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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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derjenige, dessen culturliche Entwicklung und Allgemeinbildung am weitesten vor¬
geschritten erscheint. Mainz mit seinem altgefesteten Bürgerthum und seinen
verstädtelten Landbewohnern, ehemals kurfürstliche Residenz, kann es noch
heute nicht verwinden, nunmehr blos den Rang einer Provinzialstadt einneh¬
men und sein eigen ausgebildetes Leben dem büreaukratischen Calcul von
Darmstadt unterordnen zu sollen. Vor 1848 machte es politische Opposition,
und da die Zeit dazu vorüber, gruppirt es sich heute um die hierarchische seines
Bischofs, wenn auch seinem rheinisch-heitern Sinne die konfessionellen und
kirchlich-staatlichen Fragen ganz abseits gelegen bleiben. Aber noch mehr.
Das Handels- und Verkehrsleben von Mainz, die Erwerbszweige seiner Land¬
schaft gingen im letzten Jahrzehnt einigermaßen zurück. Das politische Mi߬
behagen, der Verlust mancher scheinbaren oder wirklichen Vorrechte, vollends
die Wirkungen der Bundesfestung wurden nicht durch materielle Vortheile auf¬
gewogen. So erwuchs hier ein reger Auswanderungsdrang vielleicht stärker,
als die Nothwendigkeit gebot. So weit sich die Dinge äußerlich beurtheilen
lassen, gilt von diesem Theile des Rheinlandes sogar vielleicht am meisten, daß
die Auswanderungssucht einer gewissen Schlaffheit im Leben, dem rechten
Mangel an Energie entstammt.

Dagegen traf in Oberhessen das moderne Nivellirungssvstem darmstäd¬
tischer Politik auf einen abgeschlossenen Volksstamm, auf uralt gestaltete
bäuerliche Organisationen, in welche häufig mehr aus Unkenntnis) als mit
Willen sehr verletzend eingegriffen wurde.. Als Stamm fühlten und fühlen sich
die Oberhessen eigentlich weit mehr nach Kurhessen, als nach Darmstadt gezo¬
gen. Während sie bitter klagen, daß, außer der Universität Gießen, ihrer
Provinz kein Vortheil zugewiesen, daß ihren besonderen Wünschen keine- Rech¬
nung getragen werde, sandten sie dennoch selbst während der Bewegungsjahre con-
servative Vertreter nach Darmstadt. Aber die gehoffte specielle Anerkennung blieb
trotzdem aus, den speciellen Interessen ward keine besondere Beachtung geschenkt,
zugleich der selbsteignen Entwicklung kein freier Spielraum gelassen. Geogra¬
phisch abgeschieden vom übrigen Großherzogthume fühlte und fühlt man sich
gewissermaßen zurückgesetzt, gebunden, ohne verbunden zu sein. Dazu wuchs
im größten Theile der Provinz, doch namentlich auf dem entwaldeten Vogels¬
berge die materielle Noth von Jahr zu Jahr, während die Abgelegenheit der
Gegend selbst nicht einen wirklichen Vortheil von der Eisenbahn am westlichen
Landessaume zu ziehen erlaubte. Da aber die Zustände im stammverwandten
Kurhessen ebenfalls sich immer trauriger gestalteten, so war es auch ziemlich
natürlich, daß dieser Theil Hessen-Darmstadts allmälig in ganz Süddeutschland
relativ die größten Kontingente zur Auswanderung stellte.

Damit ist freilich blos ein Theil der Gründe berührt. Ein anderer liegt


derjenige, dessen culturliche Entwicklung und Allgemeinbildung am weitesten vor¬
geschritten erscheint. Mainz mit seinem altgefesteten Bürgerthum und seinen
verstädtelten Landbewohnern, ehemals kurfürstliche Residenz, kann es noch
heute nicht verwinden, nunmehr blos den Rang einer Provinzialstadt einneh¬
men und sein eigen ausgebildetes Leben dem büreaukratischen Calcul von
Darmstadt unterordnen zu sollen. Vor 1848 machte es politische Opposition,
und da die Zeit dazu vorüber, gruppirt es sich heute um die hierarchische seines
Bischofs, wenn auch seinem rheinisch-heitern Sinne die konfessionellen und
kirchlich-staatlichen Fragen ganz abseits gelegen bleiben. Aber noch mehr.
Das Handels- und Verkehrsleben von Mainz, die Erwerbszweige seiner Land¬
schaft gingen im letzten Jahrzehnt einigermaßen zurück. Das politische Mi߬
behagen, der Verlust mancher scheinbaren oder wirklichen Vorrechte, vollends
die Wirkungen der Bundesfestung wurden nicht durch materielle Vortheile auf¬
gewogen. So erwuchs hier ein reger Auswanderungsdrang vielleicht stärker,
als die Nothwendigkeit gebot. So weit sich die Dinge äußerlich beurtheilen
lassen, gilt von diesem Theile des Rheinlandes sogar vielleicht am meisten, daß
die Auswanderungssucht einer gewissen Schlaffheit im Leben, dem rechten
Mangel an Energie entstammt.

