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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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wissermaßen so aus sich selber herausstellen, daß sie auf eignen Füßen stehen,
daß er sie nicht wie ein Marionettenspieler fortwährend mit den Händen zu
regieren hat. Gegen diese Forderung besteht gegenwärtig kein Widerspruch
mehr; in der Praxis wird häusig dagegen gesündigt, in der Theorie ist aber
alle Welt darüber einig: daß eine der innern Wahrheit widersprechende Idea¬
lität in der Kunst verwerflich sei. Bei dem neuen Princip handelt es sich
nicht mehr um die innere, sondern um die äußere Wahrheit, nicht um die
Uebereinstimmung mit sich selbst, sondern um die Uebereinstimmung mit der
sogenannten Wirklichkeit.

Um den Unterschied deutlich zu machen, fassen wir ein bestimmtes Bei¬
spiel inS Auge. Alle Welt ist darüber einig, daß Figuren wie Mar im Wallen¬
stein verzeichnet sind/ aber aus sehr verschiedenen Gründen. Die einen ver¬
setzen sich in die Welt, welche der Dichter schafft, und tadeln ihn, weil sein
Lieblingsheld innerhalb dieser poetischen Sphäre keine Berechtigung hat, weil
er innerhalb derselben nicht zu denken ist; die andern dagegen, nehmen den
Khevenhüller oder das Ilisstrum suropaeum zur Hand und vermissen das
Costüm, die Localfarbe und den Jargon dieser historischen Documente. Sie
würden sehr gern einige innere Widersprüche mit hinnehmen, wenn nur ihrer
historischen Kuriosität durch eine sogenannte concrete Darstellung Genüge ge¬
schehen wäre. Während also das alte Kunstprincip davon ausging, nur das¬
jenige darzustellen, was zur Sache gehörte, wird gegenwärtig gefordert, daß
der Dichter die Figuren in ihrer vollen Totalität zur Erscheinung bringe, mit
andern Worten, daß er die Methode der Genremalerei auf das historische Ge¬
mälde übertrage.

Es ist begreiflich, daß diese Anforderung sich auf keinem Gebiet so laut
und leidenschaftlich äußert, als auf dem Gebiet des Romans. Auf dem Thea¬
ter wird man bald davon überzeugt, daß ein zu weit getriebener Realismus
daS Publicum verdrießt und langweilt. In andern Dichtungsarten ist schon
durch die poetische Form eine gewisse ideale Erhöhung nothwendig gemacht;
aber die prosaische Form des Romans, der Stoff, den er in der Regel dar¬
stellt, und der Umfang von zwanzig Lieferungen, den man heute kaum mehr
vermeiden kann, scheinen im Roman der Detailmalerei nicht nur freien Spiel¬
raum zu geben, sondern sie nothwendig zu machen.

Hier muß man die Anforderung genauer feststellen. Sie ist gerecht, wenn
sie von dem Dichter, der das Leben der Gegenwart zum Gegenstand nimmt,
verlangt, er solle über dasselbe in seiner ganzen Fülle disponiren können.
Um poetisch wahr darzustellen, um einmal nicht gegen das Gesetz der Wirk¬
lichkeit zu verstoßen, und um den Schein des Lebens, die plastische Körper¬
lichkeit seiner Figuren hervorzubringen, muß er die materiellen Mittel in der
vollsten Ausdehnung in seinem Besitz haben. Wenn er einen charakteristischen


wissermaßen so aus sich selber herausstellen, daß sie auf eignen Füßen stehen,
daß er sie nicht wie ein Marionettenspieler fortwährend mit den Händen zu
regieren hat. Gegen diese Forderung besteht gegenwärtig kein Widerspruch
mehr; in der Praxis wird häusig dagegen gesündigt, in der Theorie ist aber
alle Welt darüber einig: daß eine der innern Wahrheit widersprechende Idea¬
lität in der Kunst verwerflich sei. Bei dem neuen Princip handelt es sich
nicht mehr um die innere, sondern um die äußere Wahrheit, nicht um die
Uebereinstimmung mit sich selbst, sondern um die Uebereinstimmung mit der
sogenannten Wirklichkeit.

Um den Unterschied deutlich zu machen, fassen wir ein bestimmtes Bei¬
spiel inS Auge. Alle Welt ist darüber einig, daß Figuren wie Mar im Wallen¬
stein verzeichnet sind/ aber aus sehr verschiedenen Gründen. Die einen ver¬
setzen sich in die Welt, welche der Dichter schafft, und tadeln ihn, weil sein
Lieblingsheld innerhalb dieser poetischen Sphäre keine Berechtigung hat, weil
er innerhalb derselben nicht zu denken ist; die andern dagegen, nehmen den
Khevenhüller oder das Ilisstrum suropaeum zur Hand und vermissen das
Costüm, die Localfarbe und den Jargon dieser historischen Documente. Sie
würden sehr gern einige innere Widersprüche mit hinnehmen, wenn nur ihrer
historischen Kuriosität durch eine sogenannte concrete Darstellung Genüge ge¬
schehen wäre. Während also das alte Kunstprincip davon ausging, nur das¬
jenige darzustellen, was zur Sache gehörte, wird gegenwärtig gefordert, daß
der Dichter die Figuren in ihrer vollen Totalität zur Erscheinung bringe, mit
andern Worten, daß er die Methode der Genremalerei auf das historische Ge¬
mälde übertrage.

