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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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was nicht streng umrissen werden kann, was keine eigne Farbe und keinen
entschiedenen Charakter hat. Er besitzt im höchsten Grad die kritische Unpar¬
teilichkeit, die Gabe, eine billige Wage zu halten zwischen allen Vorstellungen,
überlieferten oder erworbenen, deren Mannigfaltigkeit das wirkliche Bild, die
wahre Theorie unserer Nationalgeschichte ausmacht." Wir von unserer Seite
machen auf zwei Vorzüge aufmerksam. Einmal führt uns Guizot überall in
die Quellen ein, aber nicht so, daß er sie einfach ausschreibt, sondern er ver¬
setzt uns in die Seele des gleichzeitigen Schriftstellers, er zeigt, wie ihm von
seinem individuellen Standpunkt aus diese entsetzliche Erscheinung vorkommen
mußte, und wie wir, um das Ganze richtig zu übersehen, uns den individuellen
Fall weiter ausmalen und aus der Masse der einzelnen aufregenden Berichte
ein allgemeines Bild entwerfen müssen. Dieses Bild führt er sodann mit
Meisterhand aus. Die Collectivbegriffe der Barbaren und Romanen werden
in die einzelne Erscheinung aufgelöst, und wir sehen die Ereignisse vor unsern
Augen vorgehen. Wenn man Guizot als den Stifter der philosophischen
Schule der sogenannten descriptiven Schule gegenüberstellt, so muß man nur
hinzusetzen, daß Guizot auch in Bezug auf die Beschreibung unsern Geschicht¬
schreibern bei weitem vorangeht, und wir meinen damit unsere größten Schrift¬
steller, wie Niebuhr und Savigny. Freilich ist seine Beschreibung nicht syn¬
thetisch, sondern analytisch, aber das ist für ein dunkles Zeitalter die allein
richtige Methode. Die romanische Gesellschaft in Gallien wurde zerstört,
wahrhaft zerstört, nicht wie ein Thal durch einen Waldstrom verwüstet wird,
sondern wie der festeste Körper durch das beständige Eindrängen einer fremden
Substanz sich deöorganisirt. Zwischen alle Glieder des Staats, zwischen den
Moment in dem Leben jedes Einzelnen drängten sich ohne Aufhören die Bar¬
baren. Wie das ganze Reich sich in seine einzelnen Momente auflöste, so
jede Provinz. Die Städte, die Districte gingen aus den Fugen und kehrten
zu ihrer isolirten localen Existenz zurück. Alle Bande, durch welche Rom das
Reich zusammengehalten, wurden zerrissen. Die siegreichen Barbaren suchten
das System der römischen Verwaltung in die Hand zu nehmen, wo möglich
dieselben Beamten beizubehalten, aber es gelang ihnen nur höchst unvollkommen.
Das ganze Land wird von den Deutschen auf eine andere sociale Stufe ge¬
bracht^ es verfällt der entsetzlichsten Verwilderung, nur in den Städten dauert
das römische Leben fort, und auch diese verwandeln sich in Festungen und
kommen dadurch in eine andere Ordnung.

Nicht minder desorganisirend äußerte sich die Völkerwanderung auf die
bisherigen sittlichen Zustände der Germanen. sowol die seßhafte Stamm¬
genossenschaft als daS kriegerische Gefolge traten in neue.Verhältnisse und
gewannen dadurch einen andern Charakter. Die bisherige militärische Dis¬
ciplin löste sich auf, aus den wandernden Kriegern wurden Landeigenthümer


was nicht streng umrissen werden kann, was keine eigne Farbe und keinen
entschiedenen Charakter hat. Er besitzt im höchsten Grad die kritische Unpar¬
teilichkeit, die Gabe, eine billige Wage zu halten zwischen allen Vorstellungen,
überlieferten oder erworbenen, deren Mannigfaltigkeit das wirkliche Bild, die
wahre Theorie unserer Nationalgeschichte ausmacht." Wir von unserer Seite
machen auf zwei Vorzüge aufmerksam. Einmal führt uns Guizot überall in
die Quellen ein, aber nicht so, daß er sie einfach ausschreibt, sondern er ver¬
setzt uns in die Seele des gleichzeitigen Schriftstellers, er zeigt, wie ihm von
seinem individuellen Standpunkt aus diese entsetzliche Erscheinung vorkommen
mußte, und wie wir, um das Ganze richtig zu übersehen, uns den individuellen
Fall weiter ausmalen und aus der Masse der einzelnen aufregenden Berichte
ein allgemeines Bild entwerfen müssen. Dieses Bild führt er sodann mit
Meisterhand aus. Die Collectivbegriffe der Barbaren und Romanen werden
in die einzelne Erscheinung aufgelöst, und wir sehen die Ereignisse vor unsern
Augen vorgehen. Wenn man Guizot als den Stifter der philosophischen
Schule der sogenannten descriptiven Schule gegenüberstellt, so muß man nur
hinzusetzen, daß Guizot auch in Bezug auf die Beschreibung unsern Geschicht¬
schreibern bei weitem vorangeht, und wir meinen damit unsere größten Schrift¬
steller, wie Niebuhr und Savigny. Freilich ist seine Beschreibung nicht syn¬
thetisch, sondern analytisch, aber das ist für ein dunkles Zeitalter die allein
richtige Methode. Die romanische Gesellschaft in Gallien wurde zerstört,
wahrhaft zerstört, nicht wie ein Thal durch einen Waldstrom verwüstet wird,
sondern wie der festeste Körper durch das beständige Eindrängen einer fremden
Substanz sich deöorganisirt. Zwischen alle Glieder des Staats, zwischen den
Moment in dem Leben jedes Einzelnen drängten sich ohne Aufhören die Bar¬
baren. Wie das ganze Reich sich in seine einzelnen Momente auflöste, so
jede Provinz. Die Städte, die Districte gingen aus den Fugen und kehrten
zu ihrer isolirten localen Existenz zurück. Alle Bande, durch welche Rom das
Reich zusammengehalten, wurden zerrissen. Die siegreichen Barbaren suchten
das System der römischen Verwaltung in die Hand zu nehmen, wo möglich
dieselben Beamten beizubehalten, aber es gelang ihnen nur höchst unvollkommen.
Das ganze Land wird von den Deutschen auf eine andere sociale Stufe ge¬
bracht^ es verfällt der entsetzlichsten Verwilderung, nur in den Städten dauert
das römische Leben fort, und auch diese verwandeln sich in Festungen und
kommen dadurch in eine andere Ordnung.

