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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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auch dem Volk die Früchte dieser Forschungen zugänglich zu machen. Manche
Punkte sind mit wissenschaftlicher Strenge festgestellt, zu andern ist wenigstens
die fruchtbarste Anregung gegeben. Leider sind die ausgezeichneten Schrift¬
steller, denen wir diese Arbeiten verdanken, durch die bisher übliche philoso¬
phische Terminologie verführt worden, in so manchen ihrer Lehrsätze nicht blos
dunkel für das Publicum, sondern unklar gegen sich selber zu sein. Das gilt
namentlich von dem geistvollsten und gelehrtesten dieser Aesthetiker, von Nischer.
Wir haben bereits bei einer frühern Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht,
daß das Bedeutende in seinem Werk lediglich in den Ercursen zu suchen ist,
während die Lehrsätze, die er an die Spitze seiner Paragraphen gestellt hat,
im besten Fall hinter einem unbequemen Wortschwall einen ziemlich einfachen
Gedanken verstecken, zuweilen aber auch gar nichts sagen. Daß der Verfasser
selbst, der bei seiner hohen Bildung und seinem scharf eindringenden Verstand
an einem fremden Schriftsteller diese Fehler sehr bald rügen würde, diese Kritik
gegen sein eignes Werk ausüben wird, ist jetzt nicht mehr zu erwarten, und
wenn sich also ein fremder Schriftsteller dieser Mühe unterzieht, woraus frei¬
lich ein ganz selbstständiges Werk hervorgehen muß, so wird man es ihm nur
Dank wissen. Wenn aber das Unternehmen realen Gewinn bringen soll, so
muß der Verfasser nicht von einer metaphysischen, sondern von einer technischen
Bildung ausgehen; er muß das empirische Material der Künste in seiner
ganzen Fülle beherrschen, um für die metaphysischen Lehrsätze seines philo¬
sophischen Lehrers überall den richtigen Maßstab und das Regulativ zu finden.
Das ist hier aber nicht der Fall. Joseph Bayer gehl ebenso wie Bischer von
der philosophischen Bildung aus, und zwar von einer Bildung, die an Reife
doch noch immer hinter der seines Vorbildes zurückbleibt. Zwar ist es ihm
gelungen, so manchen Satz einfacher und deutlicher auszudrücken; dafür geht
er aber häufig aus Mangel an technischer Vorbildung noch tiefer in die ab¬
strakte Formel ein, und was das Schlimmste ist, er sucht seiner Darstellung
durch poetisirende Prosa einen größern Reiz zu geben. Man möge aus der
folgenden Stilprobe beurtheilen, ob daraus für den Leser eine wirkliche Einsicht
in die Sache hervorgehn soll. (Seite 2Lo) "Das Wesen der Architektur und
Musik ist also, um es schließlich kurz zusammenzufassen, kein anderes, als das
allgemeine Wesen der Kunst überhaupt, das sich als solches auch noch
einen besondern Kunstausdruck geben will. In der unendlich beredten, gradezu
unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der architektonischen und musikalischen Formen
ist im Grunde nichts Anderes zum Ausdruck, gekommen, als das einfache
"Ich bin" pas Kunstgeistes, daS sich aber dieser in seinem idealen Sinn
schwelgend nicht vielfach genug wiederholen kann, sobald er seiner selbst in
dem Tvtalgefühl eines Volkes oder in dem individuellen Gefühl des Einzelnen
gewahr geworden. Beide Künste sind in ihrem gegenstandslosen Schaffen nur


auch dem Volk die Früchte dieser Forschungen zugänglich zu machen. Manche
Punkte sind mit wissenschaftlicher Strenge festgestellt, zu andern ist wenigstens
die fruchtbarste Anregung gegeben. Leider sind die ausgezeichneten Schrift¬
steller, denen wir diese Arbeiten verdanken, durch die bisher übliche philoso¬
phische Terminologie verführt worden, in so manchen ihrer Lehrsätze nicht blos
dunkel für das Publicum, sondern unklar gegen sich selber zu sein. Das gilt
namentlich von dem geistvollsten und gelehrtesten dieser Aesthetiker, von Nischer.
Wir haben bereits bei einer frühern Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht,
daß das Bedeutende in seinem Werk lediglich in den Ercursen zu suchen ist,
während die Lehrsätze, die er an die Spitze seiner Paragraphen gestellt hat,
im besten Fall hinter einem unbequemen Wortschwall einen ziemlich einfachen
Gedanken verstecken, zuweilen aber auch gar nichts sagen. Daß der Verfasser
selbst, der bei seiner hohen Bildung und seinem scharf eindringenden Verstand
an einem fremden Schriftsteller diese Fehler sehr bald rügen würde, diese Kritik
gegen sein eignes Werk ausüben wird, ist jetzt nicht mehr zu erwarten, und
wenn sich also ein fremder Schriftsteller dieser Mühe unterzieht, woraus frei¬
lich ein ganz selbstständiges Werk hervorgehen muß, so wird man es ihm nur
Dank wissen. Wenn aber das Unternehmen realen Gewinn bringen soll, so
muß der Verfasser nicht von einer metaphysischen, sondern von einer technischen
Bildung ausgehen; er muß das empirische Material der Künste in seiner
ganzen Fülle beherrschen, um für die metaphysischen Lehrsätze seines philo¬
sophischen Lehrers überall den richtigen Maßstab und das Regulativ zu finden.
