Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Unglücklichen. Ausreißen der Backenbärte, Versengen der Schnurrbärte mit¬
telst Cigarren gehörten zu den ungefährlichsten Belustigungen der Sieger.
Weniger gut hatten es diejenigen, welche in die Gräben des Castel nuovo
hinabgebracht wurden, da hier die vollkommenste Willkür herrschte und die
Soldaten nach den Gefangenen wie nach der Scheibe schössen. Der Tänzer
Taglioni kam aus fast wunderbare Weise mit dem Leben davon, nachdem seine
harmlose Person durch das Schicksal zum förmlichen Kugelfang ausersehen
schien. Zu einer Tänzerin geflüchtet, welche dem Se. Carlotheater gegenuber-
wohnte, erhielt er die erste Verletzung, während er eben ihre Balconthüre zu
schließen bemüht war. Als dann das Haus erstürmt wurde, setzten die Sol¬
daten an dem armen Choregraphen ihre weitern Instrumente in Thätigkeit,
und endlich fusilirte man ihn mit einem Haufen Gefangener im Graben des
Castel nuovo. Er hätte indessen nur einen Schuß in die Schulter bekommen
und konnte, als ein Soldat sich über seine Fingerringe hermachte, die versuchte
Rolle eines todten Mannes nicht täuschend genug durchführen. Der Soldat
holte aus, um ihm den Gnadenstoß zu geben; ein Corpoml aber, der ihn in
diesem Augenblick als den bekannten Tänzer des Se. Carlo recognoscirte,
sprang hinzu und brachte den Geängstigten in Sicherheit.

Nachdem diese Schreckenszeit durch die jetzt beginnenden Verhöre und
Verurteilungen einigermaßen in den Hintergrund gedrängt war und über
Neapel die politische Atmosphäre sich immer mehr verdichtete, zeigte sich in den
Provinzen die Thätigkeit der geflüchteten Deputirten. Cosenza bildete ihren
Sammelpunkt. Ihr Sicherheitsausschuß, worin Ricciarbi und Musolino die
Kricgsangelegenheiten verwalteten, Mauro das Innere u. s. w. erließ Ver¬
ordnungen und organisirte eine förmliche Gegenregierung. Während dessen
beschoß der Brigadier Pronio, so oft er gut gefrühstückt hatte, von dem be¬
festigten Theile Messinas aus die Stadt Messina, und in Neapel vervollständigte
man mit Nachdruck die Bewaffnung und Verproviantirung der Castelle.

Für die Kammer waren Neuwahlen ausgeschrieben worden; da aber die
alte sich noch nicht eigentlich constituirt gehabt hatte, so weigerten sich viele
Wähler, die rechtliche Möglichkeit einer Auflösung einzuräumen. Andere
wählten die frühern Mitglieder von neuem. Am S7. Juni vermehrte der
König die Zahl der Pairs um weitere 29, worunter vier Bischöfe und zehn
Generale; im Ganzen gab es jetzt 79 Pairs. Es dankten bei passendem An¬
laß immer einzelne ab und wurden sofort durch neue ersetzt. Am 1. Juli er¬
öffnete der Duca ti Serra Capriola die Kammer. Er las in der Stelle des
abwesenden Königs die Thronrede, erwähnte der "unvermeidlichen" Unordnung
in den Finanzen und des Glücks, daß des Königs Negierung keine Feinde
außerhalb der Landesmarken habe, eine speciell bourbonische Auffassung
landesväterlichen Wohlbehagens. Acht Tage darauf waren 83 Deputirte


Unglücklichen. Ausreißen der Backenbärte, Versengen der Schnurrbärte mit¬
telst Cigarren gehörten zu den ungefährlichsten Belustigungen der Sieger.
Weniger gut hatten es diejenigen, welche in die Gräben des Castel nuovo
hinabgebracht wurden, da hier die vollkommenste Willkür herrschte und die
Soldaten nach den Gefangenen wie nach der Scheibe schössen. Der Tänzer
Taglioni kam aus fast wunderbare Weise mit dem Leben davon, nachdem seine
harmlose Person durch das Schicksal zum förmlichen Kugelfang ausersehen
schien. Zu einer Tänzerin geflüchtet, welche dem Se. Carlotheater gegenuber-
wohnte, erhielt er die erste Verletzung, während er eben ihre Balconthüre zu
schließen bemüht war. Als dann das Haus erstürmt wurde, setzten die Sol¬
daten an dem armen Choregraphen ihre weitern Instrumente in Thätigkeit,
und endlich fusilirte man ihn mit einem Haufen Gefangener im Graben des
Castel nuovo. Er hätte indessen nur einen Schuß in die Schulter bekommen
und konnte, als ein Soldat sich über seine Fingerringe hermachte, die versuchte
Rolle eines todten Mannes nicht täuschend genug durchführen. Der Soldat
holte aus, um ihm den Gnadenstoß zu geben; ein Corpoml aber, der ihn in
diesem Augenblick als den bekannten Tänzer des Se. Carlo recognoscirte,
sprang hinzu und brachte den Geängstigten in Sicherheit.

