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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Und wie verschieden sind die Klänge dieser Idiome! das Lettische steht hinsicht¬
lich der Härte seiner ConsonantenhÄufung in der Mitte zwischen seinen indoger¬
manischen Verwandten, dem Deutschen und Russischen; das Esthnische, vocal-
reich und consonantenarm, klingt weich und melodisch, wenn es auch nicht,
wie die Esthländer glauben, mit dem Italienischen verglichen werden kann.
Der Esthe lernt deshalb das Deutsche nie vollständig rein sprechen, vom Russi¬
schen kaum so viel, als zur Verständigung hinreicht. Natürlich sind nach und
nach eine Menge deutscher Worte, die Namen von vielen Dingen und Be¬
griffen, die mit der deutschen Cultur einwanderten, auch in die Sprache der
Eingeborenen übergegangen; auch hat sich durch die von Deutschen ausgearbeitete
Uebersetzung der Bibel und durch die früher größtentheils aus Deutschland
einwandernden und deshalb den Geist der Landessprachen nicht tief erfassender
Prediger eine Art kirchlicher Sprache ausgebildet, die an Germanismen reich
sein soll; dessenungeachtet ist dies kaum in Anschlag zu bringen und heute
noch versteht der Finne seinen vielleicht seit zwei Jahrtausenden von ihm ge¬
schiedenen Stammbruder, den Esthen.

Sieht man also in dem Bisherigen einen Stillstand in der Cultur, der
ein unerquickliches Gefühl bei jedem, der diese Länder besucht, zurücklassen
muß, so sind die Fortschritte, welche besonders in diesem Jahrhunderte von
den Predigern begonnen und nur theilwei>e vom Adel begünstigt, auf dem
Felde der geistlichen Bildung gemacht worden sind, desto erfreulicher, wenigstens
merklicher. -- Die Eroberer fanden bei Letten und Esthen Naturreligionen vor,
deren Grundzüge ebenso verschieden, wie die Völker selbst, sich durch Mythen
und Sagen in Esthland weit schärfer ausgeprägt erhalten haben. Es herrschte
hier ein Polytheismus mit streng monarchischer Verfassung; das höchste Wesen
Tara, wurde nicht blos als Schöpfer, sondern auch als Regent der Welt in
heiligen Hainen fast ausschließlich verehrt. Die kosmologischen Mythen der
Esthen, die sich bei den Finnen wiederfinden, haben fast alle einen großen
Reiz durch poetische Anmuth und naive Klugheit und zeugen von großer
Regsamkeit der Phantasie. An der Nordküste begannen Dänen, von Riga
aus Deutsche das blutige Werk der Bekehrung. Jeder Kreuzzug war zugleich
ein Raubzug, und über die damalige Noth des Volkes spreche sich ein esthni¬
sches Volkslied selbst aus:


War des Würgens Zeit die Vorzeit,
Eine lange Zeit des Leidens.
Oeden mußten uns ernähren, ,
Haidekraut uns halten aufrecht,
Uns die Spreu im Speicher helfen.
Zehnten klaubten Feindes Klauen.
Den Gerichtstheil nahm die Truhe.

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Und wie verschieden sind die Klänge dieser Idiome! das Lettische steht hinsicht¬
lich der Härte seiner ConsonantenhÄufung in der Mitte zwischen seinen indoger¬
manischen Verwandten, dem Deutschen und Russischen; das Esthnische, vocal-
reich und consonantenarm, klingt weich und melodisch, wenn es auch nicht,
wie die Esthländer glauben, mit dem Italienischen verglichen werden kann.
Der Esthe lernt deshalb das Deutsche nie vollständig rein sprechen, vom Russi¬
schen kaum so viel, als zur Verständigung hinreicht. Natürlich sind nach und
nach eine Menge deutscher Worte, die Namen von vielen Dingen und Be¬
griffen, die mit der deutschen Cultur einwanderten, auch in die Sprache der
Eingeborenen übergegangen; auch hat sich durch die von Deutschen ausgearbeitete
Uebersetzung der Bibel und durch die früher größtentheils aus Deutschland
einwandernden und deshalb den Geist der Landessprachen nicht tief erfassender
Prediger eine Art kirchlicher Sprache ausgebildet, die an Germanismen reich
sein soll; dessenungeachtet ist dies kaum in Anschlag zu bringen und heute
noch versteht der Finne seinen vielleicht seit zwei Jahrtausenden von ihm ge¬
schiedenen Stammbruder, den Esthen.

