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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Sophie und Delphine My.

Selten gelingt es Frauen, auf dem Gebiet der Dichtung eine wahr¬
haft schöpferische Rolle zu spielen, in einem Moment der Wiedergeburt den
neuen Ideen und Empfindungen einen hinreißenden Ausdruck oder eine classische
Abrundung zu geben; dagegen sind sie häufig von Wichtigkeit für das Ver¬
ständniß der sittlichen und geselligen Zustände, aus denen sie hervorgegangen
sind, und die in der Periode, wo der Geist sich firirt, ihre Lebensatmosphäre
gebildet haben. Von Frankreich gilt das in noch viel höherem Grade, als
von Deutschland. Bei uns gibt es keinen bleibenden Mittelpunkt der Gesel¬
ligkeit, keinen fest ausgesprochenen Ton, es fehlt uns an allgemeinen Voraus¬
setzungen, und wenn man will, an VorurtheilW. Das französische Leben
dagegen concentn'rde sich bereits seit Ludwig XIV. in Paris, nicht blos in
Polnischer Beziehung, und wenn in der neuesten Zeit Balzac, G. Sand,
E. Souvestre und andere das gesellige Leben der Provinz zum Gegenstand
ihrer Romane gemacht haben, so waren daS für Frankreich ebenso neue Ent¬
deckungsreisen jener Dichter, wie für Deutschland die schweizer und schwarz-
wälder Dorfgeschichten. Man wird es namentlich Balzac immer Dank wissen,
daß er, freilich mit einiger Uebertreibung, Lebensschichten in den Kreis des
Romans gezogen hat, von denen man früher keine Vorstellung besaß.

Man kann an der Hand der französischen Schriftstellerinnen die verschie¬
denen Entwicklungsstufen der Gesellschaft ziemlich genau verfolgen. In der
sogenannten guten alten Zeit der französischen Monarchie, einer Zeit, welche
noch einen großen Theil der Negierung Ludwigs XV. umfaßt, dachten die
Frauen von gutem Ton nur selten daran, für das größere Publicum zu
schreiben. Desto fruchtbarer waren sie in Briefen, und die Sammlungen der¬
selben, zum Theil lange nach ihrem Tode herausgegeben, waren für die Nach¬
welt ein werthvolles Zeugniß von dem Ton, der früher in der guten Gesell¬
schaft geherrscht hatte. In der zweiten Hälfte deö 18. Jahrhunderts nehmen
wir eine wesentliche Veränderung wahr. Die Frauen begnügen sich nicht mehr
mit der Analyse ihrer eignen Empfindungen, mit liebenswürdigen kleinen
Bosheiten gegen ihre Nebenmenschen, sie legen sich auf die Philosophie, sie
wachen Propaganda für das Reich der Zukunft, sie verbessern die Welt. Dieser
philosophische Eifer schloß eine gewisse Empfindsamkeit nicht aus. Die idylli¬
schen Schäfer Berquins, Florians und Geßners mischten sich in die Träume¬
reien Rousseaus, und wenn das leitende Princip der Naturwahrheit zu ver¬
ständigem Handeln trieb, so versagte man sich doch nicht den Genuß der
Thränen, die man der Tugend weihte. Madame Roland ist der bestimmteste


Sophie und Delphine My.

Selten gelingt es Frauen, auf dem Gebiet der Dichtung eine wahr¬
haft schöpferische Rolle zu spielen, in einem Moment der Wiedergeburt den
neuen Ideen und Empfindungen einen hinreißenden Ausdruck oder eine classische
Abrundung zu geben; dagegen sind sie häufig von Wichtigkeit für das Ver¬
ständniß der sittlichen und geselligen Zustände, aus denen sie hervorgegangen
sind, und die in der Periode, wo der Geist sich firirt, ihre Lebensatmosphäre
gebildet haben. Von Frankreich gilt das in noch viel höherem Grade, als
von Deutschland. Bei uns gibt es keinen bleibenden Mittelpunkt der Gesel¬
ligkeit, keinen fest ausgesprochenen Ton, es fehlt uns an allgemeinen Voraus¬
setzungen, und wenn man will, an VorurtheilW. Das französische Leben
dagegen concentn'rde sich bereits seit Ludwig XIV. in Paris, nicht blos in
Polnischer Beziehung, und wenn in der neuesten Zeit Balzac, G. Sand,
E. Souvestre und andere das gesellige Leben der Provinz zum Gegenstand
ihrer Romane gemacht haben, so waren daS für Frankreich ebenso neue Ent¬
deckungsreisen jener Dichter, wie für Deutschland die schweizer und schwarz-
wälder Dorfgeschichten. Man wird es namentlich Balzac immer Dank wissen,
daß er, freilich mit einiger Uebertreibung, Lebensschichten in den Kreis des
Romans gezogen hat, von denen man früher keine Vorstellung besaß.

