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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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der ursprünglichen christlichen Kirche entwickelte, die von der rationalistischen
nur durch ein Mikroskop zu unterscheiden war. Das Buch hätte ein bei wei¬
tem noch größeres Aussehn gemacht, wenn es sich nicht durch seine gelehrte
Außenseite der Masse entzogen hätte. Stahl hat ganz richtig ausgeführt, daß
für den ungeheuren Erfolg der "Zeichen der Zeit" wenigstens eins der Motive
in der Persönlichkeit des Verfassers lag; denn Aehnliches war schon vielfach
gesagt worden, man war nur erstaunt und erfreut, daß es grade von dieser
Seite kam. Nur in einem Punkt irrt sich Stahl thatsächlich. Das Publ.cum
der "Zeichen der Zeit" waren nicht diejenigen, die er als die Anhänger Feuer¬
bachs und Bauers, als die Gottlosen bezeichnet, sondern grade diejenigen
Kreise, die durch die harten Formen des religiösen Radicalismus im höchsten
Grade verletzt waren. Dies zu constatiren ist insofern von Wichtigkeit, als
man sonst ein falsches Inventarium der Gläubigen im Sinne Vilmars, Ki.e-
foths und Hengstenbergs aufstellen würde. Rohe Lästerungen der Religion
unserer Väter wird die sittlich ernste Gesinnung stets zurückweisen; aber damit
ist noch keineswegs .gesagt, daß diese Gegner des Radicalismus unsere sym¬
bolischen Bücher im Wesentlichen anders interpretiren, als es von Seiten der
Philosophie geschieht.

Das neue Buch von Bunsen enthält Vieles, dem wir vollkommen beitreten
können. Zunächst die Ansicht, daß die Trennung von philosophischer und von
philologisch-geschichtlicher Behandlung sich überlebt hat, und daß die Zukunft
der gründlichen Vereinigung beider Richtungen gehört. "Denn wie kann je¬
mand forschen über einen Gegenstand, wie Sprache, Religion, Kunst und der¬
gleichen, ohne den Begriff dieses Gegenstandes zu kennen und zu verstehen?
Uno woher kann er diesen anders erhalten, als von der Philosophie, der
Wissenschaft des begreiflichen Denkens?" Sehr erquickt hat uns auch die Dar¬
stellung der scholastischen Theologie, "welche in unserer Zeit nichts Besseres zu
thun weiß, als philologische Mißverständnisse und geschichtliche Irrthümer nicht
allein fortdauernd mit der ganz unzureichenden Methode des scholastischen
Mittelalters zu behandeln, sondern die allerärgsten derselben hervorzuheben
und zu vergöttern, und dann den Gewissen der Völker als höchste Wahrheit
aufzubürden." "Im Werke selbst", fährt Bunsen fort, "schien es zu genügen,
nur gelegentlich die gänzliche Hohlheit dieses Systems zu berühren, insbeson¬
dere des lutheranischen, welches in jeder Hinsicht weniger Nachsicht verdient,
als die Annahme der römischen und griechischen Dogmatik." Im Gegensatz
zum modernen Indifferentismus vertritt Bunsen mit. erfreulicher Wärme die
Sache der Philosophie, wie sie namentlich durch Hegel und Schleiermacher
in Beziehung auf den Geist des Christenthums ausgebildet ist. Er findet
grade in unsrer Zeit das ernsteste Zusammenraffen des philosophischen Geistes
nothwendig, "Die Selbstsucht als Anarchie arbeitet für den Absolutismus:


der ursprünglichen christlichen Kirche entwickelte, die von der rationalistischen
nur durch ein Mikroskop zu unterscheiden war. Das Buch hätte ein bei wei¬
tem noch größeres Aussehn gemacht, wenn es sich nicht durch seine gelehrte
Außenseite der Masse entzogen hätte. Stahl hat ganz richtig ausgeführt, daß
für den ungeheuren Erfolg der „Zeichen der Zeit" wenigstens eins der Motive
in der Persönlichkeit des Verfassers lag; denn Aehnliches war schon vielfach
gesagt worden, man war nur erstaunt und erfreut, daß es grade von dieser
Seite kam. Nur in einem Punkt irrt sich Stahl thatsächlich. Das Publ.cum
der „Zeichen der Zeit" waren nicht diejenigen, die er als die Anhänger Feuer¬
bachs und Bauers, als die Gottlosen bezeichnet, sondern grade diejenigen
Kreise, die durch die harten Formen des religiösen Radicalismus im höchsten
Grade verletzt waren. Dies zu constatiren ist insofern von Wichtigkeit, als
man sonst ein falsches Inventarium der Gläubigen im Sinne Vilmars, Ki.e-
foths und Hengstenbergs aufstellen würde. Rohe Lästerungen der Religion
unserer Väter wird die sittlich ernste Gesinnung stets zurückweisen; aber damit
ist noch keineswegs .gesagt, daß diese Gegner des Radicalismus unsere sym¬
bolischen Bücher im Wesentlichen anders interpretiren, als es von Seiten der
Philosophie geschieht.