Sieht man also in dem Bisherigen einen Stillstand in der Cultur, der
ein unerquickliches Gefühl bei jedem, der diese Länder besucht, zurücklassen
muß, so sind die Fortschritte, welche besonders in diesem Jahrhunderte von
den Predigern begonnen und nur theilwei>e vom Adel begünstigt, auf dem
Felde der geistlichen Bildung gemacht worden sind, desto erfreulicher, wenigstens
merklicher. — Die Eroberer fanden bei Letten und Esthen Naturreligionen vor,
deren Grundzüge ebenso verschieden, wie die Völker selbst, sich durch Mythen
und Sagen in Esthland weit schärfer ausgeprägt erhalten haben. Es herrschte
hier ein Polytheismus mit streng monarchischer Verfassung; das höchste Wesen
Tara, wurde nicht blos als Schöpfer, sondern auch als Regent der Welt in
heiligen Hainen fast ausschließlich verehrt. Die kosmologischen Mythen der
Esthen, die sich bei den Finnen wiederfinden, haben fast alle einen großen
Reiz durch poetische Anmuth und naive Klugheit und zeugen von großer
Regsamkeit der Phantasie. An der Nordküste begannen Dänen, von Riga
aus Deutsche das blutige Werk der Bekehrung. Jeder Kreuzzug war zugleich
ein Raubzug, und über die damalige Noth des Volkes spreche sich ein esthni¬
sches Volkslied selbst aus:


War des Würgens Zeit die Vorzeit,
Eine lange Zeit des Leidens.
Oeden mußten uns ernähren, ,
Haidekraut uns halten aufrecht,
Uns die Spreu im Speicher helfen.
Zehnten klaubten Feindes Klauen.
Den Gerichtstheil nahm die Truhe.

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[0475] Und wie verschieden sind die Klänge dieser Idiome! das Lettische steht hinsicht¬ lich der Härte seiner ConsonantenhÄufung in der Mitte zwischen seinen indoger¬ manischen Verwandten, dem Deutschen und Russischen; das Esthnische, vocal- reich und consonantenarm, klingt weich und melodisch, wenn es auch nicht, wie die Esthländer glauben, mit dem Italienischen verglichen werden kann. Der Esthe lernt deshalb das Deutsche nie vollständig rein sprechen, vom Russi¬ schen kaum so viel, als zur Verständigung hinreicht. Natürlich sind nach und nach eine Menge deutscher Worte, die Namen von vielen Dingen und Be¬ griffen, die mit der deutschen Cultur einwanderten, auch in die Sprache der Eingeborenen übergegangen; auch hat sich durch die von Deutschen ausgearbeitete Uebersetzung der Bibel und durch die früher größtentheils aus Deutschland einwandernden und deshalb den Geist der Landessprachen nicht tief erfassender Prediger eine Art kirchlicher Sprache ausgebildet, die an Germanismen reich sein soll; dessenungeachtet ist dies kaum in Anschlag zu bringen und heute noch versteht der Finne seinen vielleicht seit zwei Jahrtausenden von ihm ge¬ schiedenen Stammbruder, den Esthen. Sieht man also in dem Bisherigen einen Stillstand in der Cultur, der ein unerquickliches Gefühl bei jedem, der diese Länder besucht, zurücklassen muß, so sind die Fortschritte, welche besonders in diesem Jahrhunderte von den Predigern begonnen und nur theilwei>e vom Adel begünstigt, auf dem Felde der geistlichen Bildung gemacht worden sind, desto erfreulicher, wenigstens merklicher. — Die Eroberer fanden bei Letten und Esthen Naturreligionen vor, deren Grundzüge ebenso verschieden, wie die Völker selbst, sich durch Mythen und Sagen in Esthland weit schärfer ausgeprägt erhalten haben. Es herrschte hier ein Polytheismus mit streng monarchischer Verfassung; das höchste Wesen Tara, wurde nicht blos als Schöpfer, sondern auch als Regent der Welt in heiligen Hainen fast ausschließlich verehrt. Die kosmologischen Mythen der Esthen, die sich bei den Finnen wiederfinden, haben fast alle einen großen Reiz durch poetische Anmuth und naive Klugheit und zeugen von großer Regsamkeit der Phantasie. An der Nordküste begannen Dänen, von Riga aus Deutsche das blutige Werk der Bekehrung. Jeder Kreuzzug war zugleich ein Raubzug, und über die damalige Noth des Volkes spreche sich ein esthni¬ sches Volkslied selbst aus: War des Würgens Zeit die Vorzeit, Eine lange Zeit des Leidens. Oeden mußten uns ernähren, , Haidekraut uns halten aufrecht, Uns die Spreu im Speicher helfen. Zehnten klaubten Feindes Klauen. Den Gerichtstheil nahm die Truhe. 59*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/475>, abgerufen am 25.08.2024.