Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.die Wissenschaft dem Geist der Erfindung Unterthan machen, diesen Geist vom 32*
die Wissenschaft dem Geist der Erfindung Unterthan machen, diesen Geist vom 32*
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die Wissenschaft dem Geist der Erfindung Unterthan machen, diesen Geist vom
Zufall befreien und die Menschen veranlassen, mit Bewußtsein und darum
häufiger zu thun, was ihnen vordem absichtslos, durch Zufall und darum selten
gelungen ist. Die Aufgabe seiner Philosophie ist keine andere, als die mensch¬
liche Wissenschaft dergestalt zu reformiren und zu erweitern, daß sie sich auf
die Erfindung als ihren Hauptzweck richtet, der Wissenschaft das Instrument
einzuhändigen, welches ebenso geschickt ist, Erfindungen zu machen, als das
Thermometer, die Wärme zu messen. Den alleinigen und höchsten Zweck der
Wissenschaft macht die Herrschaft des Menschen über die Dinge aus. Die
Wissenschaft soll dem Menschen dienen, sie soll ihn mächtig machen; nur sie
vermag das, denn unsere Macht über die Dinge gründet sich allein auf unsre
Einsicht in deren Natur. Die Wissenschaft ist nicht Selbstzweck, ihr Maß ist
das menschliche Leben, ihr Werth der menschliche Nutzen. Das nächste Mittel
zur Begründung der menschlichen Herrschaft ist die Cultur, welche die physischen
Kräfte in menschliche Mittel verwandelt. Die Cultur wird hervorgebracht
durch eine kunstgerechte Anwendung der Naturwissenschaft. Die wahre Er¬
kenntniß der Natur kann nur aus ihr selbst geschöpft werden. Darum ist die erste
negative Bedingung, ohne welche eine Erkenntniß der Natur überhaupt nicht mög¬
lich ist: daß nicht Idole an die Stelle der Dinge gesetzt werden, daß in keiner
Weise eine anlieipalio menti» stattfinde. Nichts soll anticipirt, sondern alles er-
fahren werden. Keine Griffe ohne vorhergegangene selbstgemachte Wahrnehmung;
keine Urtheile ohne vorhergegangene selbstgemachte Erfahrung. Der menschliche
Verstand muß von jetzt an das vollkommen reine und willige Organ der
Erfahrung werden; er muß sich zuerst aller Begriffe einschlagen, die er nicht
aus der Natur der Dinge, sondern aus seiner eignen geschöpft hat. Diesen
Idolen und Vorurtheilen gegenüber, sie mögen kommen, woher sie wollen,
beginnt die Wissenschaft mit dem Zweifel und der völligen Ungewißheit. Der
Zweifel bildet den Ausgangspunkt der Wissenschaft, nicht deren Ziel. Das
3>el ist die sichere und wohlbegründete Erkenntniß. — Unsere eigne Natur
spiegelt uns Trugbilder vor. Die menschliche Seele ist ein Spiegel der Dinge,
aber dieser Spiegel ist von Natur so geschliffen, daß er die Dinge, indem er
sie abbildet, zugleich verändert. Es ist falsch, den menschlichen Sinn für das
Maß der Dinge zu halten. Verstand und Sinne dürfen nicht gelassen wer¬
den, wie sie sind, man muß sie bearbeiten, berichtigen, unterstützen, damit
sie den Dingen gerecht werden. Das geschieht durch die Kunst. Was dem
bloßen Sinn und dem sich selbst überlassenen Verstand nicht möglich ist, das
gelingt beiden mit Hilfe des JnstrumcvlS. Erst in der erpcrüncntirenden Wahr¬
nehmung wird die Naturerscheinung rein, ohne fremde Zusätze dargestellt.
Eine der Hauplverfälschungen der Natur ist die Cinschiebung des dem Ver¬
stände angevornen Zweckbegriffs. Die wahre Naturerklärung muß alle Zwecke
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