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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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die Regierten auch daran Schuld, wenn sich ihnen das Staatsleben ganz
entzieht. Mögen sie den Gedanken einer künstigen Befreiung und Einigung
Italiens festhalten, man wird vom allgemein menschlichen Standpunkt nichts
dagegen einwenden; zunächst aber kommt es daraus an, sich um die unmittel¬
baren materiellen und geistigen Bedürfnisse zu kümmern, zu ihrer Durchführung
einen Spielraum zu gewinnen. Die Preßfreiheit, die legislative Unabhän¬
gigkeit kann die überlegene Gewalt versagen, sie kann aber jene ruhige, kon¬
servative, sachgemäße Opposition nicht hindern, die auf die Befriedigung be¬
stimmter, durchführbarer Bedürfnisse ausgeht; und indem man so für die
Gegenwart arbeitet, legt man die sichersten Fundamente für die Zukunft.

Es ist ein großer, unberechenbarer Gewinn für die Italiener, daß sich
jetzt ein nationaler Staat gebildet hat, dessen Regierung mit den gesunden
Classen des Volks in völligem Einklang, bei den Nachbarstaaten geachtet, von
der Geistlichkeit unabhängig und von dem Gedanken des italienischen Fort¬
schritts lebhast durchdrungen ist. Das kleine Haus Savoyen hat seit alten
Zeiten eine zugleich feine, verständige und consequente, zähe Politik entwickelt,
die sich auch heute wieder geltend macht. Es ist ein sehr großer Fortschritt,
daß die gebildete Classe unter den Liberalen Italiens ihre Hoffnungen nicht
mehr aus die römische Republik, sondern auf das turiner Königthum richtet.
Nur muß man sich auch jetzt noch hüten, die Kräfte Sardiniens zu überschätzen,
nicht blos in materieller Beziehung, sondern auch in geistiger. Wenn es Karl
Albert nicht gelang, die Mailänder Revolution zu beherrschen, so ist auch
jetzt noch Sardinien nicht stark genug, die sehr verschiedenartigen italienischen
Elemente zu absorbiren. Wenn Sardinien ebenso besonnen als fest auf der
Bahn der Reform fortgeht, und die Nachbarstaaten theils durch unmittelbaren
Einfluß, theils durch die zwingende Macht des Beispiels zu ähnlichen Re¬
formen veranlaßt, so wird nicht blos für den Augenblick viel Nützliches ge¬
stiftet, sondern es werden dadurch auch jene conservativen Elemente gewon¬
nen, die, wie vorher bemerkt, allein die Brücke aus dem alten Zustand
in den neuen bilden können. Der Bund mit dem Radikalismus dagegen
wäre, ganz abgesehen von den äußerlichen Combinationen, die wir hier über¬
haupt bei Seite lassen, für Sardinien verderblich, denn bis jetzt wäre bei
einem ausbrechenden Conflict der Radicalismus noch der stärkere Gegner.
Unter den gebildeten Classen Italiens ist die Partei, welche für die Reform
und gegen die Revolution ist, bedeutend genug; es kommt nur darauf an,
daß sie von einer organisirten Negierung mit fester Hand geleitet wird. Die
Schwierigkeiten sind gewiß sehr groß; es gehört zum Werk der Reform nicht
blos Muth und Entschlossenheit, sondern zähe Ausdauer, Geduld und Über¬
legung; aber mit ihnen kommt man auch in der That Schritt für Schritt vor¬
wärts, während die Conspirationcn zu nichts führen. Noch eins hat uns bei


die Regierten auch daran Schuld, wenn sich ihnen das Staatsleben ganz
entzieht. Mögen sie den Gedanken einer künstigen Befreiung und Einigung
Italiens festhalten, man wird vom allgemein menschlichen Standpunkt nichts
dagegen einwenden; zunächst aber kommt es daraus an, sich um die unmittel¬
baren materiellen und geistigen Bedürfnisse zu kümmern, zu ihrer Durchführung
einen Spielraum zu gewinnen. Die Preßfreiheit, die legislative Unabhän¬
gigkeit kann die überlegene Gewalt versagen, sie kann aber jene ruhige, kon¬
servative, sachgemäße Opposition nicht hindern, die auf die Befriedigung be¬
stimmter, durchführbarer Bedürfnisse ausgeht; und indem man so für die
Gegenwart arbeitet, legt man die sichersten Fundamente für die Zukunft.

Es ist ein großer, unberechenbarer Gewinn für die Italiener, daß sich
jetzt ein nationaler Staat gebildet hat, dessen Regierung mit den gesunden
Classen des Volks in völligem Einklang, bei den Nachbarstaaten geachtet, von
der Geistlichkeit unabhängig und von dem Gedanken des italienischen Fort¬
schritts lebhast durchdrungen ist. Das kleine Haus Savoyen hat seit alten
Zeiten eine zugleich feine, verständige und consequente, zähe Politik entwickelt,
die sich auch heute wieder geltend macht. Es ist ein sehr großer Fortschritt,
daß die gebildete Classe unter den Liberalen Italiens ihre Hoffnungen nicht
mehr aus die römische Republik, sondern auf das turiner Königthum richtet.
Nur muß man sich auch jetzt noch hüten, die Kräfte Sardiniens zu überschätzen,
nicht blos in materieller Beziehung, sondern auch in geistiger. Wenn es Karl
Albert nicht gelang, die Mailänder Revolution zu beherrschen, so ist auch
jetzt noch Sardinien nicht stark genug, die sehr verschiedenartigen italienischen
Elemente zu absorbiren. Wenn Sardinien ebenso besonnen als fest auf der
Bahn der Reform fortgeht, und die Nachbarstaaten theils durch unmittelbaren
Einfluß, theils durch die zwingende Macht des Beispiels zu ähnlichen Re¬
formen veranlaßt, so wird nicht blos für den Augenblick viel Nützliches ge¬
stiftet, sondern es werden dadurch auch jene conservativen Elemente gewon¬
nen, die, wie vorher bemerkt, allein die Brücke aus dem alten Zustand
in den neuen bilden können. Der Bund mit dem Radikalismus dagegen
wäre, ganz abgesehen von den äußerlichen Combinationen, die wir hier über¬
haupt bei Seite lassen, für Sardinien verderblich, denn bis jetzt wäre bei
einem ausbrechenden Conflict der Radicalismus noch der stärkere Gegner.
Unter den gebildeten Classen Italiens ist die Partei, welche für die Reform
und gegen die Revolution ist, bedeutend genug; es kommt nur darauf an,
daß sie von einer organisirten Negierung mit fester Hand geleitet wird. Die
Schwierigkeiten sind gewiß sehr groß; es gehört zum Werk der Reform nicht
blos Muth und Entschlossenheit, sondern zähe Ausdauer, Geduld und Über¬
legung; aber mit ihnen kommt man auch in der That Schritt für Schritt vor¬
wärts, während die Conspirationcn zu nichts führen. Noch eins hat uns bei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/222>, abgerufen am 01.09.2024.