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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Habe, welche sich erhalten hat. Das älteste Volkslied, welches wir seiner
Jahrzahl nach bestimmen können, ist ein Spielmannslied auf König Ludwig
(881), hundert Jahre vor der Zeit, in welcher HroSwith in lateinischen Versen
ihr Loblied auf das Kaisergeschlecht der Ottone niederschrieb. Noch älter sind
die Ueberreste weniger volksthümlicher Kirchenlieder, und vielleicht Zauber¬
sprüche und Beschwörungsformeln.

Wie mannigfaltig also auch die Lieder sein mögen, welche aus der ersten
Hälfte des Mittelalters unter vielen Metamorphosen und Veränderungen sich
bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst erhalten haben, wir vermögen nur
aus wenigen nachzuweisen, wann sie entstanden sind, und in welcher Art das
Volk damals dichtete und sang. Die Periode, in welcher das Volkslied
seine bescheidene Blüte, große Ausdehnung und Wichtigkeit gewann,
sind die Jahrhunderte vom Isten herab bis in die Mitte des 17., etwa
von Huß bis nach dem dreißigjährigen Kriege. Diese drei Jahrhunderte
sind für den Geschichtschreiber die Zeit einer großen Tragödie, in welcher die
Masse des Volks von neuem Idealismus ergriffen, in unruhiger, oft stür¬
mischer Bewegung den neuen Inhalt seines geistigen Lebens in That um¬
zusetzen sucht und an diesen Versuchen sich aufreibt bis zur völligen Er¬
schöpfung. Eifrige Parteinahme des Einzelnen an den großen Weltbegeben-
heiten, häufiger Wechsel der bewegenden Eindrücke bilden eine größere Reiz¬
barkeit der Individuen aus; dieselbe Zeit bereichert auch daS gemüthliche
Leben der Einzelnen und erhöht seinen Werth. Die Protestationen des deut¬
schen Gewissens gegen den Mechanismus der geistlichen und weltlichen
Tyrannei geben den einzelnen Seelen einen tiefern Inhalt und bringen eine
Entzweiung hinein, der Gegensatz zwischen dem individuellen Leben und seinen
Umgebungen wird mit Schmerz oder Selbstgefühl empfunden, das Volk tritt
aus seiner epischen Zeit in die lyrische. Nicht mehr sind die alten Spielleute
vorzugsweise Träger der Volköpveste, überall im Lande jauchzt, klagt, spottet
und freut sich das Kind des Volkes, in kurzen Versen und in den musikalischen
Rhythmen, welche aus seiner eignen Seele aufsteigen, oder welche der Zufall
in sein Ohr getragen hat. Seit lange hatte das Mädchen im Dorfe, dem der
Geliebte von dem strengen Edelmann in den Thun geworfen ist, der Bauer
aus seinem Pferde, der bewaffnete Reisige auf dem Beutezüge, der Hirte am
Lagerfeuer, der Handwerker in den Gassen seiner Stadt, die Liebenden unter der
Dorflinde ihre eignen Lieder gesungen. Jetzt werden die gemüthlichen Zustände
lebhafter empfunden und genossen. Die Gegner werden eifriger gehöhnt. Die
neue Druckerkunst bemächtigt sich auch dieser Stoffe und sendet auf fliegenden
Blättern Zeit- und Tendenzgedichte in die weite Welt. Natürlich vorzugs¬
weise solche, welche bei bestimmten Gelegenheiten von allgemeinem Interesse
gedichtet werden. Bis nach dem dreißigjährigen Kriege haben die fliegenden


Habe, welche sich erhalten hat. Das älteste Volkslied, welches wir seiner
Jahrzahl nach bestimmen können, ist ein Spielmannslied auf König Ludwig
(881), hundert Jahre vor der Zeit, in welcher HroSwith in lateinischen Versen
ihr Loblied auf das Kaisergeschlecht der Ottone niederschrieb. Noch älter sind
die Ueberreste weniger volksthümlicher Kirchenlieder, und vielleicht Zauber¬
sprüche und Beschwörungsformeln.