Nicht minder desorganisirend äußerte sich die Völkerwanderung auf die
bisherigen sittlichen Zustände der Germanen. sowol die seßhafte Stamm¬
genossenschaft als daS kriegerische Gefolge traten in neue.Verhältnisse und
gewannen dadurch einen andern Charakter. Die bisherige militärische Dis¬
ciplin löste sich auf, aus den wandernden Kriegern wurden Landeigenthümer


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[0375] was nicht streng umrissen werden kann, was keine eigne Farbe und keinen entschiedenen Charakter hat. Er besitzt im höchsten Grad die kritische Unpar¬ teilichkeit, die Gabe, eine billige Wage zu halten zwischen allen Vorstellungen, überlieferten oder erworbenen, deren Mannigfaltigkeit das wirkliche Bild, die wahre Theorie unserer Nationalgeschichte ausmacht." Wir von unserer Seite machen auf zwei Vorzüge aufmerksam. Einmal führt uns Guizot überall in die Quellen ein, aber nicht so, daß er sie einfach ausschreibt, sondern er ver¬ setzt uns in die Seele des gleichzeitigen Schriftstellers, er zeigt, wie ihm von seinem individuellen Standpunkt aus diese entsetzliche Erscheinung vorkommen mußte, und wie wir, um das Ganze richtig zu übersehen, uns den individuellen Fall weiter ausmalen und aus der Masse der einzelnen aufregenden Berichte ein allgemeines Bild entwerfen müssen. Dieses Bild führt er sodann mit Meisterhand aus. Die Collectivbegriffe der Barbaren und Romanen werden in die einzelne Erscheinung aufgelöst, und wir sehen die Ereignisse vor unsern Augen vorgehen. Wenn man Guizot als den Stifter der philosophischen Schule der sogenannten descriptiven Schule gegenüberstellt, so muß man nur hinzusetzen, daß Guizot auch in Bezug auf die Beschreibung unsern Geschicht¬ schreibern bei weitem vorangeht, und wir meinen damit unsere größten Schrift¬ steller, wie Niebuhr und Savigny. Freilich ist seine Beschreibung nicht syn¬ thetisch, sondern analytisch, aber das ist für ein dunkles Zeitalter die allein richtige Methode. Die romanische Gesellschaft in Gallien wurde zerstört, wahrhaft zerstört, nicht wie ein Thal durch einen Waldstrom verwüstet wird, sondern wie der festeste Körper durch das beständige Eindrängen einer fremden Substanz sich deöorganisirt. Zwischen alle Glieder des Staats, zwischen den Moment in dem Leben jedes Einzelnen drängten sich ohne Aufhören die Bar¬ baren. Wie das ganze Reich sich in seine einzelnen Momente auflöste, so jede Provinz. Die Städte, die Districte gingen aus den Fugen und kehrten zu ihrer isolirten localen Existenz zurück. Alle Bande, durch welche Rom das Reich zusammengehalten, wurden zerrissen. Die siegreichen Barbaren suchten das System der römischen Verwaltung in die Hand zu nehmen, wo möglich dieselben Beamten beizubehalten, aber es gelang ihnen nur höchst unvollkommen. Das ganze Land wird von den Deutschen auf eine andere sociale Stufe ge¬ bracht^ es verfällt der entsetzlichsten Verwilderung, nur in den Städten dauert das römische Leben fort, und auch diese verwandeln sich in Festungen und kommen dadurch in eine andere Ordnung. Nicht minder desorganisirend äußerte sich die Völkerwanderung auf die bisherigen sittlichen Zustände der Germanen. sowol die seßhafte Stamm¬ genossenschaft als daS kriegerische Gefolge traten in neue.Verhältnisse und gewannen dadurch einen andern Charakter. Die bisherige militärische Dis¬ ciplin löste sich auf, aus den wandernden Kriegern wurden Landeigenthümer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/375>, abgerufen am 23.07.2024.