlich in die Lage, ihr Vorrecht als Selbstzweck an¬
zusehen und für dessen Ausschließlichkeit zu streiten gegen Bestrebungen, die
berechtigter sind, als sie selbst. Die nöthigen Reformen kamen ins Stocken,
die überlegene Stellung der Verwaltungsbeamten führte zu stetiger Erweiterung
der Polizeigewalt, zu Eingriffen in den Gerichtsorganismus, und für die Be¬
lebung der korporativen Verbände geschah so gut wie nichts. Im Gegensatz
dazu tritt eine Opposition gegen den Beamtenstaat auf, deren Grundlage die
Reminiscenz an die frühere korporative Geltung des Landadels ist; gehoben
durch historischen Sinn und Studien, aber mit lose zusammenhängenden Ideen
vom Leben des Mittelalters, mit leichten Ansichten über die staatlichen Pflichten
der höheren Stände zu Steuerzahlung und verantwortlichen Ehrenämtern, ein
geistreicher politischer Dilettantismus, wie er da vorkommt, wo diese Kreise
nicht wie in England durch ernste Berufsgeschäfte in Grafschaft und Parlament
sich praktisch bilden. Von diesen gesellschaftlichen Anschauungen des digk Mo
aus erschien alö das wahre Ziel die Wiederherstellung der Ordnung, die seit
Jahrhunderten in unaufhaltsamer Auflösung begriffen, deren Bekämpfung


Grenzboten. II. -1867. 32
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[0257] Lebens, dem Mangel der Entwickelung des mannhaften Sinnes und der großen Eigenschaften einer Nation, welche nur ein sellxavernment erzeugt. Die Gesetzgebung von 1808 war groß genug, auch hier das richtige Ziel zu wollen; sie wollte keine Nachbildung napoleonischer Constitutionen, sondern die soliden Grundlagen einer deutschen Repräsentativverfassung von untenherauf schaffen. Das geschah durch die Städteordnung und Kreisverfassung. Als Wurzel alles bisherigen Uebels ward anerkannt die Trennung der Communalangelegenheiten, Rechtspflege und Finanzverwaltung zwischen den kleinen städtischen Communen, Städteeigenthümern, Domänenämtern und ritterschaftlichen Societäten, so wie das Uebergewicht einzelner Classen und deren vorherrschender Einfluß auf tue öffentlichen Angelegenheiten. Die Zusammenberufung von Reichsständen auf diesen Grundlagen ward zwar noch ausgesetzt, mit vollem Recht, sofern es in der Aussicht geschal), die Gemeinde- und Kreiscorporationen erst zu consolidiren. Rittergutsbesitzer, Bauern, Stadtbevölkerung, arbeitende Classen waren in neue Zustünde eingetreten, die sie zunächst aus Regelung ihres Hausstandes verwiesen. Es wurden aber die Grundzüge einer parlamentarischen Verfassung bereits Zugesichert: Mitbeschließungsrecht bei den eigentlichen Gesetzen und Bewilli¬ gung neuer Steuern. Es sind hier alle Elemente einer mit unseren gesell¬ schaftlichen Zuständen und unserem Landesrecht vereinbarten Verfassung ge¬ geben, die sich gewissermaßen von selbst zusammengefügt haben würden, sofern der Staat das Gesammtsystem der Stein-Hardenbergschen Gesetzgebung festhielt. Statt dessen sind wir von Jahrzehnt zu Jahrzehnt von diesen Grundlagen weiter abgekommen, in einen Zustand, dessen weitere Entwicklung schwer vor¬ herzusagen ist. Das liegt zunächst in dem Sinken des Beamtenthmus. Jede regierende Classe kommt endlich in die Lage, ihr Vorrecht als Selbstzweck an¬ zusehen und für dessen Ausschließlichkeit zu streiten gegen Bestrebungen, die berechtigter sind, als sie selbst. Die nöthigen Reformen kamen ins Stocken, die überlegene Stellung der Verwaltungsbeamten führte zu stetiger Erweiterung der Polizeigewalt, zu Eingriffen in den Gerichtsorganismus, und für die Be¬ lebung der korporativen Verbände geschah so gut wie nichts. Im Gegensatz dazu tritt eine Opposition gegen den Beamtenstaat auf, deren Grundlage die Reminiscenz an die frühere korporative Geltung des Landadels ist; gehoben durch historischen Sinn und Studien, aber mit lose zusammenhängenden Ideen vom Leben des Mittelalters, mit leichten Ansichten über die staatlichen Pflichten der höheren Stände zu Steuerzahlung und verantwortlichen Ehrenämtern, ein geistreicher politischer Dilettantismus, wie er da vorkommt, wo diese Kreise nicht wie in England durch ernste Berufsgeschäfte in Grafschaft und Parlament sich praktisch bilden. Von diesen gesellschaftlichen Anschauungen des digk Mo aus erschien alö das wahre Ziel die Wiederherstellung der Ordnung, die seit Jahrhunderten in unaufhaltsamer Auflösung begriffen, deren Bekämpfung Grenzboten. II. -1867. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/257>, abgerufen am 28.07.2024.