Wie mannigfaltig also auch die Lieder sein mögen, welche aus der ersten
Hälfte des Mittelalters unter vielen Metamorphosen und Veränderungen sich
bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst erhalten haben, wir vermögen nur
aus wenigen nachzuweisen, wann sie entstanden sind, und in welcher Art das
Volk damals dichtete und sang. Die Periode, in welcher das Volkslied
seine bescheidene Blüte, große Ausdehnung und Wichtigkeit gewann,
sind die Jahrhunderte vom Isten herab bis in die Mitte des 17., etwa
von Huß bis nach dem dreißigjährigen Kriege. Diese drei Jahrhunderte
sind für den Geschichtschreiber die Zeit einer großen Tragödie, in welcher die
Masse des Volks von neuem Idealismus ergriffen, in unruhiger, oft stür¬
mischer Bewegung den neuen Inhalt seines geistigen Lebens in That um¬
zusetzen sucht und an diesen Versuchen sich aufreibt bis zur völligen Er¬
schöpfung. Eifrige Parteinahme des Einzelnen an den großen Weltbegeben-
heiten, häufiger Wechsel der bewegenden Eindrücke bilden eine größere Reiz¬
barkeit der Individuen aus; dieselbe Zeit bereichert auch daS gemüthliche
Leben der Einzelnen und erhöht seinen Werth. Die Protestationen des deut¬
schen Gewissens gegen den Mechanismus der geistlichen und weltlichen
Tyrannei geben den einzelnen Seelen einen tiefern Inhalt und bringen eine
Entzweiung hinein, der Gegensatz zwischen dem individuellen Leben und seinen
Umgebungen wird mit Schmerz oder Selbstgefühl empfunden, das Volk tritt
aus seiner epischen Zeit in die lyrische. Nicht mehr sind die alten Spielleute
vorzugsweise Träger der Volköpveste, überall im Lande jauchzt, klagt, spottet
und freut sich das Kind des Volkes, in kurzen Versen und in den musikalischen
Rhythmen, welche aus seiner eignen Seele aufsteigen, oder welche der Zufall
in sein Ohr getragen hat. Seit lange hatte das Mädchen im Dorfe, dem der
Geliebte von dem strengen Edelmann in den Thun geworfen ist, der Bauer
aus seinem Pferde, der bewaffnete Reisige auf dem Beutezüge, der Hirte am
Lagerfeuer, der Handwerker in den Gassen seiner Stadt, die Liebenden unter der
Dorflinde ihre eignen Lieder gesungen. Jetzt werden die gemüthlichen Zustände
lebhafter empfunden und genossen. Die Gegner werden eifriger gehöhnt. Die
neue Druckerkunst bemächtigt sich auch dieser Stoffe und sendet auf fliegenden
Blättern Zeit- und Tendenzgedichte in die weite Welt. Natürlich vorzugs¬
weise solche, welche bei bestimmten Gelegenheiten von allgemeinem Interesse
gedichtet werden. Bis nach dem dreißigjährigen Kriege haben die fliegenden


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[0452] Habe, welche sich erhalten hat. Das älteste Volkslied, welches wir seiner Jahrzahl nach bestimmen können, ist ein Spielmannslied auf König Ludwig (881), hundert Jahre vor der Zeit, in welcher HroSwith in lateinischen Versen ihr Loblied auf das Kaisergeschlecht der Ottone niederschrieb. Noch älter sind die Ueberreste weniger volksthümlicher Kirchenlieder, und vielleicht Zauber¬ sprüche und Beschwörungsformeln. Wie mannigfaltig also auch die Lieder sein mögen, welche aus der ersten Hälfte des Mittelalters unter vielen Metamorphosen und Veränderungen sich bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst erhalten haben, wir vermögen nur aus wenigen nachzuweisen, wann sie entstanden sind, und in welcher Art das Volk damals dichtete und sang. Die Periode, in welcher das Volkslied seine bescheidene Blüte, große Ausdehnung und Wichtigkeit gewann, sind die Jahrhunderte vom Isten herab bis in die Mitte des 17., etwa von Huß bis nach dem dreißigjährigen Kriege. Diese drei Jahrhunderte sind für den Geschichtschreiber die Zeit einer großen Tragödie, in welcher die Masse des Volks von neuem Idealismus ergriffen, in unruhiger, oft stür¬ mischer Bewegung den neuen Inhalt seines geistigen Lebens in That um¬ zusetzen sucht und an diesen Versuchen sich aufreibt bis zur völligen Er¬ schöpfung. Eifrige Parteinahme des Einzelnen an den großen Weltbegeben- heiten, häufiger Wechsel der bewegenden Eindrücke bilden eine größere Reiz¬ barkeit der Individuen aus; dieselbe Zeit bereichert auch daS gemüthliche Leben der Einzelnen und erhöht seinen Werth. Die Protestationen des deut¬ schen Gewissens gegen den Mechanismus der geistlichen und weltlichen Tyrannei geben den einzelnen Seelen einen tiefern Inhalt und bringen eine Entzweiung hinein, der Gegensatz zwischen dem individuellen Leben und seinen Umgebungen wird mit Schmerz oder Selbstgefühl empfunden, das Volk tritt aus seiner epischen Zeit in die lyrische. Nicht mehr sind die alten Spielleute vorzugsweise Träger der Volköpveste, überall im Lande jauchzt, klagt, spottet und freut sich das Kind des Volkes, in kurzen Versen und in den musikalischen Rhythmen, welche aus seiner eignen Seele aufsteigen, oder welche der Zufall in sein Ohr getragen hat. Seit lange hatte das Mädchen im Dorfe, dem der Geliebte von dem strengen Edelmann in den Thun geworfen ist, der Bauer aus seinem Pferde, der bewaffnete Reisige auf dem Beutezüge, der Hirte am Lagerfeuer, der Handwerker in den Gassen seiner Stadt, die Liebenden unter der Dorflinde ihre eignen Lieder gesungen. Jetzt werden die gemüthlichen Zustände lebhafter empfunden und genossen. Die Gegner werden eifriger gehöhnt. Die neue Druckerkunst bemächtigt sich auch dieser Stoffe und sendet auf fliegenden Blättern Zeit- und Tendenzgedichte in die weite Welt. Natürlich vorzugs¬ weise solche, welche bei bestimmten Gelegenheiten von allgemeinem Interesse gedichtet werden. Bis nach dem dreißigjährigen Kriege haben die fliegenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/452>, abgerufen am 23.07.2024.