Das neue Buch von Bunsen enthält Vieles, dem wir vollkommen beitreten
können. Zunächst die Ansicht, daß die Trennung von philosophischer und von
philologisch-geschichtlicher Behandlung sich überlebt hat, und daß die Zukunft
der gründlichen Vereinigung beider Richtungen gehört. „Denn wie kann je¬
mand forschen über einen Gegenstand, wie Sprache, Religion, Kunst und der¬
gleichen, ohne den Begriff dieses Gegenstandes zu kennen und zu verstehen?
Uno woher kann er diesen anders erhalten, als von der Philosophie, der
Wissenschaft des begreiflichen Denkens?" Sehr erquickt hat uns auch die Dar¬
stellung der scholastischen Theologie, „welche in unserer Zeit nichts Besseres zu
thun weiß, als philologische Mißverständnisse und geschichtliche Irrthümer nicht
allein fortdauernd mit der ganz unzureichenden Methode des scholastischen
Mittelalters zu behandeln, sondern die allerärgsten derselben hervorzuheben
und zu vergöttern, und dann den Gewissen der Völker als höchste Wahrheit
aufzubürden." „Im Werke selbst", fährt Bunsen fort, „schien es zu genügen,
nur gelegentlich die gänzliche Hohlheit dieses Systems zu berühren, insbeson¬
dere des lutheranischen, welches in jeder Hinsicht weniger Nachsicht verdient,
als die Annahme der römischen und griechischen Dogmatik." Im Gegensatz
zum modernen Indifferentismus vertritt Bunsen mit. erfreulicher Wärme die
Sache der Philosophie, wie sie namentlich durch Hegel und Schleiermacher
in Beziehung auf den Geist des Christenthums ausgebildet ist. Er findet
grade in unsrer Zeit das ernsteste Zusammenraffen des philosophischen Geistes
nothwendig, „Die Selbstsucht als Anarchie arbeitet für den Absolutismus:


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[0079] der ursprünglichen christlichen Kirche entwickelte, die von der rationalistischen nur durch ein Mikroskop zu unterscheiden war. Das Buch hätte ein bei wei¬ tem noch größeres Aussehn gemacht, wenn es sich nicht durch seine gelehrte Außenseite der Masse entzogen hätte. Stahl hat ganz richtig ausgeführt, daß für den ungeheuren Erfolg der „Zeichen der Zeit" wenigstens eins der Motive in der Persönlichkeit des Verfassers lag; denn Aehnliches war schon vielfach gesagt worden, man war nur erstaunt und erfreut, daß es grade von dieser Seite kam. Nur in einem Punkt irrt sich Stahl thatsächlich. Das Publ.cum der „Zeichen der Zeit" waren nicht diejenigen, die er als die Anhänger Feuer¬ bachs und Bauers, als die Gottlosen bezeichnet, sondern grade diejenigen Kreise, die durch die harten Formen des religiösen Radicalismus im höchsten Grade verletzt waren. Dies zu constatiren ist insofern von Wichtigkeit, als man sonst ein falsches Inventarium der Gläubigen im Sinne Vilmars, Ki.e- foths und Hengstenbergs aufstellen würde. Rohe Lästerungen der Religion unserer Väter wird die sittlich ernste Gesinnung stets zurückweisen; aber damit ist noch keineswegs .gesagt, daß diese Gegner des Radicalismus unsere sym¬ bolischen Bücher im Wesentlichen anders interpretiren, als es von Seiten der Philosophie geschieht. Das neue Buch von Bunsen enthält Vieles, dem wir vollkommen beitreten können. Zunächst die Ansicht, daß die Trennung von philosophischer und von philologisch-geschichtlicher Behandlung sich überlebt hat, und daß die Zukunft der gründlichen Vereinigung beider Richtungen gehört. „Denn wie kann je¬ mand forschen über einen Gegenstand, wie Sprache, Religion, Kunst und der¬ gleichen, ohne den Begriff dieses Gegenstandes zu kennen und zu verstehen? Uno woher kann er diesen anders erhalten, als von der Philosophie, der Wissenschaft des begreiflichen Denkens?" Sehr erquickt hat uns auch die Dar¬ stellung der scholastischen Theologie, „welche in unserer Zeit nichts Besseres zu thun weiß, als philologische Mißverständnisse und geschichtliche Irrthümer nicht allein fortdauernd mit der ganz unzureichenden Methode des scholastischen Mittelalters zu behandeln, sondern die allerärgsten derselben hervorzuheben und zu vergöttern, und dann den Gewissen der Völker als höchste Wahrheit aufzubürden." „Im Werke selbst", fährt Bunsen fort, „schien es zu genügen, nur gelegentlich die gänzliche Hohlheit dieses Systems zu berühren, insbeson¬ dere des lutheranischen, welches in jeder Hinsicht weniger Nachsicht verdient, als die Annahme der römischen und griechischen Dogmatik." Im Gegensatz zum modernen Indifferentismus vertritt Bunsen mit. erfreulicher Wärme die Sache der Philosophie, wie sie namentlich durch Hegel und Schleiermacher in Beziehung auf den Geist des Christenthums ausgebildet ist. Er findet grade in unsrer Zeit das ernsteste Zusammenraffen des philosophischen Geistes nothwendig, „Die Selbstsucht als Anarchie arbeitet für den Absolutismus:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/79>, abgerufen am 22.12.2024.