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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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an den Schluß deS Capitels folgenden Satz: "Die Geschichte hat eine Neme¬
sis für jede Sünde, für den impotenten Freiheitsdrang wie für den unverstän¬
digen Edelmuth)/'

Dieser Satz ist nichts weiter als ein Dithyrambus des souveränen Es¬
prit. Der Verfasser, den wir wahrhaft verehren, möge uns den harten Aus¬
druck verzeihen; die Sache ist zu wichtig und der Fall ist nicht vereinzelt, es
zieht sich vielmehr diese Neigung zu Paradorien durch das ganze Buch und
gibt mitunter den bedenklichsten Anwendungen Raum.

Der Kritiker steht innerhalb der Zeit, die er kritisirt; der Kämpf gegen
die Sentimentalitätspolitik ist ein Ausfluß der Sentimentalität. Geht denn
Mommsen in der That mit Macchiavell, mit Talleyrand und ähnlichen Poli¬
tikern, die das momentan Zweckmäßige über das ewig Rechte, die kalte Be¬
rechnung über das heiligste Gefühl stellen, Hand in Hand? Ist ihm der
Freiheitsdrang einer Nation, auch wenn man die Nothwendigkeit deS Unter-
liegens voraussieht, wirklich nur ein Fehler? Gilt die Verzweiflung ihm nicht
als eine historische Macht? -- Es gibt Stellen seiner Geschichte, nach denen
man in der That so schließen sollte; aber der edle Eindruck des Ganzen läßt
dies Gefühl nicht aufkommen. Mommsen hat Sinn für jede Größe, auch
wenn sie unterliegt. Er weiß sehr gut, baß das Gefühl und das Gewissen
historische Mächte sind , ebenso einflußreich auf die Entwicklung der Menschheit,
als der Verstand; er weiß, daß es dem Menschen nicht immer gegeben ist,
einem tragischen Conflict zu entgehen, daß jene dämonische Gewalt, die den
Willen der Einzelnen durchkreuzt, sich auch am Leben der Nationen geltend
macht, und daß in diesen großen Conflicten, die zum Theil die höchsten Punkte
der Geschichte sind, die kalte Berechnung nicht mit zu reden hat. Er weiß
das alles, aber der Ungestüm seiner Empfindung läßt es ihn auf Augenblicke
vergessen. Die Gesichtspunkte, die er angibt, so sehr sie sich dem Anschein
nach widersprechen, sind durchweg richtig und treffend, und wenn er stets die
Einseitigkeit deS einen durch den andern ergänzte, so würden wir mit ihm
unbedingt einverstanden sein können. Statt dessen läßt er den einen nach dem
andern ausschließlich hervortreten, und es ist nicht immer die Natur der That¬
sachen, die ihn bestimmt, sondern zuweilen seine eigne Stimmung, hervor¬
gerufen durch irgend eine Ideenassociation: die Römer müssen büßen, was
verwandte Erscheinungen in der Gegenwart gesündigt haben. Es ist aber in
unserer Zeit nicht erlaubt, der Paradorie nachzugehen, am wenigsten einem
Schriftsteller, dessen Wort und Gedanke so mächtig wirkt. Der Grundsatz:
rwblesse obliKe, gilt auch von dem geistigen Adel. Es fehlt in unserer ab¬
gespannten Zeit, die, nachdem das erste Strohfeuer der Begeisterung verraucht
ist, mit Hast jedes Raisonnement ergreift, das irgend einen lästigen Glaubens¬
artikelwiderlegt, uicht an Sophisten, die diesem Zeitbedürfniß entgegenkommen,


an den Schluß deS Capitels folgenden Satz: „Die Geschichte hat eine Neme¬
sis für jede Sünde, für den impotenten Freiheitsdrang wie für den unverstän¬
digen Edelmuth)/'

Dieser Satz ist nichts weiter als ein Dithyrambus des souveränen Es¬
prit. Der Verfasser, den wir wahrhaft verehren, möge uns den harten Aus¬
druck verzeihen; die Sache ist zu wichtig und der Fall ist nicht vereinzelt, es
zieht sich vielmehr diese Neigung zu Paradorien durch das ganze Buch und
gibt mitunter den bedenklichsten Anwendungen Raum.