Es ist begreiflich, daß diese Anforderung sich auf keinem Gebiet so laut
und leidenschaftlich äußert, als auf dem Gebiet des Romans. Auf dem Thea¬
ter wird man bald davon überzeugt, daß ein zu weit getriebener Realismus
daS Publicum verdrießt und langweilt. In andern Dichtungsarten ist schon
durch die poetische Form eine gewisse ideale Erhöhung nothwendig gemacht;
aber die prosaische Form des Romans, der Stoff, den er in der Regel dar¬
stellt, und der Umfang von zwanzig Lieferungen, den man heute kaum mehr
vermeiden kann, scheinen im Roman der Detailmalerei nicht nur freien Spiel¬
raum zu geben, sondern sie nothwendig zu machen.

Hier muß man die Anforderung genauer feststellen. Sie ist gerecht, wenn
sie von dem Dichter, der das Leben der Gegenwart zum Gegenstand nimmt,
verlangt, er solle über dasselbe in seiner ganzen Fülle disponiren können.
Um poetisch wahr darzustellen, um einmal nicht gegen das Gesetz der Wirk¬
lichkeit zu verstoßen, und um den Schein des Lebens, die plastische Körper¬
lichkeit seiner Figuren hervorzubringen, muß er die materiellen Mittel in der
vollsten Ausdehnung in seinem Besitz haben. Wenn er einen charakteristischen


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[0476] wissermaßen so aus sich selber herausstellen, daß sie auf eignen Füßen stehen, daß er sie nicht wie ein Marionettenspieler fortwährend mit den Händen zu regieren hat. Gegen diese Forderung besteht gegenwärtig kein Widerspruch mehr; in der Praxis wird häusig dagegen gesündigt, in der Theorie ist aber alle Welt darüber einig: daß eine der innern Wahrheit widersprechende Idea¬ lität in der Kunst verwerflich sei. Bei dem neuen Princip handelt es sich nicht mehr um die innere, sondern um die äußere Wahrheit, nicht um die Uebereinstimmung mit sich selbst, sondern um die Uebereinstimmung mit der sogenannten Wirklichkeit. Um den Unterschied deutlich zu machen, fassen wir ein bestimmtes Bei¬ spiel inS Auge. Alle Welt ist darüber einig, daß Figuren wie Mar im Wallen¬ stein verzeichnet sind/ aber aus sehr verschiedenen Gründen. Die einen ver¬ setzen sich in die Welt, welche der Dichter schafft, und tadeln ihn, weil sein Lieblingsheld innerhalb dieser poetischen Sphäre keine Berechtigung hat, weil er innerhalb derselben nicht zu denken ist; die andern dagegen, nehmen den Khevenhüller oder das Ilisstrum suropaeum zur Hand und vermissen das Costüm, die Localfarbe und den Jargon dieser historischen Documente. Sie würden sehr gern einige innere Widersprüche mit hinnehmen, wenn nur ihrer historischen Kuriosität durch eine sogenannte concrete Darstellung Genüge ge¬ schehen wäre. Während also das alte Kunstprincip davon ausging, nur das¬ jenige darzustellen, was zur Sache gehörte, wird gegenwärtig gefordert, daß der Dichter die Figuren in ihrer vollen Totalität zur Erscheinung bringe, mit andern Worten, daß er die Methode der Genremalerei auf das historische Ge¬ mälde übertrage. Es ist begreiflich, daß diese Anforderung sich auf keinem Gebiet so laut und leidenschaftlich äußert, als auf dem Gebiet des Romans. Auf dem Thea¬ ter wird man bald davon überzeugt, daß ein zu weit getriebener Realismus daS Publicum verdrießt und langweilt. In andern Dichtungsarten ist schon durch die poetische Form eine gewisse ideale Erhöhung nothwendig gemacht; aber die prosaische Form des Romans, der Stoff, den er in der Regel dar¬ stellt, und der Umfang von zwanzig Lieferungen, den man heute kaum mehr vermeiden kann, scheinen im Roman der Detailmalerei nicht nur freien Spiel¬ raum zu geben, sondern sie nothwendig zu machen. Hier muß man die Anforderung genauer feststellen. Sie ist gerecht, wenn sie von dem Dichter, der das Leben der Gegenwart zum Gegenstand nimmt, verlangt, er solle über dasselbe in seiner ganzen Fülle disponiren können. Um poetisch wahr darzustellen, um einmal nicht gegen das Gesetz der Wirk¬ lichkeit zu verstoßen, und um den Schein des Lebens, die plastische Körper¬ lichkeit seiner Figuren hervorzubringen, muß er die materiellen Mittel in der vollsten Ausdehnung in seinem Besitz haben. Wenn er einen charakteristischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/476>, abgerufen am 23.07.2024.