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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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in die abgelegenem, ärmern und verkommeneren Thäler. Diese Wechsel¬
wirkung ist so auffallend, daß man jetzt bereits mit Bestimmtheit behaupten
kann, daß die Auswanderung in Schwaben und Baden mit den Communications-
mitteln in umgekehrtem Verhältnisse steht -- sobald die Bevölkerung an den
großen Verkehrsstraßen sich an das damit gebotene moderne Erwerbswesen
einmal gewöhnt hat. Und dies thut sie, so wie ihr reichliche, bequeme, rasche
Communicationsmittel zu Hilfe kommen. Einigermaßen mag allerdings auch
das geringe Glück, welches in den letzten Jahren die Auswanderer, namentlich
in Amerika, machten, zur Abkühlung der Auswanderungslust beigetragen haben.
Denn allerdings behandelten viele das Auswandern wie ein Glücksspiel und
glaubten um so leichter mit allem Unbehagen im Vaterlande abbrechen zu
können, als sie meistens jenseit des Weltmeeres fast ebensoviel Verwandte
und Bekannte treffen zu können hofften, wie sie hier verließen. Man ließ
das heimische Unglück wachsen, strengte gar nicht alle Sehnen an, um ihm
vorzubeugen, spielte leichthin mit der Gegenwart, wagte kecker die Zukunft, als
heute, wo nach der harten Schule der Bewegungsjahre männlicher Ernst und
verständige Ueberlegung allerwärts an Kraft zugenommen haben. Zugleich
wirkte hier und da ein Etwas aus die Verminderung der Auswanderung, was,
so untergeordnet es auf den ersten Blick erscheinen mag, doch keineswegs ohne
Bedeutung geblieben ist. Wir meinen die Gewohnheit der Gemeinden, ihre
Armen und Taugenichtse aus Communalkosten nach dem Westen zu spediren.
Hatte vorher im Unternehmen der Auswanderung für manche, besonders für
junge Leute, ein gewisser Reiz gelegen, weil der Entschluß von Nachbarn und
Bekannten wol wie eine Großthat behandelt wurde, so erhielt jetzt die Aus¬
wanderung, wenn nicht sehr bestimmte Gründe dafür sprachen, etwas An¬
rüchiges. Das konnte nun allerdings für einzelne ein Unfall, gegen viele
eine Ungerechtigkeit der öffentlichen Meinung sein; im Ganzen und Großen
hat es aber jedenfalls sehr günstige Folgen gehabt. Zugleich lag für den
Beobachter im Erstehen solcher Bedenken einer der vielen Gegenbeweise gegen
jene, welche "das Volk" so gern aller sittlichen Strenge baar und sür feinere
Rücksichten unempfindlich schildern möchten.

Uebrigens ward und wird die Auswanderung aus Süddeutschland in den
einzelnen Staaten im Großen und Ganzen von sehr verschiedenartigen Gründen
bedingt. In Würtemberg wirkt namentlich eine entsetzlich schwere Besteuerung,
wie sie auf jeder ländlichen Produktion liegt und nach den Revolutionsjahren
noch außerordentlich gesteigert worden ist. Hier ist jedenfalls ein starkes Mi߬
verhältniß zwischen der Belastung des Grundbesitzes und des Capitals zu he¬
ben. Wenn nicht, nachdem es gelungen zu sein scheint, die Entschädigung der
Standesherrn durchzusetzen (denn es ist kaum ein Zweifel, daß der nunmehrige


in die abgelegenem, ärmern und verkommeneren Thäler. Diese Wechsel¬
wirkung ist so auffallend, daß man jetzt bereits mit Bestimmtheit behaupten
kann, daß die Auswanderung in Schwaben und Baden mit den Communications-
mitteln in umgekehrtem Verhältnisse steht — sobald die Bevölkerung an den
großen Verkehrsstraßen sich an das damit gebotene moderne Erwerbswesen
einmal gewöhnt hat. Und dies thut sie, so wie ihr reichliche, bequeme, rasche
Communicationsmittel zu Hilfe kommen. Einigermaßen mag allerdings auch
das geringe Glück, welches in den letzten Jahren die Auswanderer, namentlich
in Amerika, machten, zur Abkühlung der Auswanderungslust beigetragen haben.
Denn allerdings behandelten viele das Auswandern wie ein Glücksspiel und
glaubten um so leichter mit allem Unbehagen im Vaterlande abbrechen zu
können, als sie meistens jenseit des Weltmeeres fast ebensoviel Verwandte
und Bekannte treffen zu können hofften, wie sie hier verließen. Man ließ
das heimische Unglück wachsen, strengte gar nicht alle Sehnen an, um ihm
vorzubeugen, spielte leichthin mit der Gegenwart, wagte kecker die Zukunft, als
heute, wo nach der harten Schule der Bewegungsjahre männlicher Ernst und
verständige Ueberlegung allerwärts an Kraft zugenommen haben. Zugleich
wirkte hier und da ein Etwas aus die Verminderung der Auswanderung, was,
so untergeordnet es auf den ersten Blick erscheinen mag, doch keineswegs ohne
Bedeutung geblieben ist. Wir meinen die Gewohnheit der Gemeinden, ihre
Armen und Taugenichtse aus Communalkosten nach dem Westen zu spediren.
Hatte vorher im Unternehmen der Auswanderung für manche, besonders für
junge Leute, ein gewisser Reiz gelegen, weil der Entschluß von Nachbarn und
Bekannten wol wie eine Großthat behandelt wurde, so erhielt jetzt die Aus¬
wanderung, wenn nicht sehr bestimmte Gründe dafür sprachen, etwas An¬
rüchiges. Das konnte nun allerdings für einzelne ein Unfall, gegen viele
eine Ungerechtigkeit der öffentlichen Meinung sein; im Ganzen und Großen
hat es aber jedenfalls sehr günstige Folgen gehabt. Zugleich lag für den
Beobachter im Erstehen solcher Bedenken einer der vielen Gegenbeweise gegen
jene, welche „das Volk" so gern aller sittlichen Strenge baar und sür feinere
Rücksichten unempfindlich schildern möchten.

Uebrigens ward und wird die Auswanderung aus Süddeutschland in den
einzelnen Staaten im Großen und Ganzen von sehr verschiedenartigen Gründen
bedingt. In Würtemberg wirkt namentlich eine entsetzlich schwere Besteuerung,
wie sie auf jeder ländlichen Produktion liegt und nach den Revolutionsjahren
noch außerordentlich gesteigert worden ist. Hier ist jedenfalls ein starkes Mi߬
verhältniß zwischen der Belastung des Grundbesitzes und des Capitals zu he¬
ben. Wenn nicht, nachdem es gelungen zu sein scheint, die Entschädigung der
Standesherrn durchzusetzen (denn es ist kaum ein Zweifel, daß der nunmehrige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/34>, abgerufen am 23.07.2024.