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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Werke die Wandlungen und die Charakteristik deS lyrischen Volksgesangs der
Deutschen dargestellt zu besitzen.

Freilich gibt es keine einzige Aufgabe im weiten Gebiet der deutschen Literatur,
welche so schwer zu lösen ist, als die einer Geschichte der Volkslyrik. Wer an sie
herangeht, sollte sowol ein deutscher Philolog, als ein gebildeter Musiker sein, >
und auch dann wird er mit schwer zu überwindenden Schwierigkeiten zu kämpfen
haben. Sehr unvollkommen ist unsere Kenntniß der Volksmelodien alter Zeit.
Zahllose sind in den Lüften verhallt, bei den vielen, welche sich in Kirchenliedern
und im Munde des Volks oft mit veränderten Texten erhalten haben, ist die
Zeit ihrer Entstehung selten mit Sicherheit zu ermitteln. Es ist sast unmöglich,
die Veränderungen, welche Geschmack und Bildung in dem Lauf der Jahrhunderte
in die Melodien hereingeführt haben, nachzuweisen, ja oft ist dies nicht ein¬
mal bei den Texten möglich. Es gehört kein gewöhnlicher Grad von feiner
Kunst dazu, das Schöne und Rührende, welches die Naturlaute der deutschen
Volksseele auf den Hörer ausüben, auch in der Notenschrift vollständig aus¬
zudrücken. Ja es ist schon nicht ganz leicht, im einzelnen Falle zu entscheiden,
ob ein Lied als Volkslied zu betrachten sei oder nicht.

Zwar bei den Liedern, welche gegenwärtig noch im Munde des Volks
leben, ist dies wol möglich. Bei einiger Uebung wird man die Eigenthümlich¬
keiten der Sprache, der poetischen Darstellungsweise und der Melodien bald
herausfinden, ebenso den Gegensatz, welcher zwischen dem altnationalen Lieder¬
schatz ist, der sich in dem Volke selbst erhalten hat, und zwischen den im Volks¬
ton gedichteten und componirter Poesien der neuern gebildeten Dichter; wie
sehr sich auch beide Classen im Munde des Volks verbunden haben. Es
wird keine Schwierigkeit machen, an Holteis Mantelliede das Fremdartige der
Melodie und das Gebildete des sentimentalen Textes zu erkennen. Wol aber
wird die Kritik sehr viel schwieriger, wenn man die Masse der verklungenen
Volkslieder, welche uns handschriftlich in fliegenden Blättern oder in alten
Drucken aufbewahrt sind, durchmustert; denn darin finden sich Lieder, welche
in Ton und Charakter sehr von den noch lebenden abweichen. Es finden sich
Lieder im echten Volkston von Verfassern, welche zu ihrer Zeit in Bildung und
Anschauungsweise wesentlich vom Volke verschieden waren. Es gibt sogar
ganze Zeiträume der deutschen Poesie, wo auch die sogenannte Kunstdichtung
einen so volkstümlichen Charakter hat, daß ein großer Theil ihrer Lieder in
den Kreis der Volkslieder gezogen werben kann. Dem Takt und richtigen Ge¬
fühl des Sammlers wird oft die Entscheidung überlassen werven müssen. Jeden¬
falls wird er in der Lage sein, sich selbst und seinen Lesern deutlich zu machen,
was deutsches Volkslied sei. Dies kurz anzudeuten, soll im Folgenden
versucht werden.

Es ist allgemein bekannt, daß seit dem Anfange des Mittelalters das


Werke die Wandlungen und die Charakteristik deS lyrischen Volksgesangs der
Deutschen dargestellt zu besitzen.

Freilich gibt es keine einzige Aufgabe im weiten Gebiet der deutschen Literatur,
welche so schwer zu lösen ist, als die einer Geschichte der Volkslyrik. Wer an sie
herangeht, sollte sowol ein deutscher Philolog, als ein gebildeter Musiker sein, >
und auch dann wird er mit schwer zu überwindenden Schwierigkeiten zu kämpfen
haben. Sehr unvollkommen ist unsere Kenntniß der Volksmelodien alter Zeit.
Zahllose sind in den Lüften verhallt, bei den vielen, welche sich in Kirchenliedern
und im Munde des Volks oft mit veränderten Texten erhalten haben, ist die
Zeit ihrer Entstehung selten mit Sicherheit zu ermitteln. Es ist sast unmöglich,
die Veränderungen, welche Geschmack und Bildung in dem Lauf der Jahrhunderte
in die Melodien hereingeführt haben, nachzuweisen, ja oft ist dies nicht ein¬
mal bei den Texten möglich. Es gehört kein gewöhnlicher Grad von feiner
Kunst dazu, das Schöne und Rührende, welches die Naturlaute der deutschen
Volksseele auf den Hörer ausüben, auch in der Notenschrift vollständig aus¬
zudrücken. Ja es ist schon nicht ganz leicht, im einzelnen Falle zu entscheiden,
ob ein Lied als Volkslied zu betrachten sei oder nicht.

Zwar bei den Liedern, welche gegenwärtig noch im Munde des Volks
leben, ist dies wol möglich. Bei einiger Uebung wird man die Eigenthümlich¬
keiten der Sprache, der poetischen Darstellungsweise und der Melodien bald
herausfinden, ebenso den Gegensatz, welcher zwischen dem altnationalen Lieder¬
schatz ist, der sich in dem Volke selbst erhalten hat, und zwischen den im Volks¬
ton gedichteten und componirter Poesien der neuern gebildeten Dichter; wie
sehr sich auch beide Classen im Munde des Volks verbunden haben. Es
wird keine Schwierigkeit machen, an Holteis Mantelliede das Fremdartige der
Melodie und das Gebildete des sentimentalen Textes zu erkennen. Wol aber
wird die Kritik sehr viel schwieriger, wenn man die Masse der verklungenen
Volkslieder, welche uns handschriftlich in fliegenden Blättern oder in alten
Drucken aufbewahrt sind, durchmustert; denn darin finden sich Lieder, welche
in Ton und Charakter sehr von den noch lebenden abweichen. Es finden sich
Lieder im echten Volkston von Verfassern, welche zu ihrer Zeit in Bildung und
Anschauungsweise wesentlich vom Volke verschieden waren. Es gibt sogar
ganze Zeiträume der deutschen Poesie, wo auch die sogenannte Kunstdichtung
einen so volkstümlichen Charakter hat, daß ein großer Theil ihrer Lieder in
den Kreis der Volkslieder gezogen werben kann. Dem Takt und richtigen Ge¬
fühl des Sammlers wird oft die Entscheidung überlassen werven müssen. Jeden¬
falls wird er in der Lage sein, sich selbst und seinen Lesern deutlich zu machen,
was deutsches Volkslied sei. Dies kurz anzudeuten, soll im Folgenden
versucht werden.

Es ist allgemein bekannt, daß seit dem Anfange des Mittelalters das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/450>, abgerufen am 22.07.2024.