Nachdem diese Schreckenszeit durch die jetzt beginnenden Verhöre und
Verurteilungen einigermaßen in den Hintergrund gedrängt war und über
Neapel die politische Atmosphäre sich immer mehr verdichtete, zeigte sich in den
Provinzen die Thätigkeit der geflüchteten Deputirten. Cosenza bildete ihren
Sammelpunkt. Ihr Sicherheitsausschuß, worin Ricciarbi und Musolino die
Kricgsangelegenheiten verwalteten, Mauro das Innere u. s. w. erließ Ver¬
ordnungen und organisirte eine förmliche Gegenregierung. Während dessen
beschoß der Brigadier Pronio, so oft er gut gefrühstückt hatte, von dem be¬
festigten Theile Messinas aus die Stadt Messina, und in Neapel vervollständigte
man mit Nachdruck die Bewaffnung und Verproviantirung der Castelle.

Für die Kammer waren Neuwahlen ausgeschrieben worden; da aber die
alte sich noch nicht eigentlich constituirt gehabt hatte, so weigerten sich viele
Wähler, die rechtliche Möglichkeit einer Auflösung einzuräumen. Andere
wählten die frühern Mitglieder von neuem. Am S7. Juni vermehrte der
König die Zahl der Pairs um weitere 29, worunter vier Bischöfe und zehn
Generale; im Ganzen gab es jetzt 79 Pairs. Es dankten bei passendem An¬
laß immer einzelne ab und wurden sofort durch neue ersetzt. Am 1. Juli er¬
öffnete der Duca ti Serra Capriola die Kammer. Er las in der Stelle des
abwesenden Königs die Thronrede, erwähnte der „unvermeidlichen" Unordnung
in den Finanzen und des Glücks, daß des Königs Negierung keine Feinde
außerhalb der Landesmarken habe, eine speciell bourbonische Auffassung
landesväterlichen Wohlbehagens. Acht Tage darauf waren 83 Deputirte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0301" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/102896"/>
            <p xml:id="ID_1022" prev="#ID_1021"> Unglücklichen. Ausreißen der Backenbärte, Versengen der Schnurrbärte mit¬<lb/>
telst Cigarren gehörten zu den ungefährlichsten Belustigungen der Sieger.<lb/>
Weniger gut hatten es diejenigen, welche in die Gräben des Castel nuovo<lb/>
hinabgebracht wurden, da hier die vollkommenste Willkür herrschte und die<lb/>
Soldaten nach den Gefangenen wie nach der Scheibe schössen. Der Tänzer<lb/>
Taglioni kam aus fast wunderbare Weise mit dem Leben davon, nachdem seine<lb/>
harmlose Person durch das Schicksal zum förmlichen Kugelfang ausersehen<lb/>
schien. Zu einer Tänzerin geflüchtet, welche dem Se. Carlotheater gegenuber-<lb/>
wohnte, erhielt er die erste Verletzung, während er eben ihre Balconthüre zu<lb/>
schließen bemüht war. Als dann das Haus erstürmt wurde, setzten die Sol¬<lb/>
daten an dem armen Choregraphen ihre weitern Instrumente in Thätigkeit,<lb/>
und endlich fusilirte man ihn mit einem Haufen Gefangener im Graben des<lb/>
Castel nuovo. Er hätte indessen nur einen Schuß in die Schulter bekommen<lb/>
und konnte, als ein Soldat sich über seine Fingerringe hermachte, die versuchte<lb/>
Rolle eines todten Mannes nicht täuschend genug durchführen. Der Soldat<lb/>
holte aus, um ihm den Gnadenstoß zu geben; ein Corpoml aber, der ihn in<lb/>
diesem Augenblick als den bekannten Tänzer des Se. Carlo recognoscirte,<lb/>
sprang hinzu und brachte den Geängstigten in Sicherheit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1023"> Nachdem diese Schreckenszeit durch die jetzt beginnenden Verhöre und<lb/>
Verurteilungen einigermaßen in den Hintergrund gedrängt war und über<lb/>
Neapel die politische Atmosphäre sich immer mehr verdichtete, zeigte sich in den<lb/>
Provinzen die Thätigkeit der geflüchteten Deputirten. Cosenza bildete ihren<lb/>
Sammelpunkt. Ihr Sicherheitsausschuß, worin Ricciarbi und Musolino die<lb/>
Kricgsangelegenheiten verwalteten, Mauro das Innere u. s. w. erließ Ver¬<lb/>
ordnungen und organisirte eine förmliche Gegenregierung. Während dessen<lb/>
beschoß der Brigadier Pronio, so oft er gut gefrühstückt hatte, von dem be¬<lb/>
festigten Theile Messinas aus die Stadt Messina, und in Neapel vervollständigte<lb/>
man mit Nachdruck die Bewaffnung und Verproviantirung der Castelle.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1024" next="#ID_1025"> Für die Kammer waren Neuwahlen ausgeschrieben worden; da aber die<lb/>