Das ist hier aber nicht der Fall. Joseph Bayer gehl ebenso wie Bischer von
der philosophischen Bildung aus, und zwar von einer Bildung, die an Reife
doch noch immer hinter der seines Vorbildes zurückbleibt. Zwar ist es ihm
gelungen, so manchen Satz einfacher und deutlicher auszudrücken; dafür geht
er aber häufig aus Mangel an technischer Vorbildung noch tiefer in die ab¬
strakte Formel ein, und was das Schlimmste ist, er sucht seiner Darstellung
durch poetisirende Prosa einen größern Reiz zu geben. Man möge aus der
folgenden Stilprobe beurtheilen, ob daraus für den Leser eine wirkliche Einsicht
in die Sache hervorgehn soll. (Seite 2Lo) „Das Wesen der Architektur und
Musik ist also, um es schließlich kurz zusammenzufassen, kein anderes, als das
allgemeine Wesen der Kunst überhaupt, das sich als solches auch noch
einen besondern Kunstausdruck geben will. In der unendlich beredten, gradezu
unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der architektonischen und musikalischen Formen
ist im Grunde nichts Anderes zum Ausdruck, gekommen, als das einfache
„Ich bin" pas Kunstgeistes, daS sich aber dieser in seinem idealen Sinn
schwelgend nicht vielfach genug wiederholen kann, sobald er seiner selbst in
dem Tvtalgefühl eines Volkes oder in dem individuellen Gefühl des Einzelnen
gewahr geworden. Beide Künste sind in ihrem gegenstandslosen Schaffen nur


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[0391] auch dem Volk die Früchte dieser Forschungen zugänglich zu machen. Manche Punkte sind mit wissenschaftlicher Strenge festgestellt, zu andern ist wenigstens die fruchtbarste Anregung gegeben. Leider sind die ausgezeichneten Schrift¬ steller, denen wir diese Arbeiten verdanken, durch die bisher übliche philoso¬ phische Terminologie verführt worden, in so manchen ihrer Lehrsätze nicht blos dunkel für das Publicum, sondern unklar gegen sich selber zu sein. Das gilt namentlich von dem geistvollsten und gelehrtesten dieser Aesthetiker, von Nischer. Wir haben bereits bei einer frühern Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht, daß das Bedeutende in seinem Werk lediglich in den Ercursen zu suchen ist, während die Lehrsätze, die er an die Spitze seiner Paragraphen gestellt hat, im besten Fall hinter einem unbequemen Wortschwall einen ziemlich einfachen Gedanken verstecken, zuweilen aber auch gar nichts sagen. Daß der Verfasser selbst, der bei seiner hohen Bildung und seinem scharf eindringenden Verstand an einem fremden Schriftsteller diese Fehler sehr bald rügen würde, diese Kritik gegen sein eignes Werk ausüben wird, ist jetzt nicht mehr zu erwarten, und wenn sich also ein fremder Schriftsteller dieser Mühe unterzieht, woraus frei¬ lich ein ganz selbstständiges Werk hervorgehen muß, so wird man es ihm nur Dank wissen. Wenn aber das Unternehmen realen Gewinn bringen soll, so muß der Verfasser nicht von einer metaphysischen, sondern von einer technischen Bildung ausgehen; er muß das empirische Material der Künste in seiner ganzen Fülle beherrschen, um für die metaphysischen Lehrsätze seines philo¬ sophischen Lehrers überall den richtigen Maßstab und das Regulativ zu finden. Das ist hier aber nicht der Fall. Joseph Bayer gehl ebenso wie Bischer von der philosophischen Bildung aus, und zwar von einer Bildung, die an Reife doch noch immer hinter der seines Vorbildes zurückbleibt. Zwar ist es ihm gelungen, so manchen Satz einfacher und deutlicher auszudrücken; dafür geht er aber häufig aus Mangel an technischer Vorbildung noch tiefer in die ab¬ strakte Formel ein, und was das Schlimmste ist, er sucht seiner Darstellung durch poetisirende Prosa einen größern Reiz zu geben. Man möge aus der folgenden Stilprobe beurtheilen, ob daraus für den Leser eine wirkliche Einsicht in die Sache hervorgehn soll. (Seite 2Lo) „Das Wesen der Architektur und Musik ist also, um es schließlich kurz zusammenzufassen, kein anderes, als das allgemeine Wesen der Kunst überhaupt, das sich als solches auch noch einen besondern Kunstausdruck geben will. In der unendlich beredten, gradezu unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der architektonischen und musikalischen Formen ist im Grunde nichts Anderes zum Ausdruck, gekommen, als das einfache „Ich bin" pas Kunstgeistes, daS sich aber dieser in seinem idealen Sinn schwelgend nicht vielfach genug wiederholen kann, sobald er seiner selbst in dem Tvtalgefühl eines Volkes oder in dem individuellen Gefühl des Einzelnen gewahr geworden. Beide Künste sind in ihrem gegenstandslosen Schaffen nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/391>, abgerufen am 23.07.2024.