Man kann an der Hand der französischen Schriftstellerinnen die verschie¬
denen Entwicklungsstufen der Gesellschaft ziemlich genau verfolgen. In der
sogenannten guten alten Zeit der französischen Monarchie, einer Zeit, welche
noch einen großen Theil der Negierung Ludwigs XV. umfaßt, dachten die
Frauen von gutem Ton nur selten daran, für das größere Publicum zu
schreiben. Desto fruchtbarer waren sie in Briefen, und die Sammlungen der¬
selben, zum Theil lange nach ihrem Tode herausgegeben, waren für die Nach¬
welt ein werthvolles Zeugniß von dem Ton, der früher in der guten Gesell¬
schaft geherrscht hatte. In der zweiten Hälfte deö 18. Jahrhunderts nehmen
wir eine wesentliche Veränderung wahr. Die Frauen begnügen sich nicht mehr
mit der Analyse ihrer eignen Empfindungen, mit liebenswürdigen kleinen
Bosheiten gegen ihre Nebenmenschen, sie legen sich auf die Philosophie, sie
wachen Propaganda für das Reich der Zukunft, sie verbessern die Welt. Dieser
philosophische Eifer schloß eine gewisse Empfindsamkeit nicht aus. Die idylli¬
schen Schäfer Berquins, Florians und Geßners mischten sich in die Träume¬
reien Rousseaus, und wenn das leitende Princip der Naturwahrheit zu ver¬
ständigem Handeln trieb, so versagte man sich doch nicht den Genuß der
Thränen, die man der Tugend weihte. Madame Roland ist der bestimmteste


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[0103] Sophie und Delphine My. Selten gelingt es Frauen, auf dem Gebiet der Dichtung eine wahr¬ haft schöpferische Rolle zu spielen, in einem Moment der Wiedergeburt den neuen Ideen und Empfindungen einen hinreißenden Ausdruck oder eine classische Abrundung zu geben; dagegen sind sie häufig von Wichtigkeit für das Ver¬ ständniß der sittlichen und geselligen Zustände, aus denen sie hervorgegangen sind, und die in der Periode, wo der Geist sich firirt, ihre Lebensatmosphäre gebildet haben. Von Frankreich gilt das in noch viel höherem Grade, als von Deutschland. Bei uns gibt es keinen bleibenden Mittelpunkt der Gesel¬ ligkeit, keinen fest ausgesprochenen Ton, es fehlt uns an allgemeinen Voraus¬ setzungen, und wenn man will, an VorurtheilW. Das französische Leben dagegen concentn'rde sich bereits seit Ludwig XIV. in Paris, nicht blos in Polnischer Beziehung, und wenn in der neuesten Zeit Balzac, G. Sand, E. Souvestre und andere das gesellige Leben der Provinz zum Gegenstand ihrer Romane gemacht haben, so waren daS für Frankreich ebenso neue Ent¬ deckungsreisen jener Dichter, wie für Deutschland die schweizer und schwarz- wälder Dorfgeschichten. Man wird es namentlich Balzac immer Dank wissen, daß er, freilich mit einiger Uebertreibung, Lebensschichten in den Kreis des Romans gezogen hat, von denen man früher keine Vorstellung besaß. Man kann an der Hand der französischen Schriftstellerinnen die verschie¬ denen Entwicklungsstufen der Gesellschaft ziemlich genau verfolgen. In der sogenannten guten alten Zeit der französischen Monarchie, einer Zeit, welche noch einen großen Theil der Negierung Ludwigs XV. umfaßt, dachten die Frauen von gutem Ton nur selten daran, für das größere Publicum zu schreiben. Desto fruchtbarer waren sie in Briefen, und die Sammlungen der¬ selben, zum Theil lange nach ihrem Tode herausgegeben, waren für die Nach¬ welt ein werthvolles Zeugniß von dem Ton, der früher in der guten Gesell¬ schaft geherrscht hatte. In der zweiten Hälfte deö 18. Jahrhunderts nehmen wir eine wesentliche Veränderung wahr. Die Frauen begnügen sich nicht mehr mit der Analyse ihrer eignen Empfindungen, mit liebenswürdigen kleinen Bosheiten gegen ihre Nebenmenschen, sie legen sich auf die Philosophie, sie wachen Propaganda für das Reich der Zukunft, sie verbessern die Welt. Dieser philosophische Eifer schloß eine gewisse Empfindsamkeit nicht aus. Die idylli¬ schen Schäfer Berquins, Florians und Geßners mischten sich in die Träume¬ reien Rousseaus, und wenn das leitende Princip der Naturwahrheit zu ver¬ ständigem Handeln trieb, so versagte man sich doch nicht den Genuß der Thränen, die man der Tugend weihte. Madame Roland ist der bestimmteste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/103>, abgerufen am 28.07.2024.