Der Kritiker steht innerhalb der Zeit, die er kritisirt; der Kämpf gegen
die Sentimentalitätspolitik ist ein Ausfluß der Sentimentalität. Geht denn
Mommsen in der That mit Macchiavell, mit Talleyrand und ähnlichen Poli¬
tikern, die das momentan Zweckmäßige über das ewig Rechte, die kalte Be¬
rechnung über das heiligste Gefühl stellen, Hand in Hand? Ist ihm der
Freiheitsdrang einer Nation, auch wenn man die Nothwendigkeit deS Unter-
liegens voraussieht, wirklich nur ein Fehler? Gilt die Verzweiflung ihm nicht
als eine historische Macht? — Es gibt Stellen seiner Geschichte, nach denen
man in der That so schließen sollte; aber der edle Eindruck des Ganzen läßt
dies Gefühl nicht aufkommen. Mommsen hat Sinn für jede Größe, auch
wenn sie unterliegt. Er weiß sehr gut, baß das Gefühl und das Gewissen
historische Mächte sind , ebenso einflußreich auf die Entwicklung der Menschheit,
als der Verstand; er weiß, daß es dem Menschen nicht immer gegeben ist,
einem tragischen Conflict zu entgehen, daß jene dämonische Gewalt, die den
Willen der Einzelnen durchkreuzt, sich auch am Leben der Nationen geltend
macht, und daß in diesen großen Conflicten, die zum Theil die höchsten Punkte
der Geschichte sind, die kalte Berechnung nicht mit zu reden hat. Er weiß
das alles, aber der Ungestüm seiner Empfindung läßt es ihn auf Augenblicke
vergessen. Die Gesichtspunkte, die er angibt, so sehr sie sich dem Anschein
nach widersprechen, sind durchweg richtig und treffend, und wenn er stets die
Einseitigkeit deS einen durch den andern ergänzte, so würden wir mit ihm
unbedingt einverstanden sein können. Statt dessen läßt er den einen nach dem
andern ausschließlich hervortreten, und es ist nicht immer die Natur der That¬
sachen, die ihn bestimmt, sondern zuweilen seine eigne Stimmung, hervor¬
gerufen durch irgend eine Ideenassociation: die Römer müssen büßen, was
verwandte Erscheinungen in der Gegenwart gesündigt haben. Es ist aber in
unserer Zeit nicht erlaubt, der Paradorie nachzugehen, am wenigsten einem
Schriftsteller, dessen Wort und Gedanke so mächtig wirkt. Der Grundsatz:
rwblesse obliKe, gilt auch von dem geistigen Adel. Es fehlt in unserer ab¬
gespannten Zeit, die, nachdem das erste Strohfeuer der Begeisterung verraucht
ist, mit Hast jedes Raisonnement ergreift, das irgend einen lästigen Glaubens¬
artikelwiderlegt, uicht an Sophisten, die diesem Zeitbedürfniß entgegenkommen,


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[0502] an den Schluß deS Capitels folgenden Satz: „Die Geschichte hat eine Neme¬ sis für jede Sünde, für den impotenten Freiheitsdrang wie für den unverstän¬ digen Edelmuth)/' Dieser Satz ist nichts weiter als ein Dithyrambus des souveränen Es¬ prit. Der Verfasser, den wir wahrhaft verehren, möge uns den harten Aus¬ druck verzeihen; die Sache ist zu wichtig und der Fall ist nicht vereinzelt, es zieht sich vielmehr diese Neigung zu Paradorien durch das ganze Buch und gibt mitunter den bedenklichsten Anwendungen Raum. Der Kritiker steht innerhalb der Zeit, die er kritisirt; der Kämpf gegen die Sentimentalitätspolitik ist ein Ausfluß der Sentimentalität. Geht denn Mommsen in der That mit Macchiavell, mit Talleyrand und ähnlichen Poli¬ tikern, die das momentan Zweckmäßige über das ewig Rechte, die kalte Be¬ rechnung über das heiligste Gefühl stellen, Hand in Hand? Ist ihm der Freiheitsdrang einer Nation, auch wenn man die Nothwendigkeit deS Unter- liegens voraussieht, wirklich nur ein Fehler? Gilt die Verzweiflung ihm nicht als eine historische Macht? — Es gibt Stellen seiner Geschichte, nach denen man in der That so schließen sollte; aber der edle Eindruck des Ganzen läßt dies Gefühl nicht aufkommen. Mommsen hat Sinn für jede Größe, auch wenn sie unterliegt. Er weiß sehr gut, baß das Gefühl und das Gewissen historische Mächte sind , ebenso einflußreich auf die Entwicklung der Menschheit, als der Verstand; er weiß, daß es dem Menschen nicht immer gegeben ist, einem tragischen Conflict zu entgehen, daß jene dämonische Gewalt, die den Willen der Einzelnen durchkreuzt, sich auch am Leben der Nationen geltend macht, und daß in diesen großen Conflicten, die zum Theil die höchsten Punkte der Geschichte sind, die kalte Berechnung nicht mit zu reden hat. Er weiß das alles, aber der Ungestüm seiner Empfindung läßt es ihn auf Augenblicke vergessen. Die Gesichtspunkte, die er angibt, so sehr sie sich dem Anschein nach widersprechen, sind durchweg richtig und treffend, und wenn er stets die Einseitigkeit deS einen durch den andern ergänzte, so würden wir mit ihm unbedingt einverstanden sein können. Statt dessen läßt er den einen nach dem andern ausschließlich hervortreten, und es ist nicht immer die Natur der That¬ sachen, die ihn bestimmt, sondern zuweilen seine eigne Stimmung, hervor¬ gerufen durch irgend eine Ideenassociation: die Römer müssen büßen, was verwandte Erscheinungen in der Gegenwart gesündigt haben. Es ist aber in unserer Zeit nicht erlaubt, der Paradorie nachzugehen, am wenigsten einem Schriftsteller, dessen Wort und Gedanke so mächtig wirkt. Der Grundsatz: rwblesse obliKe, gilt auch von dem geistigen Adel. Es fehlt in unserer ab¬ gespannten Zeit, die, nachdem das erste Strohfeuer der Begeisterung verraucht ist, mit Hast jedes Raisonnement ergreift, das irgend einen lästigen Glaubens¬ artikelwiderlegt, uicht an Sophisten, die diesem Zeitbedürfniß entgegenkommen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/502>, abgerufen am 23.07.2024.