alte sich noch nicht eigentlich constituirt gehabt hatte, so weigerten sich viele<lb/>
Wähler, die rechtliche Möglichkeit einer Auflösung einzuräumen. Andere<lb/>
wählten die frühern Mitglieder von neuem. Am S7. Juni vermehrte der<lb/>
König die Zahl der Pairs um weitere 29, worunter vier Bischöfe und zehn<lb/>
Generale; im Ganzen gab es jetzt 79 Pairs. Es dankten bei passendem An¬<lb/>
laß immer einzelne ab und wurden sofort durch neue ersetzt. Am 1. Juli er¬<lb/>
öffnete der Duca ti Serra Capriola die Kammer. Er las in der Stelle des<lb/>
abwesenden Königs die Thronrede, erwähnte der &#x201E;unvermeidlichen" Unordnung<lb/>
in den Finanzen und des Glücks, daß des Königs Negierung keine Feinde<lb/>
außerhalb der Landesmarken habe, eine speciell bourbonische Auffassung<lb/>
landesväterlichen Wohlbehagens.  Acht Tage darauf waren 83 Deputirte</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0301] Unglücklichen. Ausreißen der Backenbärte, Versengen der Schnurrbärte mit¬ telst Cigarren gehörten zu den ungefährlichsten Belustigungen der Sieger. Weniger gut hatten es diejenigen, welche in die Gräben des Castel nuovo hinabgebracht wurden, da hier die vollkommenste Willkür herrschte und die Soldaten nach den Gefangenen wie nach der Scheibe schössen. Der Tänzer Taglioni kam aus fast wunderbare Weise mit dem Leben davon, nachdem seine harmlose Person durch das Schicksal zum förmlichen Kugelfang ausersehen schien. Zu einer Tänzerin geflüchtet, welche dem Se. Carlotheater gegenuber- wohnte, erhielt er die erste Verletzung, während er eben ihre Balconthüre zu schließen bemüht war. Als dann das Haus erstürmt wurde, setzten die Sol¬ daten an dem armen Choregraphen ihre weitern Instrumente in Thätigkeit, und endlich fusilirte man ihn mit einem Haufen Gefangener im Graben des Castel nuovo. Er hätte indessen nur einen Schuß in die Schulter bekommen und konnte, als ein Soldat sich über seine Fingerringe hermachte, die versuchte Rolle eines todten Mannes nicht täuschend genug durchführen. Der Soldat holte aus, um ihm den Gnadenstoß zu geben; ein Corpoml aber, der ihn in diesem Augenblick als den bekannten Tänzer des Se. Carlo recognoscirte, sprang hinzu und brachte den Geängstigten in Sicherheit. Nachdem diese Schreckenszeit durch die jetzt beginnenden Verhöre und Verurteilungen einigermaßen in den Hintergrund gedrängt war und über Neapel die politische Atmosphäre sich immer mehr verdichtete, zeigte sich in den Provinzen die Thätigkeit der geflüchteten Deputirten. Cosenza bildete ihren Sammelpunkt. Ihr Sicherheitsausschuß, worin Ricciarbi und Musolino die Kricgsangelegenheiten verwalteten, Mauro das Innere u. s. w. erließ Ver¬ ordnungen und organisirte eine förmliche Gegenregierung. Während dessen beschoß der Brigadier Pronio, so oft er gut gefrühstückt hatte, von dem be¬ festigten Theile Messinas aus die Stadt Messina, und in Neapel vervollständigte man mit Nachdruck die Bewaffnung und Verproviantirung der Castelle. Für die Kammer waren Neuwahlen ausgeschrieben worden; da aber die alte sich noch nicht eigentlich constituirt gehabt hatte, so weigerten sich viele Wähler, die rechtliche Möglichkeit einer Auflösung einzuräumen. Andere wählten die frühern Mitglieder von neuem. Am S7. Juni vermehrte der König die Zahl der Pairs um weitere 29, worunter vier Bischöfe und zehn Generale; im Ganzen gab es jetzt 79 Pairs. Es dankten bei passendem An¬ laß immer einzelne ab und wurden sofort durch neue ersetzt. Am 1. Juli er¬ öffnete der Duca ti Serra Capriola die Kammer. Er las in der Stelle des abwesenden Königs die Thronrede, erwähnte der „unvermeidlichen" Unordnung in den Finanzen und des Glücks, daß des Königs Negierung keine Feinde außerhalb der Landesmarken habe, eine speciell bourbonische Auffassung landesväterlichen Wohlbehagens. Acht Tage darauf waren 83 Deputirte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/301
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/301>, abgerufen am 23.07.2024.