Dagegen traf in Oberhessen das moderne Nivellirungssvstem darmstäd¬
tischer Politik auf einen abgeschlossenen Volksstamm, auf uralt gestaltete
bäuerliche Organisationen, in welche häufig mehr aus Unkenntnis) als mit
Willen sehr verletzend eingegriffen wurde.. Als Stamm fühlten und fühlen sich
die Oberhessen eigentlich weit mehr nach Kurhessen, als nach Darmstadt gezo¬
gen. Während sie bitter klagen, daß, außer der Universität Gießen, ihrer
Provinz kein Vortheil zugewiesen, daß ihren besonderen Wünschen keine- Rech¬
nung getragen werde, sandten sie dennoch selbst während der Bewegungsjahre con-
servative Vertreter nach Darmstadt. Aber die gehoffte specielle Anerkennung blieb
trotzdem aus, den speciellen Interessen ward keine besondere Beachtung geschenkt,
zugleich der selbsteignen Entwicklung kein freier Spielraum gelassen. Geogra¬
phisch abgeschieden vom übrigen Großherzogthume fühlte und fühlt man sich
gewissermaßen zurückgesetzt, gebunden, ohne verbunden zu sein. Dazu wuchs
im größten Theile der Provinz, doch namentlich auf dem entwaldeten Vogels¬
berge die materielle Noth von Jahr zu Jahr, während die Abgelegenheit der
Gegend selbst nicht einen wirklichen Vortheil von der Eisenbahn am westlichen
Landessaume zu ziehen erlaubte. Da aber die Zustände im stammverwandten
Kurhessen ebenfalls sich immer trauriger gestalteten, so war es auch ziemlich
natürlich, daß dieser Theil Hessen-Darmstadts allmälig in ganz Süddeutschland
relativ die größten Kontingente zur Auswanderung stellte.

Damit ist freilich blos ein Theil der Gründe berührt. Ein anderer liegt


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[0036] derjenige, dessen culturliche Entwicklung und Allgemeinbildung am weitesten vor¬ geschritten erscheint. Mainz mit seinem altgefesteten Bürgerthum und seinen verstädtelten Landbewohnern, ehemals kurfürstliche Residenz, kann es noch heute nicht verwinden, nunmehr blos den Rang einer Provinzialstadt einneh¬ men und sein eigen ausgebildetes Leben dem büreaukratischen Calcul von Darmstadt unterordnen zu sollen. Vor 1848 machte es politische Opposition, und da die Zeit dazu vorüber, gruppirt es sich heute um die hierarchische seines Bischofs, wenn auch seinem rheinisch-heitern Sinne die konfessionellen und kirchlich-staatlichen Fragen ganz abseits gelegen bleiben. Aber noch mehr. Das Handels- und Verkehrsleben von Mainz, die Erwerbszweige seiner Land¬ schaft gingen im letzten Jahrzehnt einigermaßen zurück. Das politische Mi߬ behagen, der Verlust mancher scheinbaren oder wirklichen Vorrechte, vollends die Wirkungen der Bundesfestung wurden nicht durch materielle Vortheile auf¬ gewogen. So erwuchs hier ein reger Auswanderungsdrang vielleicht stärker, als die Nothwendigkeit gebot. So weit sich die Dinge äußerlich beurtheilen lassen, gilt von diesem Theile des Rheinlandes sogar vielleicht am meisten, daß die Auswanderungssucht einer gewissen Schlaffheit im Leben, dem rechten Mangel an Energie entstammt. Dagegen traf in Oberhessen das moderne Nivellirungssvstem darmstäd¬ tischer Politik auf einen abgeschlossenen Volksstamm, auf uralt gestaltete bäuerliche Organisationen, in welche häufig mehr aus Unkenntnis) als mit Willen sehr verletzend eingegriffen wurde.. Als Stamm fühlten und fühlen sich die Oberhessen eigentlich weit mehr nach Kurhessen, als nach Darmstadt gezo¬ gen. Während sie bitter klagen, daß, außer der Universität Gießen, ihrer Provinz kein Vortheil zugewiesen, daß ihren besonderen Wünschen keine- Rech¬ nung getragen werde, sandten sie dennoch selbst während der Bewegungsjahre con- servative Vertreter nach Darmstadt. Aber die gehoffte specielle Anerkennung blieb trotzdem aus, den speciellen Interessen ward keine besondere Beachtung geschenkt, zugleich der selbsteignen Entwicklung kein freier Spielraum gelassen. Geogra¬ phisch abgeschieden vom übrigen Großherzogthume fühlte und fühlt man sich gewissermaßen zurückgesetzt, gebunden, ohne verbunden zu sein. Dazu wuchs im größten Theile der Provinz, doch namentlich auf dem entwaldeten Vogels¬ berge die materielle Noth von Jahr zu Jahr, während die Abgelegenheit der Gegend selbst nicht einen wirklichen Vortheil von der Eisenbahn am westlichen Landessaume zu ziehen erlaubte. Da aber die Zustände im stammverwandten Kurhessen ebenfalls sich immer trauriger gestalteten, so war es auch ziemlich natürlich, daß dieser Theil Hessen-Darmstadts allmälig in ganz Süddeutschland relativ die größten Kontingente zur Auswanderung stellte. Damit ist freilich blos ein Theil der Gründe berührt. Ein anderer liegt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/36>, abgerufen am 23.07.2024.