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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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dichtend und componirend um das leicht befriedigte Publicum verdient zu machen,
und so wird eS begreiflich, daß ernste Männer die Vorliebe für die deutsche
Oper ungünstig ansahen, weil sie ebensowol für das deutsche Schauspiel, dessen
würdige und freie Entwicklung nicht ohne große Anstrengung errungen war,
als sür die kunstgemäße Oper Nachtheil von diesem dilettantischen Treiben be¬
fürchteten.

So schreibt Boie 1771 an Knebel: "Ich liebe die Operetten nicht; der
Geschmack, den unser Publicum daran zu finden beginnt, droht auch die Hoff¬
nung zur wahren Komödie zu ersticken, die uns noch gänzlich fehlt." Der
Schauspieler Müller erkundigte sich auf seiner dramatischen Rundreise im
Jahr 1776 bei competenten Richtern auch nach der Zulässtgkeit der deutschen
Operetten; die verschiedenen Ansichten, welche er erfuhr, sind charakteristisch genug.
Lessing -- der die Verbindung der Poesie und Musik für die vollkommenste
hielt, "so daß die Natur selbst sie nicht sowol zur Verbindung als vielmehr
zu einer und ebenderselben Kunst bestimmt zu haben scheine" und bei der
Würdigung der Oper das Wesentliche und Zufällige wohl zu scheiden wußte
(Werke XI. S. 162 ff.) -- war gegen die Singspiele: "Sie sind das Verder¬
ben unserer Bühne; ein solches Werk ist leicht geschrieben, jede Komödie gibt
dem Versasser Stoff dazu, er schaltet Gesänge ein, so ist das Stück fertig;
unsere neu entstehenden Theaterdichter finden diese kleine Mühe freilich leichter
als ein gutes Charakterstück zu schreiben" (Müller Abschied S. 140). Heftiger
noch als Lessing eiferte Gleim gegen die deutsche Oper (Müller Abschied S. 146)
und gab ihm ein Epigramm mit (S. 157) gegen die "Here,


die, schlau wie Schlang' und Krokodil!,
sich schleicht in aller Menschen Herzen
und drinnen sitzt, als wie ein Huhn
aus seinem Nest, und lehrt: nur kleine Thaten thun
und über große Thaten scherzen!"

Darüber lächelte Weiße, dem Müller es mittheilte, mit Recht und erklärte
sich, wie eS von dem Begründer der deutschen Oper zu erwarten war, für
dieselbe (Müller Abschied S. 163); obgleich er nach seiner bescheidenen Art
wohl einsah, daß Operetten keine Werke der dramatischen Kunst wären und
nicht hoffte, den Kunstsinn seiner Nation durch sie zu erhöhen, wiewol er auch
nicht ihn zu verderben fürchtete, sondern die Deutschen zum gesellschaftlichen
Gesänge anzuleiten und dadurch das allgemeine und das gesellschaftliche Ver¬
gnügen zu befördern wünschte (Weiße Selbstbiographie S. 103 f.). Lebhafter
äußerte sich Wieland, der deutsche Gesang müsse die vaterländische Bühne
erst in Ansehen setzen; komische und ernsthafte deutsche Singspiele fehlten noch,
aber es würden sich schon Dichter hervorthun, um diesem Mangel abzuhelfen
(Müller Abschied S. 188). Er konnte sich nicht allein auf seine Alceste und


dichtend und componirend um das leicht befriedigte Publicum verdient zu machen,
und so wird eS begreiflich, daß ernste Männer die Vorliebe für die deutsche
Oper ungünstig ansahen, weil sie ebensowol für das deutsche Schauspiel, dessen
würdige und freie Entwicklung nicht ohne große Anstrengung errungen war,
als sür die kunstgemäße Oper Nachtheil von diesem dilettantischen Treiben be¬
fürchteten.

So schreibt Boie 1771 an Knebel: „Ich liebe die Operetten nicht; der
Geschmack, den unser Publicum daran zu finden beginnt, droht auch die Hoff¬
nung zur wahren Komödie zu ersticken, die uns noch gänzlich fehlt." Der
Schauspieler Müller erkundigte sich auf seiner dramatischen Rundreise im
Jahr 1776 bei competenten Richtern auch nach der Zulässtgkeit der deutschen
Operetten; die verschiedenen Ansichten, welche er erfuhr, sind charakteristisch genug.
Lessing — der die Verbindung der Poesie und Musik für die vollkommenste
hielt, „so daß die Natur selbst sie nicht sowol zur Verbindung als vielmehr
zu einer und ebenderselben Kunst bestimmt zu haben scheine" und bei der
Würdigung der Oper das Wesentliche und Zufällige wohl zu scheiden wußte
(Werke XI. S. 162 ff.) — war gegen die Singspiele: „Sie sind das Verder¬
ben unserer Bühne; ein solches Werk ist leicht geschrieben, jede Komödie gibt
dem Versasser Stoff dazu, er schaltet Gesänge ein, so ist das Stück fertig;
unsere neu entstehenden Theaterdichter finden diese kleine Mühe freilich leichter
als ein gutes Charakterstück zu schreiben" (Müller Abschied S. 140). Heftiger
noch als Lessing eiferte Gleim gegen die deutsche Oper (Müller Abschied S. 146)
und gab ihm ein Epigramm mit (S. 157) gegen die „Here,


die, schlau wie Schlang' und Krokodil!,
sich schleicht in aller Menschen Herzen
und drinnen sitzt, als wie ein Huhn
aus seinem Nest, und lehrt: nur kleine Thaten thun
und über große Thaten scherzen!"

Darüber lächelte Weiße, dem Müller es mittheilte, mit Recht und erklärte
sich, wie eS von dem Begründer der deutschen Oper zu erwarten war, für
dieselbe (Müller Abschied S. 163); obgleich er nach seiner bescheidenen Art
wohl einsah, daß Operetten keine Werke der dramatischen Kunst wären und
nicht hoffte, den Kunstsinn seiner Nation durch sie zu erhöhen, wiewol er auch
nicht ihn zu verderben fürchtete, sondern die Deutschen zum gesellschaftlichen
Gesänge anzuleiten und dadurch das allgemeine und das gesellschaftliche Ver¬
gnügen zu befördern wünschte (Weiße Selbstbiographie S. 103 f.). Lebhafter
äußerte sich Wieland, der deutsche Gesang müsse die vaterländische Bühne
erst in Ansehen setzen; komische und ernsthafte deutsche Singspiele fehlten noch,
aber es würden sich schon Dichter hervorthun, um diesem Mangel abzuhelfen
(Müller Abschied S. 188). Er konnte sich nicht allein auf seine Alceste und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/495>, abgerufen am 23.07.2024.